Zoltán Szalai / Balázs Orbán (Hrsg.) (2021): Der ungarische Staat. Ein interdisziplinärer Überblick, Wiesbaden: Springer VS; XVIII, 519 S.
Eine kommentierende Rezension
Von
Siegfried F. Franke*)
Ungarn steht seit dem Regierungswechsel von 2010 in der Dauerkritik. Die Listenverbindung des ungarischen Bürgerbundes (Fidesz) mit den ungarischen Christdemokraten (KDNP) errang eine klare Zwei-Drittel-Mehrheit und brachte ihren Spitzenkandidaten, Viktor Orbán, ins Ministerpräsidentenamt. Orbán war 1998 bereits einmal zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Er konnte nach der Wahl 2002 nur deshalb das Amt nicht fortsetzen, weil es die „Liberalen“ vorzogen, sich mit der sozialdemokratischen MSZP zu verbünden, die nur mühsam ihre kommunistischen Wurzeln übertünchen konnte.
Das änderte sich mit der erneuten Wahl von 2010. Die Vorgängerregierungen hatten das Land finanziell und wirtschaftlich derart an die Wand gefahren, dass die Wähler der Listenverbindung von Fidesz und Christdemokraten mit dem Spitzenkandidaten Viktor Orbán eine Zwei-Drittel-Mehrheit bescherten. Aufgrund seiner erfolgreichen Politik konnte er mit der gleichen Listenverbindung die drei folgenden Wahlen (2014, 2018 und 2022) für sich entscheiden. Wer nun wissen möchte, was die notorisch freiheitlich-kritischen Ungarn (s. dazu Bauer 2022) bewogen hat, ihn und seine Listenverbindung wiederholt mit deutlichem Vertrauen zu bedenken, sollte das breit gefächerte Buch von Zoltán Szalai und Balázs Orbán zur Hand nehmen. Ein Teil der insgesamt 29 Beiträge beleuchtet die Entwicklung des „ungarischen Staates“, dessen Wurzeln mehr als 1000 Jahre zurückreichen, aus historischer, gesellschaftlicher, staatsrechtlicher, politischer und wirtschaftlicher Sicht (Teil „Ungarn damals“, 113 ff.). Vor diesem Hintergrund tragen weitere Beiträge zum Verständnis der staatsrechtlichen Fundamente des „heutigen“ ungarischen Staates bei, und sie erläutern Ungarns Position in nationaler und internationaler Sicht (Teile „Ungarn heute“, 9 ff.; „Ungarische Denkweise“, 225 ff.; „Ungarn international“, 347 ff.).
Man kann versuchen, das Buch am Stück zu lesen, man kann es jedoch immer wieder mal zur Hand nehmen, um einzelne Aspekte nicht nur nachzulesen, sondern zu vertiefen und nachzuvollziehen, um die ungarische Politik im Innern, aber auch nach außen im Blick auf die EU und die internationale Einbindung zu verstehen. Wer sich darauf einlässt, wird nicht nur mit einem breiten Wissen über die Mentalität des ungarischen Volkes und die entsprechende Politik belohnt, sondern begreift, dass ein wesentlicher Teil der Kritik an Ungarn oberflächlich und oftmals opportunistisch-nachgeplappert erscheint, auf jeden Fall jedoch geschichtsfern, ideologisch und für die gedeihliche Zusammenarbeit mit der EU und deren Weiterentwicklung nachgerade gefährlich ist.
Ein Teil der Kritik stellt darauf ab, dass Orbán und seine Regierung die Gesellschaft spalten. Natürlich gibt es unterschiedliche Meinungen über Ziele und Mittel der Politik. Das ist zentral für freiheitlich-demokratische Gesellschaften, begründet jedoch keine dauerhafte und tiefergehende Spaltung. Das wird auch in den historisch und staatsrechtlich angelegten Artikeln des Buches klar herausgearbeitet. Gleichwohl ist nicht zu bestreiten, dass man die ungarische Gesellschaft heute in vielfacher Sicht als gespalten wahrnehmen kann. Es ist jedoch verfehlt, dies der derzeitigen Regierung anzulasten. Der tiefere Grund dafür liegt in der parteipolitischen Entwicklung nach der sogenannten Wende (Gergely Gulyás, 11 ff.). In deren Folge bildeten sich zum einen neue Parteien konservativ-freiheitlichen Zuschnitts, während sich zum anderen sozialistisch bzw. sozialdemokratisch orientierte Parteien sozusagen aus dem Fundus der alten kommunistischen Partei formten. Ihre Funktionäre und Mitglieder bestanden zu einem nicht geringen Teil aus nur oberflächlich gewendeten ehemaligen Kommunisten. Auch wenn es im Kampf um Macht und Einfluss auf dieser Seite etliche Umgruppierungen und Neugründungen gegeben hat, so hält diese Spaltung – obschon es einem Teil der Sympathisanten der derzeitigen Oppositionsparteien gar nicht bewusst sein mag – bis heute an.
In diesem Zusammenhang sei auf einen der Widersprüche im Erweiterungsprozess der EU hingewiesen, die Brüssel – hier als Sammelbegriff für die zentralen EU-Institutionen gemeint – bis heute tradiert. Man mag sich fragen, ob sie sich dessen überhaupt bewusst ist. Ob die – neben Malta und Zypern (griechisch orientierter Teil) – 2004 und 2007 in die EU aufgenommenen Länder tatsächlich alle Aufnahmekriterien erfüllten, sei an dieser Stelle dahingestellt. Eines der wesentlichen Motive für die Aufnahme war nämlich die Sorge, dass eine weitere Verzögerung des Beitritts zur EU auch den erhofften Schub für den wirtschaftlichen Aufschwung verzögert. Die damit verbundene Enttäuschung der Bevölkerung berge die Gefahr einer Wiedererstarkung von Parteien in sich, die nach wie vor mit einer sozialistischen Planwirtschaft liebäugeln.
Umso erstaunlicher ist, dass die EU schon vor 1998 eher mit diesen parteipolitischen Strömungen kooperierte als mit jenen Parteien, die – anknüpfend an die ungarische Geschichte – konservativ-bürgerliche Werte als tragende Säulen einer freien und demokratischen Gesellschaft ins Bewusstsein heben und ihre Politik dran ausrichten wollen.
Wundern muss das den Leser des facettenreichen Bandes nicht, denn zum einen haben sich die Kritiker weder in Brüssel noch in anderen westeuropäisch orientierten EU-Mitgliedstaaten offenkundig kaum mit der Geschichte Ungarns und mit den Motiven der ungarischen Politik vertraut gemacht. Zum anderen ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Brüsseler Institutionen, d.h., die Kommission und das Parlament mit eifriger Unterstützung durch den Europäischen Gerichtshof, eine starke Zentrale wünschen und jede Gelegenheit nutzen, um die Souveränität ihrer Mitgliedstaaten einzuhegen, und zwar ohne Rücksicht darauf, dass Brüssels Souveränität von den Souveränitäten der Mitgliedstaaten abgeleitet ist, ohne dass diese damit ihre Souveränität aufgeben (Balázs Orbán, 349 ff.). So sah es übrigens auch das deutsche Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss von 1974.
Jüngste Beispiele für die Übergriffigkeit der Kommission sind der zunächst ohne jede Absprache mit den Mitgliedstaaten in die Welt gesetzte „Gas-Notfallplan“ sowie die Klage gegen Ungarn wegen des im letzten Jahr verabschiedeten Gesetzes, das den Eltern das alleinige Recht zur Sexualerziehung ihrer Kinder bis zum Alter von 18 Jahren einräumt. Wieso dieses Gesetz gegen LGTB-Rechte verstoße, ist nicht ersichtlich. Allein schon der Gang nach Luxemburg ist im Grunde genommen ein krasser Eingriff in die inneren Angelegenheiten eines Mitgliedstaates. Leider steht zu vermuten, dass der EuGH großzügig darüber hinweggehen wird.
In der Regel kommen Kritik und Klagebegründungen mit den hehren europäischen Werten daher. Ziemlich dreist für ein Institutionengebilde, das nach Meinung eines hochrangigen EU-Politikers (Martin Schulz) bis heute seine demokratischen Defizite nicht mal ansatzweise zu beheben versucht. Dafür wird immer wieder mit mahnendem Unterton Viktor Orbáns Rede von der „illiberalen Demokratie“ thematisiert. Zugegeben, der Begriff ist aus westeuropäischer Sicht geschichtsbelastet und wäre besser vermieden worden. Wer sich indessen nicht an Begriffen festbeißen will, sondern nach den Hintergründen fragt, wird schnell feststellen, dass der Begriff aus osteuropäischer, mindestens jedoch aus ungarischer Sicht eine tiefere Bedeutung aus seiner geschichtlichen Entwicklung erfährt, und dass er auf christlichen Werten basiert (Tamás Demeter, 273 ff.). Aus ungarischer Sicht führte ein falsch verstandener Liberalismus, zur Zerstörung der gesellschaftlichen Mitte einschließlich des Adels. Verfassungsrechtlich ist der ungarische Staat zur Neutralität gegenüber weltanschaulichen Einstellungen der Bevölkerung verpflichtet. Das ist gelebter Liberalismus, der jedoch nicht dahin münden darf, der EU zu erlauben, nationale Besonderheiten möglichst einzuebnen und gesellschaftliche Institutionen, die auf christlicher Basis beruhen, zu schleifen.
Wer einen Blick in die rund 1000-jährige Geschichte Ungarns mit seinen vielen und oft existenzgefährdenden Katastrophen wirft, kann nur staunen, dass und wie es dieser Schicksalsgemeinschaft immer wieder gelungen ist, ihre Identität und Staatlichkeit zu bewahren sowie zu neuer kulturellen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Blüte aufzusteigen.
Um dies zu verstehen, ist es hilfreich, ein Blick auf die ungarischen Staatssymbole und dabei insbesondere auf die Stephanskrone zu werfen (Attila Horváth, 115 ff.). Stephan I. wurde, nachdem er sich zum Christentum bekannt und das Land christianisiert hatte, von Papst Silvester bzw. seinem Beauftragten am 17. August 1.000 zum König von Ungarn gekrönt. Damit ist auch die rechtliche Unabhängigkeit des Landes verknüpft. Die Stephanskrone hat eine wechselvolle Geschichte, bedeutsam ist jedoch, dass sie eine eigene Rechtspersönlichkeit besitzt. Dieses ungewöhnliche Rechtskonstrukt ist nicht ganz leicht zu verstehen und stößt sich zunehmend mit säkularem Denken. Allerdings ist es gerade diese Eigenschaft der Krone, die es ermöglichte, die nationale Identität und souveräne Staatlichkeit über alle Irrungen und Wirrungen hinweg als unveränderlichen Kern Ungarns zu behaupten und nach Unterdrückungen und Katastrophen immer wieder daran anzuknüpfen (Tamás Wetzel, 505 ff.). Sie erlaubt es auch, ethnische Ungarn mit einzubeziehen, die sich nach Trianon plötzlich in anderen Staaten wiederfanden. Diese Bedeutung, an der auch die derzeitige ungarische Regierung mit ihren Reformen ab 2010 anknüpft, wird von der EU, aber auch von an anderen Kritikern völlig verkannt bzw. mit nachsichtig lächelndem Spott bedacht.
Dass die Stephanskrone für Ungarn eine tiefwurzelnde Bedeutung für seine Identität und Souveränität hat, konnte hier nur kurz dargestellt werden. Ich habe diese Bedeutung bewusst ans Ende meiner Besprechung gelegt, und ich verbinde damit die Hoffnung, dass sich – dem europäischen Leitwort der „Einheit in Vielfalt“ entsprechend – die „europäischen Eliten“ künftig intensiver mit der ungarischen Geschichte beschäftigen, bevor sie vorschnell Kritik kundtun und Klagen vor dem EuGH anzetteln, denn „strukturelle Differenzen“ und „kulturelle Unterschiede“ zwischen den Mitgliedstaaten verschwinden nicht (Zoltán Szalai, 197). Das ist auch gar nicht wünschenswert, denn wo bliebe bei einer weitgehenden Nivellierung die „Vielfalt“ in der „Einheit“? Dies ist nicht zuletzt den deutschen Meinungsträgern nahezulegen, zumal die positive Einstellung, die Ungarn Deutschland entgegenbringt, bis in die Zeit von vor 1848 zurückreicht (Gergely Gulyás, 11 ff.).
Abschließend ist festzuhalten, dass das von Zoltán Szalai und Balázs Orbán herausgegebene Buch eine facettenreiche Fundgrube zum Verständnis des heutigen Ungarns ist. Ich habe versucht, aus meiner Sicht einige zentrale Überlegungen darzustellen, verstehe aber auch, wenn Leser den einen oder anderen Aspekt vermissen, so z.B. die Darstellung der Wissenschaft (Áron Máthé, 167 ff.) sowie die Feststellung, dass die Juden – im Unterschied zu manchen anderen EU-Mitgliedstaaten – sich völlig frei bewegen und entfalten können (Slomó Köves, 369 ff.). Ähnliches gilt für andere nationale Minderheiten, so etwa für die Ungarndeutschen (András T. Balogh, 185 ff.). Dass in diesem Zusammenhang auch der Wirtschaft in nationaler und internationaler Sicht eine besondere Bedeutung zukommt, wird im Teil „Ungarische Wirtschaft und Gesellschaft“ thematisiert (431 ff.). Hingewiesen sei hier deshalb lediglich auf die wirtschaftlichen Bande mit Deutschland.
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Bence Bauer (2022): Essay über den Individualismus und Freiheitsbegriff im ungarischen Denken. Der Freiheitsdrang der Ungarn, in: Budapester Zeitung, Magazin, Nr. 13, 08.07.2022, 5-9.
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*Zum Verfasser: Prof. em. Dr. habil. Siegfried F. Franke, Jahrgang 1942, lehrte Wirtschaftspolitik und Öffentliches Recht an der Universität Stuttgart sowie Wirtschaftspolitik an der Andrássy Universität Budapest. Franke ist Gastprofessor an der Andrássy Universität Budapest, Mitglied der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft und Autor zahlreicher Publikationen.