Am 5. Oktober waren Prof. Dr. Andreas Anter, Inhaber der Professur für Politische Bildung der Universität Erfurt, und Prof. Dr. Dieter Schönecker, Professor für Praktische Philosophie der Universität Siegen, zu Gast am Deutsch-Ungarischen Institut für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium (MCC). In ihrem Vortrag mit anschließender Podiumsdiskussion „Meinungsmacht und Cancel Culture” analysierten Anter und Schönecker, wie sich die Grenzen des Sagbaren zunehmend verschieben und verengen, wie sich das Wechselspiel medialer Meinungsbildung und politischer Macht in Deutschland entwickelt und welchen Einfluss diese Dynamik auf die öffentliche Debatte hat. Die Veranstaltung im Scruton Café des MCC in Budapest, wurde von Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Professor für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der TU Chemnitz und Visiting Fellow am Deutsch-Ungarischen Institut, moderiert und von rund 50 Personen besucht.
Kinga Dörstelmann-Fodor, stellvertretende Direktorin am Deutsch-Ungarischen Institut, eröffnete die Veranstaltung und stellte die beiden Referenten vor.
Anschließend übergab sie das Wort an Prof. Dr. Dieter Schönecker, der zunächst seine persönlichen Erfahrungen mit dem Phänomen der „Cancel Culture“ schilderte. Er betonte, dass es in Deutschland zwar keineswegs eine „Meinungsdiktatur“ gebe, sich der Druck auf vermeintlich abweichende Meinung im politischen und wissenschaftlichen Diskurs dennoch stetig erhöhe, was unweigerlich zu einem Rückgang der klassischen liberalen Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit führe. Das Phänomen der „Cancel Culture“ sei ein Versuch, die Grenzen der Wissenschaft durch ein stetiges Straffen des moralischen Korsetts einzuschränken. Die liberale Meinungs- und Forschungsfreiheit sah Schönecker jedoch nicht nur in Deutschland in Bedrängnis, auch Ungarn sei von diesen Entwicklungen nicht gänzlich gefeit.
Prof. Dr. Andreas Anter fokussierte sich in seinem Beitrag auf das Konzept der Meinungsmacht und legte dar, dass das aktuelle Phänomen der „Cancel Culture“, die Unterteilung in willkommene und unwillkommene Meinungen, durch eine gesellschaftliche Minderheit vorangetrieben werde, deren Ansichten sich nicht mit der Mehrheitsmeinung einer Gesellschaft decken müssten. Der Gegensatz zwischen öffentlicher Meinung und veröffentlichter Meinung könne den Anschein erwecken, dass sich die Mehrheitsmeinung bei einer Minderheit befinden würde. Das Bedürfnis des Menschen, sich in die Gemeinschaft integrieren zu wollen, aus Furcht vor der sozialen Isolation, führe zu einem Konformitätsdruck, welcher in einer Schweigespirale ende. Die zunehmende Moralisierung des gesellschaftlichen Diskurses fungiere als Multiplikator sowohl der Furcht vor Isolation als auch des daraus resultierenden Konformitätsdrucks.
Die auf die Eingangsstatements folgende Podiumsdiskussion wurde von Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Visiting Fellow am Deutsch-Ungarischen Institut und Professor für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der TU Chemnitz, moderiert. Die Frage, ob es sich bei der „Cancel Culture“ um ein deutsches Phänomen handele, verneinten beide Referenten deutlich und sahen die Ursprünge im angelsächsischen Raum. Im weiteren Verlauf der Diskussion wurde die Gründung und Entwicklung des Netzwerkes Wissenschaftsfreiheit behandelt und die Lage der Wissenschaftsfreiheit an deutschen Hochschulen thematisiert, an denen eine klare linke Meinungshoheit zu beobachten sei. Meinungen und Standpunkte, die gesamtgesellschaftlich nicht mehrheitsfähig seien, dominierten das Universitäts- und Medienwesen. Als ein Beispiel für diese neue Meinungskonformität des wissenschaftlichen und medialen Diskurses wurde die Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks angeführt, bei dem eine zunehmende Verengung des Meinungskanals zu beobachten sei.
Im Anschluss an die Podiumsdiskussion erhielten die Zuhörer die Möglichkeit, sich direkt mit Fragen an die Referenten zu wenden, worauf sich eine lebhafte Diskussion über Gefahren der „Cancel Culture“ entwickelte. Die Frage, ob sich die Vertretung oder bloße Verteidigung einer kontroversen Minderheitsmeinung im akademischen Betrieb heutzutage negativ auf die Karriereaussichten eines jungen Wissenschaftlers in Deutschland auswirken würde, wurde bejaht.
Während ihres Aufenthalts in Ungarn konnten sich Anter und Schönecker mit einer Vielzahl von Persönlichkeiten aus der Politik sowie dem Universitäts- und Stiftungswesen austauschen. Im Rahmen ihres Aufenthaltsprogrammes trafen sie Imre Ritter, Abgeordneter und Vertreter der Ungarndeutschen in der Ungarischen Nationalversammlung, Prof. Dr. László Bruszt, Direktor des Central European University Democracy Institute, Renáta Fixl, Büroleiterin des Auslandsbüros Ungarn der Hanns-Seidel-Stiftung und Michael Winzer, Büroleiter des Auslandsbüros Ungarn der Konrad-Adenauer-Stiftung, Prof. Dr. Ellen Bos, Prorektorin für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs der Andrássy Universität Budapest, Dr. Ágoston Mráz, Direktor des Nézőpont Meinungsforschungsinstituts, Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Professor für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Technischen Universität Chemnitz und Visiting Fellow am Deutsch-Ungarischen Institut, Gergely Prőhle, ehemaliger Botschafter Ungarns in Deutschland und Direktor der Otto-von-Habsburg-Stiftung, Zoltán Balog, Bischof der Diözese Dunamellék der ungarischen reformierten Kirche sowie pastoraler Präsident der Synode der ungarischen reformierten Kirche und Bence Bauer, Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts.