Wo fangen Grenzen an, wo hören sie auf? Diese Frage war und wird immer zentrales Thema der Politik und Philosophie sein. Das Interesse an der Diskussionsveranstaltung “Abgrenzung, Demarkation, Ausgrenzung"? Die Grenzen Europas damals und heute.” im Mathias Corvinus Collegium in Győr am 12. April 2023 mit ca. 100 Gästen war daher sehr groß. Neuzeithistoriker Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Althistoriker Prof. Dr. Michael Sommer und Politikwissenschaftler Prof. Dr. Heinz Theisen – alle drei derzeit Visiting Fellows am Deutsch-Ungarischen Institut für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium – erörterten in diesem Zusammenhang alte und neue Konfliktlinien sowie zentrale Begriffe staatlicher Grenzziehungen.
In ihren Begrüßungsreden betonten Dr. David Fekete, Leiter der regionalen Vertretung des MCC in Győr, und Bence Bauer, Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit, die Förderung des öffentlichen Dialogs zwischen Deutschland und Ungarn. Es herrsche sehr viel Halbwissen zwischen den Ländern, weshalb bilaterale Dialogformate unabdingbar seien, um die Beziehung der beiden Länder zu fördern.
Zunächst stellten die Professoren jeweils ihre akademischen Bezugspunkte bezüglich Grenzen, Völker und Kulturen vor. Herr Prof. Dr. Sommer verwies dabei auf die Ausdehnung des Römischen Reiches, dessen Grenzen innerhalb des Imperiums eine identitätsstiftende Schicksalsgemeinschaft schufen. Das Beispiel Roms zeige, so Sommer, dass Völker erst lernen müssen, ihre Grenzen zu definieren, bevor sie diese für sich beanspruchen. Herr Prof. Dr. Kroll erläuterte in diesem Zusammenhang die Geschichte der deutschen Außengrenzen ab dem 18. Jahrhundert. Die Entwicklung des Vielvölkerbunds zu einem souveränen Nationalstaat mache aus geschichtlicher Perspektive das föderale System der Bundesrepublik Deutschland mit seinen Binnengrenzen verständlich.
Herr Prof. Dr. Theisen analysierte darüber hinaus, dass es für die Europäische Union unabdingbar sei, ihre Grenzen konkret zu definieren, um nicht nur Schutz bieten zu können, sondern auch ihre Identität zu wahren.
In der darauffolgenden Podiumsdiskussion, moderiert von Martin Josef Böhm, Forschungskoordinator des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit, wurde diskutiert, ob die EU und Schengen das Maximum ihrer Ausdehnung bereits erreicht hätten. Das Hauptproblem sei, so die Professoren einstimmig, dass die Grenzen nicht genau definiert wurden. Im Zuge der Erweiterungsprozesse hätten sich geopolitische Grauzonen entwickelt, für die keine europäischen Strategien ausgearbeitet wurden. Man müsse erkennen, so Theisen, dass der europäische Raum christlich definiert sei und die Bewahrung des Kulturraums nicht nur Sicherheit bieten würde, sondern auch ein Garant für die Demokratiefähigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten sei.
Aufgrund des Krieges sei zudem die Grenzfrage in Bezug auf Konflikträume aktueller denn je. Die Grundproblematik sei, argumentierte Sommer, dass es immer da zu zwischenstaatlichen Spannungen komme, wo kulturelle und politische Grenzen nicht kongruent gezogen würden. Dennoch dürfe man nicht außer Acht lassen, dass aus Sicht des Völkerrechts ein souveräner Staat angegriffen wurde. Der Angriffskrieg Russlands sei aber beispielhaft für das Dilemma zwischen den Prinzipien des Völkerrechts und der realen Geopolitik von Großmächten.
Zum Schluss wurden, im Zuge der Fragen aus dem Publikum, mögliche Handlungsempfehlungen für eine zukünftige Europapolitik diskutiert. Man müsse zwischen Globalisierung und Protektionismus ein Gleichgewicht finden, indem die EU zwar Offenheit anbiete, aber auch den Schutz ihrer Staaten gewährleisten könne. Ungarn ginge in dieser Hinsicht mit großem Beispiel voran, stellte Prof. Dr. Kroll fest. Die Globalisierung wird immer ein Teil des weltpolitischen Geschehens bleiben, aber umso wichtiger müssen sich die Länder als Gemeinschaft verstehen, um sich in der Weltpolitik behaupten zu können. Hierfür sei es aber unabdingbar, so Prof. Dr. Sommer abschließend, dass die Länder der EU anfangen, mehr aufeinander zuzugehen und die Unterschiede, die das Wesen der EU ausmachen, anfangen zu verstehen.