Vom 12. bis 14. März war Dr. Klaus-Rüdiger Mai, Sachbuchautor, Essayist und Publizist, zu Gast am Deutsch-Ungarischen Institut für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium und hielt am 13. März 2024 in Pécs einen Vortrag zum Thema „Das Zeitalter des Chaos - Die deutsche Politik unter dem Druck des Extremismus”. Die Veranstaltung wurde von Krisztián Erdei, Leiter des Regionalbüros Pécs moderiert. Die Veranstaltung war mit einem Publikum von über 70 Gästen, darunter viele Studenten der Universität Pécs, sehr gut besucht.

Im Rahmen seines Vortrags mit anschließender Podiumsdiskussion zum Thema „Das Zeitalter des Chaos - Die deutsche Politik unter dem Druck des Extremismus” stellte Mai sein im März erschienenes, neues Sachbuch über „Die Kommunistin. Sahra Wagenknecht: Eine Frau zwischen Interessen und Mythen” vor und regte damit zum tieferen Nachdenken über ein neues politisches Phänomen an: Das Erstarken der extremen Flügel in der deutschen Politik.

In seinem Vortrag wies Mai auf Tendenzen einer Spaltung der deutschen Gesellschaft hin. Das wiedervereinigte Deutschland driftet auseinander. Die Mainstream-Medien spiegeln nicht mehr die öffentliche Meinung wider, so Mai. Sie seien Teil des Problems, indem die von den Massenmedien verbreitete Meinung zu bestimmten Themen zur „veröffentlichter Meinung” reduziert und den Kriterien einer unabhängigen Berichterstattung nicht gerecht werde. Viele deutsche Mediennutzer bemängeln die engen Meinungskorridore. Der Mainstream repräsentiere bei weitem nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung.

Der Westen befindet sich in einem Paradigmenwechsel

Ob in Deutschland, Frankreich oder Ungarn – unsere Vorstellung von der Welt, der Gesellschaft, der Wirtschaft, ja unsere Mentalität erlebe zurzeit eine große Umwälzung, verglichen etwa mit dem Paradigmenwechsel von der Spätantike bis zum Mittelalter oder vom Spätmittelalter zur Neuzeit. Unser Verhältnis zur Wirklichkeit verändere sich grundlegend. Überall erfahren wir große Veränderungen: In der virtuellen Welt, im Internet der Dinge, in der Digitalisierung.

Die einzelnen Nationen müssten auf die Veränderungen, die per se politische Auseinander-setzungen mit sich ziehen, eine Antwort finden. Welche Konzepte haben wir? Welche Antwort bieten die Konservative in Deutschland auf diese Veränderung der Welt? Mai zitiert einen konservativen Theoretiker, der einmal sagte, dass der Konservative heute das bekämpfe, was er morgen gut findet. Die Konservative in Deutschland hätten heute keine politische Vertretung: Die CDU sei es nicht mehr und die FDP habe sich in der Ampelkoalition aufgelöst. Die Linke und die SPD seien inzwischen weichgespülte, woke Parteien, die den Grünen folgen, sind aber in ihrer grün gefärbten Politik nicht das Original.

Das Phänomen Sahra Wagenknecht: Aufstieg einer Kommunistin

Vor einer Dekade wäre es kaum denkbar gewesen, dass eine Postkommunistin eine neue Partei gründet, die eine so große Aufmerksamkeit findet, sowohl bei den Bürgern als in dem politischen Establishment. Sahra Wagenknecht, eine Galionsfigur der Partei Die Linke, die ihre politische Karriere 1989 in der SED (der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland) begann, diese in der Nachfolgepartei PDS fortsetzte, gründete am 8. Januar 2024 eine neue linke Partei mit dem Namen "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW). Die Parteigründung wird wohl die Arithmetik der deutschen Parteienlandschaft verändern. Es ist auch kein Zufall, dass im Namen der neu gegründeten Partei das Wort „links” nicht vorkommt – denn der Begriff „links” wirke, so Sahra Wagenknecht, elitär.

Die Linke entwickelte sich in den letzten 30 Jahren von der sozialpolitischen Linke zur identitätspolitischen Linke, die sich durch Phänomene der Cancel Culture, der politisch korrekten Sprache, des Genderzwangs, des Postkolonialismus, des Wokeismus und durch die Pflicht zur Diversität auszeichnet. Die ursprüngliche linke Idee der sozialpolitischen Linken ist in Deutschland mit Pauken und Trompeten untergegangen. Sahra Wagenknecht, eine urtypische Repräsentantin der sozialpolitischen Linken sieht nun ihre Chance gekommen, durch die Parteigründung zu den Ursprüngen linker Politik zurückzukehren.

Als Resümee stellte Klaus-Rüdiger Mai fest: Die Deutschen haben ein verzerrtes Selbstbild. Sie sind davon überzeugt, dass Deutschland immer noch ein massives politisches Gewicht in der Europäischen Union habe und die deutsche Wirtschaft krisenfest und robust sei. In Wirklichkeit stehe Deutschland vor dem Zusammenbruch der öffentlichen Infrastruktur, der inneren Sicherheit, der öffentlichen Bildung bis hin zum Gesundheitswesen. Die deutsche Wirtschaft sei auf einem absteigenden Ast, auf dem Weg zur Deindustrialisierung. Durch eine verfehlte Wirtschaftspolitik leiden die Deutschen an den Folgen der Inflation, an immer höheren Steuern und Abgaben. Der Verfall gehe schleichend, aber doch rasant voran und das kratze am Selbstwertgefühl der Deutschen.  Mai erklärt somit das hochgepriesene neue Gesellschaftmodell und den Gesellschaftsumbau als gescheitert.

Zum Schluss bot Mai Einblicke in tagesaktuelle gesellschaftspolitische Diskurse, wie etwa die Corrective-Affäre und die Bauernproteste zu Jahresanfang. In der anschließenden Podiumsdiskussion, moderiert von Krisztián Erdei, erörterte Mai Fragen zur aktuellen deutschen Politik und Wirtschaft, wie etwa die Energiepolitik, die Einwanderungspolitik oder die Deindustrialisierung, und stellte seine Sichtweise auf Fragen, wie die Auswirkungen des Krieges zwischen Russland und der Ukraine oder das Erstarken der AfD.