Prof. Dr. Tilo Schabert, emeritierter Professor für Politische Wissenschaften an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg, stellte am 20. April 2023 seinen neuesten Band, „Vom Geschehen zur Geschichte. Sechs Kapitel zur Historiographie der Wiedervereinigung Deutschlands“, vor, das beeindruckende Erkenntnisse zur internationalen Geschichtsschreibung rund um das Ende der deutschen Teilung sammelt. An der Veranstaltung des Deutsch-Ungarischen Institut für Europäische Zusammenarbeit und dem Zentrum für Verfassungspolitik des Mathias Corvinus Collegiums, die von Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Visiting Fellow am Deutsch-Ungarischen Institut und Professor für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der TU Chemnitz, moderiert wurde, nahmen mehr als 50 Zuschauer teil.

Dr. Zoltán Szalai, Generaldirektor des Mathias Corvinus Collegiums, betonte in seinem Grußwort die positive Resonanz Schaberts in Ungarn, dessen berühmtes Werk „Boston Politics“ letztes Jahr in ungarischer Übersetzung bei MCC Press erschienen ist. Mit seinem neuesten Werk, das am 15. März 2023 bei Duncker&Humblot erschienen ist, trage Schabert entscheidend zur Diskussion um die Geschichtsschreibung in den Jahren 1989-1991 bei. Szalai erinnerte auch an die Rolle der Ungarn, die sie bei der deutschen Wiedervereinigung gespielt hatten.

Danach stellte Dr. Kálmán Pócza, Leiter des Zentrums für Verfassungspolitik des MCC, den bemerkenswerten Lebenslauf von Prof. Schabert vor. Infolge seiner steilen wissenschaftlichen Karriere und seines Engagements für die deutsch-französischen Beziehungen erhielt Schabert unter anderem 2005 den Deutsch-Französischen Parlamentspreis, 2007 wurde er zum Ritter der französischen Ehrenlegion ernannt.

In der einleitenden Vorstellung seines neuesten Werkes ging Schabert zunächst auf den Prozess der Geschichtsschreibung ein, welcher sich zwischen früheren Ereignissen und ihrer nachzeitigen Darstellung vollzieht. Für sein Buch habe er beispielsweise verschiedene Quellen gesammelt und Archive unterschiedlicher Länder eingesehen. Aber selbst jene Quellen würfen laut Schabert Probleme auf: Die Geschehnisse würden immer nur aus der jeweiligen Sicht des Berichterstatters geschrieben, weshalb es oftmals mehrere Geschichten eines Geschehens gebe. Weiterführend stellte er zwei Protokolle aus dem Jahr 1989 vor, die davon handelten, wie der französische Präsident François Mitterrand und der ungarische Staatspräsident Mátyás Szűrös über das Ende der Sowjetunion, die zentrale Rolle des sowjetischen Präsidenten Michail Sergejewitsch Gorbatschows und die Zukunft Europas sprachen.

In der Diskussion mit Prof. Dr. Kroll wurde konkret über den Inhalt, die Methode und die Ergebnisse des Buches gesprochen. Das Buch sei nicht nur eine Nacherzählung der Jahre 1989 und 1990 bis hin zur Deutschen Einheit, sondern zum Teil eine Revision der Geschehnisse. Mitterrand, so Schabert, habe die Wiedervereinigung schon 1981 gegenüber dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt und später nochmal vor Helmut Kohl angesprochen – beide deutsche Kanzler hielten eine deutsche Wiedervereinigung für unwahrscheinlich. Mitterrand hielt aber daran fest und aus den, zum Teil hitzigen Diskussionen in Bezug auf wichtige Zusicherungen seitens der Bundesrepublik zwischen Mitterrand und Kohl, entstand neben der politischen auch eine private Freundschaft, berichtete Tilo Schabert.

In diesem Zusammenhang wurde die Frage diskutiert, wann ein Politiker schöpferisch sei. Schabert stellte zwei zentrale Rahmenbedingungen vor: Bevor man das Land regiere, müsse man seine Regierung regieren, mit der man dann das Land regiere. Außerdem sei es wichtig, das Land zu kennen und hierfür müsse eine politische Führungsperson schon vor Amtsantritt ein zuverlässiges Netzwerk in der Gesellschaft aufbauen. Auch die Beziehung zwischen staatlichen Führungspersonen und deren Charaktereigenschaften spielten dabei eine Rolle, so Schabert. Beispielsweise wusste Mitterrand ganz genau wie er die Britische Premierministerin Margaret Thatcher so anstacheln konnte, dass sie sich selbst ins diplomatische Aus manövrierte, was Mitterrand wiederum auszunutzen wusste. Kroll warf allerdings ein, dass sie panische Angst vor einem Wiedererstarken Deutschlands gehabt hätte und der Meinung war, dass die Deutschen zur Überheblichkeit neigen würden. Dieses Misstrauen gab es 1990 und 1991 tatsächlich überall auf der Welt, weshalb die Diskussion über die Wiedervereinigung dementsprechend komplex war, ergänzte Schabert. Schabert erwähnte, dass der damalige italienische Ministerpräsident Andreotti auch die deutsche Wiedervereinigung abgelehnt hätte, da dieser Furcht vor revisionistischen Zielen Deutschlands in Richtung Südtirols hatte.

Des Weiteren wurde die gegenwärtige Europapolitik angesprochen. Schabert bedauerte, dass das Netzwerk freundschaftlicher Beziehungen, die Werkstatt der Weltpolitik, so nannte er es, zerbröckelt sei. Selbst auf diplomatischer Ebene würden Kontakte kaum noch gepflegt werden.

In seinem Schlusswort fasste Dr. Bence Bauer, Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit, in diesem Zusammenhang nochmals zusammen, dass das Pflegen persönlicher Kontakte und das Ergreifen von „vertrauensbildenden Maßnahmen“  essentiell seien, um ein friedliches Miteinander gewährleisten zu können.