Im Schatten des Ukrainekrieges trat ein strittiges politisches Thema in Ungarn in den Hintergrund. Am 3. April, zeitgleich mit den Parlamentswahlen, wird eine Volksabstimmung über das im Juni 2021 verabschiedete Kinderschutzgesetz abgehalten. Das Ungarische Parlament ordnete am 30. November ein Referendum über das Kinderschutzgesetz an, Staatspräsident János Áder legte schließlich Anfang Januar das Datum des Referendums auf den 3. April fest.

Nationale Volksbefragungen in Form von Referenden besitzen in Ungarn einen hohen politischen Stellenwert. Seit der Wende 1989 wurde die ungarische Bevölkerung mehrfach zu verschiedensten Themen nach ihrer Meinung befragt. Die ersten beiden Befragungen (1989/1990) drehten sich dabei um Fragen des demokratischen Rechtsstaates. Es folgten zwei weitere Abstimmungen zur Integration Ungarns in die euroatlantischen Strukturen 1997 und 2003. Weiterhin initiierte die damals oppositionelle Fidesz 2004 und 2008 zwei Referenden zu Fragen der Staatsbürgerschaft für die ungarische Diaspora respektive zu Fragen der Praxis-, Krankenhaustage- und Studiengebühren. Im Jahr 2016 wurde zudem eine Abstimmung zur EU-weiten Verteilung von Flüchtlingen anberaumt, welche aber die erforderliche 50-Prozent-Beteiligung verfehlte. Mitte des Jahres 2020 wurde in Ungarn eine Befragung durchgeführt, die sich unter anderem mit Migration und der Bewältigung der Corona-Pandemie befasste. Das von der Regierung initiierte Referendum über das Kinderschutzgesetz ist das insgesamt Neunte seit der Wende. Volksabstimmungen können vom Präsidenten, von der Regierung oder von mindestens 100.000 Wahlberechtigten initiiert und vom Parlament angeordnet werden. Ein Referendum gilt als gültig, wenn mehr als 50 Prozent aller registrierten Wähler gültige Stimmen abgegeben haben. Ist die erforderliche Wahlbeteiligung erreicht und stimmen mehr als 50 Prozent der gültigen Stimmen mit „Ja“ oder „Nein“, ist das Referendum angenommen und das Ergebnis verbindlich. Anschließend hat das Parlament 180 Tage Zeit die Entscheidung in ein konkretes Gesetz zu übertragen.

Politische Beobachter verweisen meist im Vorfeld darauf hin, dass es bei diesen Referenden nicht nur um die Sachentscheidung, sondern vor allem um die Mobilisierung der eigenen Anhänger geht. Elemente der direkten Demokratie werden in der Tat oft auch als ein Mittel der politischen Kommunikation eingesetzt und ein etwaiger negativer bzw. positiver Ausgang wird gerne von beiden Seiten des politischen Spektrums instrumentalisiert. Der Termin für das vorliegende Referendum wurde möglicherweise auch deshalb auf den Tag der Wahl gelegt, um eine hohe Beteiligung zu gewährleisten. Dem vorausgegangen war eine Änderung des Referendumsverfahrens im November 2021, auf Vorschlag der oppositionellen Abgeordneten Timea Szabó (Dialog Ungarn), welche einstimmig vom Parlament angenommen wurde. Konkret ging es dabei darum, dass auch innerhalb von 41 Tagen vor und nach Parlaments-, Europaparlaments- und Kommunalwahlen eine Volksbefragung abgehalten werden kann, was zuvor nicht möglich war.

Für das anstehende Referendum beschloss die Regierung vier Fragen zum Sexualkundeunterricht an Schulen und zur Verfügbarkeit von Informationen über die sexuelle Orientierung von Kindern zu stellen. Diese lauten wie folgt:

  1. Sind Sie dafür, dass Kinder in öffentlichen Schulen ohne elterliche Zustimmung an einem Unterricht über sexuelle Orientierungen teilnehmen?
  2. Sind Sie dafür, dass Kindern Informationen über geschlechtsangleichende Behandlungen gegeben werden?
  3. Sind Sie dafür, dass Medieninhalte sexueller Natur, die sich auf die Entwicklung von Kindern auswirken, ihnen ohne Einschränkungen präsentiert werden dürfen?
  4. Sind Sie dafür, dass Medieninhalte, die Geschlechtsumwandlungen darstellen, Kindern gezeigt werden?

Mehrere Vertreter der Opposition, welche das Gesetzespaket zum Kinderschutz als homophob bezeichnen, riefen ihrerseits zum Boykott der Abstimmung auf, damit die erforderliche 50-Prozent-Teilnahme nicht erreicht wird. Eine repräsentative Umfrage des regierungskritischen Median-Institutes ergab Mitte März, dass 41 Prozent der Ungarn nicht beabsichtigen an der Volksbefragung teilzunehmen, überdies will der Erhebung nach etwa die Hälfte der Oppositionswähler eine ungültige Stimme abgeben. Median zufolge wird das Referendum daher nicht die Gültigkeitsvoraussetzungen erreichen, auch wenn die Mehrheit der Ungarn grundsätzlich die Inhalte des Kinderschutzgesetzes unterstützt, wie das Nézőpont-Institut noch kurz nach seiner Verabschiedung ermittelte. Bei einem Interview am 28. März, weniger als eine Woche vor den Wahlen, betonte Viktor Orbán erneut die Wichtigkeit dieses Referendums. „Die Ungarn sind sich des Gender-Wahnsinns im Westen bewusst, der auch an unsere Türen klopft. Es ist fünf vor zwölf, aber das Schiff ist noch nicht abgefahren. Wenn wir hier in Mitteleuropa durchhalten, kann das in ganz Europa Veränderung bringen.“