Bence Bauer ist Jurist und hat mehr als zwanzig Jahre lang in Deutschland gelebt, bevor er zur Nummer Zwei der Konrad-Adenauer-Stiftung in Budapest wurde. Heute leitet er das Deutsch-Ungarische Institut am Mathias Corvinus Collegium, einer der ungarischen Regierung nahestehenden Hochschule in Budapest. Yann Caspar sprach mit ihm am 6. Oktober in Budapest über das Ergebnis der deutschen Bundestagswahlen vom 26. September und die daraus resultierenden Perspektiven für Ungarn und Mitteleuropa.

Yann Caspar: Vor kurzem schrieben Sie, dass die deutsche Politik nun in ihre Regenbogenphase eingetreten sei, die manche als Weimarisierungsphase bezeichnen würden. Was genau meinen Sie damit?

Bence Bauer: Ende September haben die Deutschen ihren 20. Bundestag gewählt, in dem nun acht Parteien vertreten sind: eine neue Situation, die es in der bundesdeutschen Geschichte noch nie gegeben hat. Der Grund dafür könnte sein, dass das deutsche politische System sehr zersplittert ist: Es gibt viele Parteien und Interessengruppen im öffentlichen Raum, so dass die neue Regierung wahrscheinlich auch die Form einer Dreierkoalition annehmen wird. Auch dies ist eine neue Situation: Bisher wurde die Bundesrepublik Deutschland immer von Zweierkoalitionen regiert – nur einmal hatte die CDU/CSU sogar eine absolute Mehrheit. Deshalb nenne ich es Weimarisierung, denn in der Weimarer Republik konnte man zuletzt den aktuellen in Deutschland laufenden Prozess beobachten: eine große Fülle von kleinen und sehr unterschiedlichen Parteien und große Schwierigkeiten, Koalitionen zu bilden, die das Land regierungsfähig machen könnten. Der Bundestag hatte noch nie so viele Mitglieder wie heute, was eine Folge der Besonderheiten des deutschen Wahlrechts ist.

Yann Caspar: Vor vier Jahren brauchte Angela Merkel sechs Monate, um eine Regierung zu bilden. Wie sehen Sie die aktuelle Situation? Wie ist der Stand der Verhandlungen?

Bence Bauer: Angela Merkel ist es erst am 14. März 2018 nach langwierigen Koalitionsverhandlungen gelungen, ihre vierte Regierung zu bilden. Die CDU hatte zunächst versucht, eine so genannte Jamaika-Koalition mit den Grünen und den Rechtsliberalen der FDP einzugehen, was jedoch scheiterte. Theoretisch ist eine solche Lösung auch diesmal nicht ausgeschlossen, aber die Chancen dafür sind derzeit eher gering, da die CDU nicht einmal den ersten Platz erreicht hat, so dass es zuerst der SPD obliegen wird, sich mit der Regierungsbildung zu befassen. Die SPD hat übrigens Verhandlungen mit den Grünen und den Liberalen aufgenommen, um eine sog. „Ampelkoalition“ zu bilden.

Yann Caspar: Kommen wir nun zu den deutsch- ungarischen Beziehungen. Die ungarische Opposition begrüßte den Erfolg der SPD. Viele sagen jedoch, dass die Unterschiede zwischen Olaf Scholz und Angela Merkel viel geringer seien, als man denkt. Was meinen Sie dazu?

Bence Bauer: Es gibt natürlich fundamentale politische Unterschiede zwischen Olaf Scholz und Angela Merkel, aber in ihrer Wesensart, in ihrem persönlichen und politischen Stil, kann man sehen, dass sie Menschen sind, die sehr ähnlich denken. Der derzeitige christdemokratische Kanzlerkandidat Armin Laschet hat sich im Wahlkampf in vielerlei Hinsicht als unentschlossener und unsicherer Politiker erwiesen, während Scholz das Bild eines verlässlichen und ruhigen Mannes vermittelt hat. Dies spricht offensichtlich einen beträchtlichen Teil der Deutschen an. Außerdem gehört Scholz – und das ist bloß ein „Bonus“ – gerade der derzeit amtierenden Regierung an, so dass in seiner Person die Macht übergeben werden kann, ohne dass diese Abstimmung die Kontinuität der Regierung gefährde. Dies könnte in den Augen der deutschen Wählerschaft durchaus einen wichtigen Aspekt darstellen.

Yann Caspar: Und doch hören wir, dass ein Richtungswechsel in Berlin in den nächsten Monaten eine schlechte Nachricht für die ungarische Regierung wäre. Unter diesem Gesichtspunkt könnte die Tatsache, dass sich die deutschen Koalitionsverhandlungen in die Länge ziehen, eine gute Nachricht für die ungarische Regierung sein, da in Ungarn im kommenden April Parlamentswahlen anstehen. Was meinen Sie dazu? Was wäre das Worst-Case-Szenario für die ungarische Regierung?

Bence Bauer: In der internationalen Politik und in der Diplomatie ist es sehr wichtig, dass man das Land, mit dem man interagieren möchte, gut kennt und versteht. Man muss die Denkweise der dort lebenden Menschen verstehen, man muss ihre Mentalität und ihre Geschichte kennen. Unter diesem Gesichtspunkt war Angela Merkels Politik „auf Augenhöhe“ für die Zusammenarbeit Deutschlands mit den mitteleuropäischen Ländern optimal. Denn Deutschland hat verstanden, wie wir Mitteleuropäer denken, was es den Ländern der Visegrád-Gruppe viel näher gebracht hat. Diese Haltung war oft auch in der Politik der CDU sichtbar. Die Visegrád-Länder haben immer von einem CDU-Kanzler, von einer CDU-geprägten Europapolitik und von einer CDU-geprägten Außenpolitik profitiert. Sollte diese Partei von der Macht entfernt werden – was nicht ausgeschlossen ist –, dann könnte diese Politik „auf Augenhöhe“, diese Verständigung, diese Partnerschaft, diese Politik der Zusammenarbeit gleichzeitig verschwinden. Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn die Grünen in der nächsten Regierung eine führende Rolle spielen würden. Dies würde sicherlich die Versuchung verstärken, Europa in Richtung eines föderalistischen Modells abdriften zu lassen. Meiner Meinung nach wäre dies das schlimmste Szenario: die Bildung einer linken Regierungsmehrheit, die eine intensive Kampagne von „Warnungen“ gegen Ungarn starten würde; eine solche Kampagne könnte – neben anderen Faktoren – unsere Wahlen im Frühjahr beeinflussen. Dennoch kann man sich nach dem derzeitigen Stand der Dinge sogar vorstellen, dass die deutsche Regierung zum Zeitpunkt der ungarischen Wahlen noch gebildet sein werde.

Yann Caspar: Viele glauben, dass der Grund, warum die EU nicht härter gegen die ungarische Regierung vorgegangen ist, im Einfluss der deutschen Autoindustrie und anderer Lobbys zu suchen sei. Unterdessen hat die ungarische Opposition den Erfolg der SPD begrüßt. Sollte Olaf Scholz Bundeskanzler werden, glaube ich nicht, dass sich in dieser Hinsicht viel ändern würde. Was meinen Sie dazu?

Bence Bauer: Ich sehe das auch mehr oder weniger so. Es fällt mir schwer zu glauben, dass die Opposition glaubt, eine Verschlechterung unserer Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland läge in ihrem Interesse. Ich glaube, dass unsere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Deutschland unter der Führung von einem Bundeskanzler Olaf Scholz stabil und berechenbar fortgesetzt werden wird. Historisch gesehen pflegen unsere beiden Länder und Völker gute Beziehungen: nicht nur im Bereich der Wirtschaft, sondern auch in den Bereichen der Kultur, der Wissenschaft und nicht zuletzt der Nationalitätenpolitik, denn Ungarn hat eine große deutschsprachige Minderheit. Diese tausend Jahre alte Beziehung zwischen unseren beiden Ländern muss stabil genug sein, um einige kalte Winde zu überstehen.

Yann Caspar: Ich habe den Eindruck – auch wenn es für viele überraschend ist –, dass die SPD – oder zumindest Teile der SPD – in einigen Bereichen viel russlandfreundlicher sei als die CDU. Die Grünen hingegen haben sich aktiv gegen das Nord Stream-Gasprojekt eingesetzt. Besteht die Gefahr, dass der neuen Regierung politische Kräfte angehören, die in diesem Bereich stark gegen Russland eingestellt sind?

Bence Bauer: Die Nord Stream-Frage ist seit langem ein Thema, das die deutsche Politik tief gespalten hat. Das hat damit zu tun, dass der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder im Vorstand von Gazprom sitzt. Auf der anderen Seite hat sich Deutschland – unabhängig von der Couleur der aufeinanderfolgenden Regierungen – immer bemüht, ein angemessenes und pragmatisches kooperatives Verhältnis zu Russland aufrechtzuerhalten – insbesondere im Hinblick auf die wirtschaftlichen Beziehungen. Trotzdem gibt es in der deutschen Politik einen internen Graben: Vor allem der aktive Flügel der Grünen – aber auch einige CDU-Politiker – stehen dem Nord Stream-Projekt sehr kritisch gegenüber. Doch je kälter es wird, desto mehr werden sich Pragmatismus und Realismus durchsetzen, und desto schwerer fällt es mir, mir vorzustellen, dass diese Pipeline ernsthafte Probleme aufwerfen würde.

Yann Caspar: Wie steht Olaf Scholz zu dieser Frage?

Bence Bauer: Olaf Scholz ist ein Realpolitiker, der keine Revolution anzetteln oder den Verhandlungstisch auf den Kopf stellen wird. Es ist möglich, dass einige Akzente anders gesetzt werden – vor allem wegen der Teilnahme der Grünen –, aber selbst wenn der sozialdemokratische Kandidat am Ende Kanzler wird, würde ich keine großen Veränderungen erwarten.

Yann Caspar: Und doch haben Sie kürzlich geschrieben, dass die deutsche Gesellschaft in den letzten Jahren linker geworden sei.

Bence Bauer: Das ist in der Tat der Fall: Die deutsche Gesellschaft ist nach links gerückt. Dies spiegelt sich in den Debatten in der breiten Öffentlichkeit bzw. in akademischen Kreisen wider. Die deutsche Gesellschaft insgesamt steht jedoch immer noch mit beiden Füßen auf der Erde: Extremistisches Gedankengut ist glücklicherweise weit davon entfernt, eine Mehrheit zu bilden. Ich denke, dass die meisten Menschen in Deutschland, wie auch anderswo, in Sicherheit leben und eine vorhersehbare Zukunft für ihre Kinder aufbauen wollen. Natürlich gibt es immer eine vernachlässigbare Minderheit, die andere Ziele verfolgt, aber die Frage ist, ob diese Minderheit in der Lage ist, der Mehrheit ihre Meinung aufzuzwingen. Im Bereich des politisch orientierten Mediendiskurses in Deutschland sehen wir, dass diese Minderheit eine aggressive Propaganda betreibt – auch deshalb brauchen wir ausgewogene Informationsquellen über die Länder der Visegrád-Gruppe, wie eben Ihre Visegrád Post.

Yann Caspar: Sprechen wir nun über die AfD. Die AfD ist aus diesen Wahlen in allen Bundesländern mit Ausnahme von Sachsen und Thüringen geschwächt hervorgegangen. Aber in diesen beiden Bundesländern ist die AfD deutlich gestärkt aus den Wahlen hervorgegangen. Wie ist das zu erklären?

Bence Bauer: Die deutsche politische Landschaft zeigt, dass der Osten Deutschlands beträchtlich blauer geworden ist: Die AfD hat dort gerade 16 Wahlkreise gewonnen, vor vier Jahren waren es nur drei. Da Deutschland ein Verhältniswahlsystem hat, sind diese Ergebnisse nicht repräsentativ für den nationalen Durchschnitt pro Liste und übrigens auch nicht für die nationale Bedeutung dieser Partei. Diesmal konnte die AfD aufgrund einer starken Schwächung der CDU mehr Wahlkreise gewinnen. Meiner Meinung nach hat die AfD ihren Zenit bereits erreicht: Ihr Wachstumspotenzial ist nahezu ausgeschöpft. Die Konflikte innerhalb der Partei nehmen zu – insbesondere mit einem Flügel, der sich zunehmend radikalisiert. Die Delegierten der Partei werden im Herbst zusammenkommen, und alles, auch eine Spaltung der Partei, ist denkbar. Dies ist kein ungewöhnliches Phänomen, insbesondere bei rechtspopulistischen Parteien. In Österreich ist dies zum Beispiel mit der FPÖ unter Jörg Haider geschehen.

Yann Caspar: Laut einer aktuellen Umfrage sind die Deutschen der Meinung, dass sie in den letzten 18 Monaten viel Freiheit verloren haben – natürlich  wegen der Covid-Maßnahmen. Ich verstehe, dass die FDP dazu eine kritische Haltung hat – sozusagen die Haltung der Liberalen im klassischen Sinne (nicht im Sinne des liberalen Aktivismus). Nun haben sie aber gute Ergebnisse erzielt. Was halten Sie davon?

Bence Bauer: Um die Ereignisse besser zu verstehen, kann es nützlich sein, einige Dinge im Voraus zu klären. Wenn es um die FDP geht, begnügen sich viele mit dem Adjektiv „liberal“, aber die Verbindung „liberal-bürgerlich“ ist aussagekräftiger, weil es sich um eine Partei handelt, die sich eindeutig als rechts definiert. Die Art der Krisenbewältigung, für die sich die ungarische Regierung entschieden hat – Vorrang für den Impfstoff und für die Aufrechterhaltung einer funktionierenden Wirtschaft – ist die Art der Krisenbewältigung, für die die FDP eintritt. Dadurch hat ihr politisches Angebot ein unverwechselbares Profil erhalten, das sie vor allem bei jungen Menschen beliebt gemacht hat. In der Altersgruppe der Erstwähler war die FDP die erste Wahl, sogar vor den Grünen. Das zeigt uns unter anderem, dass die jungen Deutschen eine selbstbewusste Generation sind, die die Nase voll hat von einer politischen Klasse, die auf die Herausforderungen der Pandemie nur mit Lockdowns reagieren kann. Als das Virus zum ersten Mal auftrat, da es keine Alternative gab, so war ein Lockdown notwendig, aber jetzt, da der Impfstoff verfügbar ist, können wir nicht mehr so weitermachen wie bisher. Das ist die Idee des gesunden Menschenverstands, die die FDP formulieren konnte – übrigens in diesem Fall als einzige deutsche Partei, denn alle anderen, angefangen bei den Grünen, befürworten die Lockdowns.