Balázs Orbán, politischer Berater des ungarischen Ministerpräsidenten, spricht im Interview über die diplomatische Initiative Ungarns zur Beendigung des Ukrainekrieges. Eine Atommacht wie Russland könne nicht auf dem Schlachtfeld besiegt werden. Der Jurist und Politologe Balázs Orbán ist seit drei Jahren Politischer Direktor im Amt des ungarischen Premierministers Viktor Orbán, mit dem er nicht verwandt ist.

 

Herr Orbán, Ministerpräsident Viktor Orbán ist nach Ungarns Übernahme der EU-Präsidentschaftnach Kiew, Moskau und Peking gereist. Seine Reisen bezeichnete er als Friedensmission. Warum hater diese Reisen nicht mit den EU-Gremien in Brüssel abgesprochen?

Weil diese Friedensmission eine ungarische Initiative war. Eine Koordinierung mit den EU-Gremien war nicht erforderlich. Das Anliegen war, die Aussichten für den Frieden zu bewerten. Viktor Orbán sammelte Informationen und berichtete den europäischen Staats- und Regierungschefs darüber in einem Dokument, das nun auch veröffentlicht wird, zusammen mit einem Vorschlag für eine alternative Strategie. Der EU fehlt derzeit ein tragfähiger Ansatz, der über leere politische Rhetorik und Sanktionen hinausgeht, die die Wettbewerbsfähigkeit Europas untergraben. Da die Mehrheit der Stimmen in der EU für den Krieg war, war Widerstand gegen diese Bemühungen zu erwarten. Viktor Orbán gehört zu den wenigen verbliebenen Politikern, die nach wie vor mit beiden Seiten kommunizierten. Ohne Bemühungen, die Situation aus allen Blickwinkeln zu verstehen, kann nicht der Frieden wiederhergestellt werden.

Nicht nur aus Brüssel, sondern auch aus Berlin und weiteren Hauptstädten wurde Orbánvorgeworfen, dass seine Initiativen die EU schwächen. Wäre es nicht besser, wenn die EU-Staatengeschlossen aufträten angesichts des Krieges im Osten Europas?

Wenn jemand behauptet, dass Russland auf dem Schlachtfeld auf konventionelle Weise besiegt werden kann, irrt er sich. Eine Atommacht kann nicht auf diese Weise besiegt werden. Die Strategie, die der Westen seit Beginn des Krieges verfolgt, hat keine besseren Bedingungen für Friedensverhandlungen geschaffen. Im Gegenteil, sie hat die Situation verschlimmert und die Opferzahlen erhöht. Es ist an der Zeit, einen anderen Ansatz zu finden, und die ungarische  Ratspräsidentschaft möchte dabei eine aktive Rolle übernehmen.  Die EU sollte geschlossen hinter der Idee stehen, dass es unser gemeinsames Interesse ist, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, anstatt den Konflikt zu verlängern. Indem wir den Dialog und das Verständnis fördern, können wir auf eine Lösung hinarbeiten, von der alle profitieren.

Viktor Orbán hält als einziger Regierungschef eines EU-Staates persönlichen Kontakt zu KremlchefWladimir Putin. Es liegt durchaus in der Natur der Sache, dass er ihn deshalb nicht laut persönlichangreift. Wie will Orbán die anderen Regierungschefs in der EU überzeugen, dass es durchaussinnvoll sein könnte, diesen Kontakt aufrechtzuerhalten?

Nicht Ungarn sollte die anderen EU-Staats- und Regierungschefs überzeugen, sondern die Realität selbst. Deshalb hat Ministerpräsident Orbán seinen Bericht geschickt, in dem er seine Erkenntnisse zusammenfasst. Die Wahrheit ist, dass die beiden Kriegsparteien entschlossen sind, ihre Kämpfe fortzusetzen, und dass ein ernsthaftes Risiko einer Eskalation besteht. Ohne andere Länder als Verhandlungspartner kann kein dauerhafter Frieden erreicht werden. Es gibt nur wenige globale Akteure, die in der Lage sind, die Entwicklungen zu beeinflussen, und die EU ist einer von ihnen. Wenn wir jetzt nicht handeln, werden Entscheidungen ohne unser Zutun getroffen, die auch die europäischen Bürger stark betreffen können.

Kürzlich hat Viktor Orbán auch Donald Trump getroffen. Für den Fall, dass dieser die kommendenPräsidentschaftswahlen in den USA gewinnt – welche Möglichkeiten sieht man in Budapest für dieBeendigung des Krieges?

Nach unserer Überzeugung hätte es diesen Krieg nie gegeben, wenn Präsident Trump im Amt gewesen wäre. Letzte Woche hat er bestätigt, dass die Fortsetzung des Krieges nicht den amerikanischen Interessen dient. Sollte er wiedergewählt werden, wird er alles tun, um ihn zu beenden. Das würde die EU mit ihrer Pro-Kriegs-Haltung isolieren. Ich bezweifle, dass die EU die finanzielle Last der Fortsetzung des Konflikts tragen kann. Kürzlich hat die Bundesregierung angekündigt, dass sie ihre Militärhilfe für die Ukraine halbieren wird. Wenn die USA ihre Finanzierung einstellen, müsste diese Unterstützung vervierfacht werden, anstatt sie zu halbieren. Wäre das etwas, womit die deutschen Bürger einverstanden wären? Ich bezweifle es.

Es gibt wohl keinen Spitzenpolitiker in den EU-Staaten, die nicht an Frieden für die Ukraine interessiert sind. Doch wie sähe denn nach Auffassung der Regierung in Budapest ein gerechter Frieden aus?

Viele reden über Frieden, aber nur wenige meinen es ernst. Leider gibt es in der EU eine dominante Pro-Kriegs-Haltung. Wir müssen bedenken, dass dieser Krieg wahrscheinlich nicht wie der Zweite Weltkrieg enden wird, mit einem klaren, von beiden Parteien anerkannten Ende und einem anschließenden Friedensvertrag. Stattdessen wird er einen langen und schwierigen Verhandlungsprozess erfordern.  Um diesen Prozess zu beginnen, müssen wir zu einem sofortigen Waffenstillstand aufrufen. Diejenigen, die Wege zum Frieden regelmäßig ablehnen, heizen den Krieg aktiv an. Auch wenn die Einzelheiten des Friedens von den Kriegsparteien beschlossen und vereinbart werden müssen, ist eines sicher: Der Weg zum Frieden führt nicht über das Schlachtfeld, sondern über den Verhandlungstisch.

Die russischen Streitkräfte sind in der Offensive, allerdings sind ihre Erfolge bislang nur gering. Mit wechem Argument will Orban Putin von der Notwendigkeit überzeugen, die Kampfhandlungen einzustellen?

Aus den Informationen, die der Ministerpräsident während der Friedensmission gesammelt hat, geht hervor, dass sowohl Russland als auch die Ukraine entschlossen sind, den Krieg fortzusetzen. Dies unterstreicht die entscheidende Rolle, die globale Akteure - darunter die EU, China, die Vereinigten Staaten und die Türkei – als Vermittler auf dem Weg zu Friedensgesprächen spielen müssen.

Putin besteht darauf, dass Kiew endgültig auf die vier ukrainischen Regionen verzichtet, die die Staatsduma in Moskau zu Territorium der Russsichen Föderation erklärt hat, ungeachtet der Tatsache, dass ein Teil dieser Gebiete noch unter ukrainischer Kontrolle steht. Außerdem haben bei allen Wahlen vor 2014 die Parteien, die für einen Anschluss an Russland plädiert haben, in diesen Regionen nie mehr als 15 Prozent der Stimmen bekommen haben. Wäre der Vorschlag, die Ukraine solle auf Gebiet zugunsten von Frieden verzichten, angesichts dieser Zahlen nicht eine krasse Verletzung des Wählerwillens?

Kein Zweifel: Es wird viel Zeit, Mühe und Engagement von allen Seiten erfordern, Frieden zu schaffen. Wir respektieren die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine, aber wir müssen auch die Realität berücksichtigen. In den letzten zwölf Monaten hat sich das von russischen und ukrainischen Streitkräften kontrollierte Gebiet um kaum mehr als tausend Quadratkilometer verändert. Eine Auswertung der Informationen über militärischen Verluste zeigt, dass bislang 136.000 ukrainische Soldaten getötet, verwundet oder vermisst wurden. Mit anderen Worten: 136.000 verlorene oder zerstörte Leben für ein Stück Land von der Größe Berlins sind ein wahres Beispiel für sinnlose Zerstörung. Der einzige Weg, dem ein Ende zu setzen, besteht darin, so schnell wie möglich Friedensverhandlungen aufzunehmen.

Welche Sicherheitsgarantien für Kiew sieht denn die Friedensmission von Viktor Orbán vor? In Kiew sieht man die Schuld für das Scheitern von Minsk I und II in Moskau – und in der Tat haben russsiche Verbände kurz nach Minsk I den Flughafen von Donezk angegriffen und kurz nach Minsk II die Hafenstadt Mariupol.

Die Frage, um die es hier geht, ist weitaus komplexer. Die NATO wurde 1949 als Verteidigungsbündnis gegründet, um ihre Mitgliedsstaaten vor der Bedrohung durch die Sowjetunion zu schützen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die NATO jedoch nicht grundlegend neu definiert und auch die Beziehungen zwischen der NATO und Russland wurden nicht eindeutig neu festgelegt. Um die Sicherheit auf dem europäischen Kontinent dauerhaft zu gewährleisten, ist eine langfristige Vereinbarung zwischen der NATO und Russland unerlässlich, sonst werden die Probleme unweigerlich wieder auftauchen.

Wie steht Budapest zu den Überlegungen, die Ukraine in die westlichen Bündnisse einzubinden, erst in die EU, dann die Nato ? Verwiesen wird auf das Beispiel der drei baltischen Republiken, deren Integration in die westlichen Strukturen nicht nur zu einem Wirtschaftsboom geführt, sondern auch die ganze Region stabilisiert hat.

Wir haben den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine nicht blockiert, aber wir glauben, dass ihre EU-Mitgliedschaft im Moment unrealistisch ist, da sie die notwendigen Bedingungen noch nicht erfüllt hat. Wir schlagen vor, diese Frage erneut zu erörtern, sobald diese Bedingungen erfüllt sind. Es ist wichtig, dass der Erweiterungsprozess nach einem leistungsorientierten Ansatz und unter Einhaltung der EU-Gesetze und -Vorschriften durchgeführt wird. Die Ukraine muss auf ihrem Weg zu einem potenziellen Beitritt alle Kriterien erfüllen, ähnlich den Anforderungen für die Länder des westlichen Balkans.

Ungarn ist seit 1999 Nato-Mitglied. Konnte Viktor Orbán Putin überzeugen, dass die Nato keine aggressiven Absichten gegenüber Russland hat?

In den letzten Jahren hat die NATO zunehmend eine konfrontative Haltung gegenüber Russland eingenommen. Die Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedsstaaten haben sich öffentlich dafür ausgesprochen, Russland zu besiegen, und die NATO beteiligt sich aktiv an der Ausbildung, Finanzierung und Ausrüstung der ukrainischen Streitkräfte in ihrem Konflikt mit Russland. Die Waffen der NATO dürfen mittlerweile auf russisches Territorium zielen, und es wurde eine NATO-Vertretung in Kiew eingerichtet, um die Politik mit der ukrainischen Regierung zu koordinieren, obwohl die NATO rechtlich nicht verpflichtet ist, die Ukraine zu verteidigen. Diese Entwicklungen spiegeln eine Verlagerung hin zu einer aggressiveren Haltung wider, die nach ungarischer Auffassung von der kriegsfreundlichen Politik der derzeitigen US-Regierung beeinflusst wird. Wir Ungarn glauben, dass Abschreckung wichtig ist und setzen uns dafür ein, dass die NATO ein starkes Verteidigungsbündnis wird. Wir sind zuversichtlich, dass Russland die NATO-Mitgliedstaaten nicht angreifen würde, aber es ist wichtig, dass die NATO nicht zu einem offensiven geopolitischen Bündnis wird. Ihre Aufgabe sollte sich auf den Frieden konzentrieren, nicht auf den Krieg. Aus diesem Grund wird sich Ungarn aus allen NATO-Aktivitäten in der Ukraine zurückziehen und keine finanzielle Unterstützung, militärische Ausrüstung oder Personal bereitstellen. Ungarn hat sowohl von Generalsekretär Stoltenberg als auch seinem Nachfolger Rutte schriftliche Zusicherungen bezüglich dieser Position erhalten.

Wie steht man in Budapest zu dem in Moskau erhobenen Vorwurf, in Kiew regiere ein „faschistischesRegime“?

Wir leben im Krieg, und beide Seiten betreiben Propaganda, indem sie extreme Anschuldigungen gegen den Feind erheben. Das ist ein weit verbreitetes Phänomen. Wir sollten uns darauf konzentrieren, einen Weg aus dieser Kriegsmentalität zu finden und eine rationale, pragmatische Kommunikation wiederherzustellen, um Friedensverhandlungen zu beginnen.

Von Moskau ist Viktor Orbán nach Peking geflogen. Nach landläufiger Meinung liegt es im Interesse Chinas, dass der russisch-ukrainische Krieg, an dem die westlichen Staaten indirekt beteiligt sind, möglichst lange dauert. Mit welchem Argument wollte Orbán die chinesichen Führung überzeugen, dass sie die russische Seite zum Ende ihrer Aggression bewegen solle?

China setzt sich für einen Frieden in der Ukraine ein und hat deshalb ein Dokument vorgelegt, das eine mögliche politische Lösung skizziert. Es muss jedoch auch beachtet werden, dass China in der aktuellen geopolitischen Lage Russland nicht im Stich lassen wird. Daher ist es wichtig, die Kommunikationskanäle zu Peking offen zu halten, da es eine wichtige Rolle bei der Lösung des Konflikts spielen kann.  Nach seiner Rückkehr von der Friedensmission in China schlug Premierminister Orbán dem Präsidenten des Europäischen Rates vor, ranghohe politische Gespräche zwischen der EU und China zu initiieren, um die nächste Friedenskonferenz zu planen. Wir hoffen, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs dafür offen sein werden.

Oder hat Viktor Orbán eine andere Sicht auf den Konflikt? In seiner Regierungserklärung im Jahr 2023 sagte er laut Medienberichten, dass nicht klar sei, wer im Krieg Opfer und wer Täter war. Oder ist diese Passage aus seiner Rede nicht korrekt wiedergegeben worden?

Wir sind uns bewusst, dass auch wir Ziel von Kriegspropaganda und Anschuldigungen sind. Ministerpräsident Orbán hat tausendmal erklärt, dass wir Russland als Aggressor und die Ukraine als Opfer ansehen. Das bedeutet aber nicht, dass wir die Beziehungen zu Russland komplett abbrechen sollten - im Gegenteil, offene Kommunikationskanäle sind der Schlüssel zur Lösung dieses Konflikts.

Welche Schritte wird Orbán unternehmen, um in einen konstruktiven Dialog mit Brüssel zu kommen? Denn eine EU-Präsidentschaft, die von anderen Mitgliedsstaaten boykottiert wird, liegt sicherlich nicht im Interesse Ungarns.

Den ungarischen Ratsvorsitz wegen politischer Differenzen zu boykottieren ist kindisch, und abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen, widerspricht den europäischen Werten. Ungarn setzt sich weiterhin für einen konstruktiven Dialog mit allen europäischen Partnern ein. Vor Beginn der Ratspräsidentschaft hat Ministerpräsident Orbán Kontakt mit den Staats- und Regierungschefs der wichtigsten EU-Mitgliedstaaten aufgenommen, er hat Rom, Paris und Berlin besucht, um das ungarische Ratspräsidentschaftsprogramm vorzustellen und um politische Unterstützung zu werben. Er kommunizierte auch mit den Staats- und Regierungschefs des Europäischen Rates durch schriftliche Mitteilungen. Die EU-Ratspräsidentschaft hat die Aufgabe, die EU-Agenda voranzubringen, einen Konsens zu fördern. Unser Ziel ist es, eine dynamische Präsidentschaft zu führen, indem wir Initiativen vorschlagen, die eine umfassende Diskussion anregen. Wir setzen uns für die Stärke, die Wettbewerbsfähigkeit und das Wohlergehen der Menschen in Europa ein, nach dem Motto „Make Europe Great Again“.