Unter den drei National-, beziehungsweise Staatsfeiertagen Ungarns war lediglich die mit dem Namen des Hl. Stephan verbundene Staatsgründung, begangen am 20. August, in ihrer Zeit erfolgreich. Die beiden anderen gedenken Reformbewegungen, die in ihrer Epoche jeweils zum Scheitern verurteilt waren.
Am 15. März 1848 begann in Pest die Revolution im Völkerfrühling bürgerlich-demokratischer und nationaler Erhebungen, am 23. Oktober 1956 brach der Aufstand gegen die sowjetische Fremdherrschaft aus. Nach der Niederschlagung des antihabsburgischen Freiheitskampfes 1849 verlor das Königreich Ungarn für anderthalb Jahrzehnte, bis zum österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 seine Unabhängigkeit. Nach der kommunistischen Gleichschaltung 1948 dauerte dieser Verlust vier Jahrzehnte an. Diese beiden Phasen unterbrochener politischer und nationaler Selbstbestimmung wurden von einer Idee überlagert, die in den letzten Wochen des Freiheitskampfes 1849 aufgekeimt war und im nachfolgenden Jahrhundert, in den Endphasen der beiden Weltkriege, rechtliche Gestalt annahm – allerdings jeweils nur vorübergehend. Deshalb musste sie 1956 erneut eingefordert werden: es war die Idee der unabhängigen und freiheitlichen Republik Ungarn.
In der ungarischen Revolution von 1956 hat sich der Antikommunismus auf besondere Weise manifestiert. Die Unzufriedenheit mit dem Kommunismus stalinistischer Prägung war in der Bevölkerung aller Ostblockstaaten mehr oder minder verbreitet. Die Gesamtwirkung mehrerer Faktoren hatte ihr in Ungarn aber eine nationale Eigenart verliehen.
1956 sticht mit dieser Originalität aus der historischen Reihe verwandter Strömungen hervor. Ungarn musste im sowjetischen Satellitensystem mit der politischen auch eine mentale Erniedrigung hinnehmen. Die Moskauhörigkeit beraubte seine Bevölkerung nicht nur der grundlegenden Menschenrechte, sondern rief ihr die Niederschlagung des antihabsburgischen Freiheitskampfes von 1849 durch Truppen des zaristischen Russland in Erinnerung. Außerdem ging sie mit der Doktrin der kulturellen Slawisierung einher, die das Trauma der Magyaren, zu den Verlierernationen des Zweiten Weltkrieges zu gehören, nur verstärkte. Trotzdem taten sich im Ungarn des ersten Nachkriegsjahrzehnts gewisse Spielräume für eine Entschärfung des Unrechtsregimes auf. Die Auswüchse der kommunistischen Diktatur beunruhigten zeitweise selbst die Moskauer Vormacht. In Budapest gab es – anders als in den übrigen Satellitenstaaten – Ansätze zu einem Kurswechsel, die allerdings durch Rückfälle in die Diktatur abgelöst wurden. Doch gerade weil sich Altstalinisten und Reformkommunisten in den Führungspositionen ablösten, wurden letztere zu Trägern der Hoffnung auf eine Vermenschlichung des Systems. An ihrer Spitze stand Imre Nagy (1896–1958), der in den frühen fünfziger Jahren mal als amtierender Ministerpräsident, mal als geschasster Parteisoldat das patriotische Interesse an einer linksorientierten Überwindung des Totalitarismus verkörperte. So war es möglich, dass die Revolution während der ihr vergönnten knapp zwei Wochen nicht die Umgestaltung der Gesellschaft, sondern die politisch-rechtliche Demokratisierung auf ihre Fahnen schrieb. Wie schon die allerersten fachlichen Analysen, so das Werk von Hannah Arendt (1906–1975) aus dem Jahre 1958 über Die Ungarische Revolution und den totalitären Imperialismus, feststellten, verband sie die Forderung nach einem Mehrparteiensystem mit dem Wunsch nach einem basisdemokratisch legitimierten Regierungssystem, das die sozialistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse etwa in Großunternehmen nach den Erfordernissen der ungarischen Volkswirtschaft beibehält, sie aber in rechtsstaatliche Strukturen hinüberführt.
Das Besondere an diesem konzeptionellen Zukunftsbild war, dass es in einer Erhebung aufschien, die bei allen materiellen Versorgungsproblemen, mit denen Ungarn infolge seiner unmäßigen Industrialisierung zu kämpfen hatte, keine Brotrevolte war. Sie spielte sich nicht zwischen Unterschicht und Oberschicht ab, sondern war im engen Sinne des Wortes ein Volksaufstand gegen einen gemeinsamen Gegner, getragen von Intellektuellen, Arbeitern und Bauern. Die Folge hiervon war eine theoretische und praktische Zielstrebigkeit, wie sie sich nur aus der Kraft gesellschaftlicher Solidarität herauszubilden und zu offenbaren vermag. Der Schriftsteller Péter Nádas, damals 14 Jahre alt und bereits mit einer außerordentlichen Beobachtungsgabe gesegnet, gedachte am fünfzigsten Jahrestag zweier Wochen, an denen man im militärisch aufgewühlten Budapest „verstehen konnte, warum die Menschen taten, was sie taten“.
Von den Beweisen hierfür beeindruckt das „Unbewachte Geld auf der Straße“ („Őrizetlen pénz az utcán“) an vorderster Stelle. Es trug eine künstlerische Botschaft in die Bevölkerung, die von Menschlichkeit durchdrungen war. Am 2. November 1956 rief der ungarische Schriftstellerverband zu Spenden für die Angehörigen der in den Straßenkämpfen gefallenen Personen auf. Der Architekt und Poet Miklós Erdély (1928–1986) stellte mit einigen Mitstreitern an mehreren verkehrsreichen Straßenzügen der Hauptstadt Munitionskisten mit folgender Mitteilung in Druckschrift und einem aufgeklebten 100-Forint-Geldschein auf: „Die Unbescholtenheit unserer Revolution erlaubt es, für die Familien unserer Märtyrer auf diese Weise zu sammeln. Ungarischer Schriftstellerverband.“ Augenzeugen und Beteiligte, so auch Erdély, berichteten später über diese auch in zeitgenössischen Pressemeldungen und Fotoreportagen verewigte Solidaritätsaktion, dass sich die Holzkisten rasch mit 10-, 20- und 100-Forint-Banknoten füllten, ohne von ungebetenen Händen behelligt zu werden. Sie wurden mit einem Dienstwagen des Schriftstellerverbandes an dessen Sitz in der Budapester Bajza Straße verbracht und für gezielte Verwendung geleert. Innerhalb von drei Tagen kamen rund 260.000 Forint zusammen, und die Auszahlung von Soforthilfen von jeweils 500 Forint lief bereits an – dies wohlgemerkt auch an Hinterbliebene der Opfer unter den verhassten Geheimdienstagenten der ungarischen Staatspartei. Der Rest der gesammelten Summe wurde nach dem 4. November, dem zweiten Einmarsch der sowjetischen Armee, von den Behörden beschlagnahmt. In der Kunstgeschichtsschreibung gilt diese „konzeptualistische Aktion“, einer der Titel im Werkverzeichnis von Miklós Erdély, als „erste ungarische Performance“ überhaupt.
Der zunächst vorübergehende Sieg und, anschließend, die unabsehbar langandauernde Niederlage der Revolution waren der eigenen Entschlossenheit geschuldet. Ihr Höhepunkt war der Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt, den Imre Nagy am 1. November 1956 verkündete, als die kurz zuvor aus Budapest abgezogenen sowjetischen Truppen sich neu aufzustellen begannen. Bemerkenswerterweise erklärte der Ministerpräsident nicht etwa den Beitritt zur NATO, sondern die Neutralität seines Landes, um die Gegenseite auch so zu einer einvernehmlichen Konfliktlösung zu ermuntern. Der beredteste bildhafte Ausdruck der neutralen Unabhängigkeit, die Ungarn durch Beendigung der totalitären Bevormundung aus Moskau erlangen sollte, war die Fahne mit dem Loch (lyukas zászló): Es war die rot-weiß-grüne Trikolore, aus der die Aufständischen das seit 1949 eingenähte stalinistische Staatswappen mit Hammer, Ähre und rotem Stern herausschnitten. Dem Land schufen sie damit ein nationales Symbol, das in Bescheidenheit, Reinheit und Tadellosigkeit seinesgleichen sucht. Diese ungarische Gefühlslage wurde in grenzüberschreitender Solidarität von deutschen Studierenden der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität einfühlsam rezipiert. Sie unterbrachen im Wintersemester 1956/1957 ihr Studium und fuhren mit einem von der Firma Siemens unentgeltlich geliehenen Volkswagen-Bus an die österreichisch–ungarische Staatsgrenze, um von dort etwa fünfzehnmal ungarische politische Flüchtlinge nach München zu bringen. Sie sammelten von Firmen und Privatpersonen Geld, Nahrungsmittel, Kleidung, richteten Begegnungsorte und Unterkünfte ein, griffen den Hilfsbedürftigen in schwierigen Augenblicken des sozialen Neuanfangs unter die Arme. Und Anfang 1957 gründeten sie den gemeinnützigen Verein „Ungarn-Patenschaft der freien Welt e. V.“. Um die Verbundenheit mit dem erneut unterjochten ungarischen Volk auch äußerlich zu zeigen, ließ der Vorstand eine bronzene Anstecknadel anfertigen, auf der er neben dem Tag des Ausbruchs des Aufstandes die Fahne mit dem Loch eingravieren ließ. Die Kosten trug der Hersteller. Der Mann, der an diesen Aktionen verantwortlich beteiligt war, suchte am fünfzigsten Jahrestag, 2006, das Ungarische Institut München ebenso unbekannt wie unerwartet auf, um seine einstigen Erlebnisse und Erfahrungen, die ihn sein Leben lang begleitet hatten, zu erzählen. Zum Abschluss übergab er dem Schreiber dieser Zeilen eine kleine Kartonschachtel zur freien Verwendung. Seitdem hüten wir dieses auch abgenutzt kostbare Behältnis, in dem einst übrig gebliebene Solidaritätsanstecker liegen. Ab und an entnehmen wir einen, um ihn einem Ehrengast zu schenken.
Es war gleichsam eine rundherum gedachte Unabhängigkeit, welche die ungarische Regierung bei den Verhandlungen über einen vollständigen Abzug der sowjetischen Besatzungskräfte sowie eine Neuausrichtung der bilateralen Beziehungen anstrebte. Am 3. November 1956, an einem Samstag, liefen die Gespräche im Budapester Parlamentsgebäude und in Tököl, im sowjetischen Hauptquartier unweit der Hauptstadt. Bis dahin hatten sich Trauer und Wut über Tod und Zerstörung infolge des ersten sowjetischen Einmarsches am 24. Oktober aufgestaut. Dennoch herrschte unter den Aufständischen und unbeteiligten Sympathisanten auch eine verhaltene Zuversicht, sogar Freude über das Wagnis des Widerstands gegenüber einer Weltmacht. Diese Stimmung veranlasste später Hannah Arendt zur Bemerkung, dass „nie zuvor eine Revolution ihre Ziele so schnell, so gründlich und mit so wenig Blutvergießen erreicht hat“. Die Ernte dieses Erfolgs durfte sie aber nicht einfahren. Die ungarischen Unterhändler wurden im sowjetischen Hauptquartier inmitten der Gespräche verhaftet, während ihre im Budapester Parlamentsgebäude versammelten Auftraggeber auf ihre Rückkehr warteten. In diesen frühen Morgenstunden des 4. November setzte sich die zweite und verhängnisvolle sowjetische Offensive in Gang, die den Aufstand in einen Freiheitskampf, in den ersten Krieg zwischen sozialistische Staaten münden ließ.
Die Aufständischen, die gerade erst in die Atmosphäre eines gefühlten oder zumindest vorgefühlten Sieges eingetaucht waren, hofften eine Zeitlang auf diplomatische oder gar militärische Hilfe des Westens, vor allem der Vereinigten Staaten von Amerika. Ihr erster Sieg blieb aber unvollendet: er wurde unterbrochen, weil er damals nicht zu retten war. Er musste in einer neuen weltpolitischen Lage ein zweites Mal errungen werden. Die Hoffnung auf den zweiten Sieg strahlte der revolutionäre Rundfunksender Rákóczi in Dunapentele (heute Dunaújváros, Komitat Fejér, 67 Kilometer südlich von Budapest) am 7. November 1956 aus. Um 14:53 Uhr verabschiedete er sich von seinen Hörern mit folgenden Worten: „Achtung! Die sowjetischen Panzer und Luftstreitkräfte greifen Dunapentele an! Der Kampf dauert mit unveränderter Heftigkeit weiterhin an! Wir unterbrechen unsere Sendung für eine unbestimmte Zeit.“
Der ungarische Aufstand konnte im Herbst 1956 nicht siegen, weil er seiner eigenen Zeit vorausgeilt war. Im Grunde begehrte er mit seiner Neutralitätserklärung gegen die politische Zweiteilung der Welt auf. Allerdings rüttelte am Grundsatz der Bipolarität der Einflusssphären damals auch der Westen nicht. Erst rund drei Jahrzehnte später lieferte der Zusammenbruch des sowjetischen Hegemonialsystems eine unabdingbare äußere Voraussetzung für den Aufbruch der Ostblockstaaten in die Unabhängigkeit. Die Volksrepublik Ungarn benannte sich symbolisch, ausgerechnet am Jahrestag des Aufstands, am 23. Oktober 1989, in eine unabhängige Republik mit freiheitlich-demokratischer Ordnung um. Danach strebte Budapest nicht mehr lediglich die Neutralität an – wie Anfang November 1956 –, sondern setzte sich die Eingliederung in die politischen und Wirtschaftsstrukturen des Westens zum Ziel. Das jahrzehntelange Gedenken an 1956 trug so spät, aber wohl nicht verspätet Früchte, die der heiße Herbst im einstigen kalten Krieg als unreif erwiesen hatte, deren Geschmack aber unvergesslich blieb und nicht auszulöschen war. Auf diesen Geschmack sollten bis zu den politischen Umbrüchen in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa gegen Ende der 1980er Jahre eine Reihe von Widerstandsbewegungen diesseits und jenseits der Grenzen kommen, die sich an der ungarischen Revolution von 1956 erklärterweise oder sinngemäß ein Beispiel nahmen.