Vortrag von Dr. Hubertus Knabe am 1.10.2024 in Veszprém.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich danke dem MCC und insbesondere Herrn Bauer für die Einladung nach Veszprém. Ich freue mich sehr, nach langer Zeit wieder einmal in Ungarn unterwegs zu sein, wo ich in den 1980er Jahren zwei Jahre gelebt habe. Mein Ungarisch ist inzwischen leider etwas eingerostet, deswegen bitte ich um Nachsicht, wenn ich auf Deutsch zu Ihnen spreche.

In diesem Jahr ist es 35 Jahre her, dass gewaltige politische Veränderungen in Europa stattfanden:

  • Im Februar 1989 stimmte das Zentralkomitee der Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP) der Einführung eines Mehrparteiensystems in Ungarn zu. Im selben Monat beschloss das Politbüro, den Grenzzaun zu Österreich abzubauen.
  • Ab Juni 1989 kamen deshalb immer mehr DDR-Bürger nach Ungarn, um über die „grüne Grenze“ nach Österreich zu flüchten.
  • Im August 1989 kam es bei einem symbolischen Picknick in Sopron zur größten Massenflucht von DDR-Bürgern seit dem Bau der Berliner Mauer.
  • Im September 1989 öffnete die ungarische Regierung für Zehntausende DDR-Bürger die Grenze nach Österreich.
  • Im Oktober 1989 kam es in Leipzig zur ersten großen regierungskritischen Massendemonstration der DDR, der viele weitere folgten. Der Generalsekretär der SED, Erich Honecker, wurde abgelöst.
  • Im November 1989 erzwangen DDR-Bürger die Öffnung der DDR-Grenze nach West-Berlin und Westdeutschland – der sogenannte Mauerfall. Im selben Monat traten die DDR-Regierung und das SED-Politbüro zurück.
  • Im Dezember 1989 wurde die führende Rolle der Partei aus der DDR-Verfassung gestrichen und ein Runder Tisch aus Vertretern von Regierung und Opposition gebildet. In Leipzig, Erfurt und weiteren Städten wurden die Stasi-Dienststellen besetzt.

In der Folge dieser Ereignisse kam es im März 1990 in der DDR und Ungarn zu freien Wahlen. Im Oktober wurde Deutschland wiedervereinigt, auch in den anderen Ostblockstaaten kamen erstmals frei gewählte Regierungen an die Macht. West- und Osteuropa waren nicht länger durch unterschiedliche militärische Blöcke, politische Systeme und hermetisch gesicherte Grenzen getrennt. Wenn man sich heute in der Welt umschaut, wirkt es immer noch wie ein Wunder, dass die Geschichte so glücklich verlaufen ist.

Zwischen den Regimewechseln in der DDR und Ungarn gab es einen engen Zusammenhang, der in den letzten Jahren etwas in Vergessenheit geraten ist. Die entscheidenden Weichen wurden im Sommer 1989 gestellt. Der Ablauf der Ereignisse ist vielen in groben Zügen bekannt. Ich möchte deshalb heute einen Blick in die einst streng geheimen Unterlagen der Geheimdienste werden. Wie haben sie die Ereignisse wahrgenommen? Und warum haben sie den Sturz der Diktaturen in der DDR und Ungarn nicht verhindert?

  1. Die Zusammenarbeit der Geheimdienste

Um die Situation im Jahr 1989 zu verstehen, muss man zunächst einige historische Fakten in Erinnerung rufen: Ungarn und der Osten Deutschland wurden 1945 von der Roten Armee besetzt. Mit ihr kamen auch die sowjetischen Geheimdienste. Mit deren Hilfe sorgte Stalin dafür, dass 1949 die Volksrepublik Ungarn und die DDR gegründet wurden und in beiden Ländern von Moskau kontrollierte kommunistische Parteien an die Macht kamen. Nach sowjetischem Vorbild schufen sie sich jeweils eine eigene Geheimpolizei. Nach Stalins Tod 1953 wurden diese in das Innenministerium eingegliedert, was in der DDR zwei Jahre später wieder rückgängig gemacht wurde.

Zuständig für den Schutz der kommunistischen Diktaturen in der DDR und Ungarn waren also das ostdeutsche Ministerium für Staatssicherheit und die III. Hauptgruppe des ungarischen Innenministeriums. Ihre Tätigkeit unterschied sich im Grundsatz wenig voneinander, allerdings hatte die ostdeutsche Stasi erheblich mehr Mitarbeiter. Jahrzehntelang arbeiteten beide Dienste eng zusammen. Schon Anfang der 1950er Jahre traf sich der Leiter der Geheimdienstresidentur in der ungarischen Botschaft in Ost-Berlin, Sándor Lakatos, etwa alle 10 bis 12 Tage mit dem damaligen Staatssekretär und späteren Minister für Staatssicherheit Erich Mielke.

Nach der Niederschlagung des Volksaufstands in Ungarn 1956 vereinbarten die sozialistischen Geheimdienste im November 1957 bei einer Konferenz in Moskau, die Zusammenarbeit zu verstärken. Im Mai 1958 trafen sich deshalb Mielke und der ungarische Innenminister Béla Biszku zu mehrtägigen Beratungen und schlossen eine entsprechende Vereinbarung.[1] Fünf Jahre später folgte ein weiteres Abkommen, das die gegenseitige Unterstützung auf nahezu allen Gebieten geheimdienstlicher Arbeit festschrieb:[2] Spionage, Desinformation, Verfolgung von Oppositionellen, Unterwanderung der Kirchen, Entwicklung neuer Überwachungstechnik usw. Die jeweils zuständigen Abteilungen tauschten Tausende ins Russische übersetzte Papiere aus und trafen sich regelmäßig zu gemeinsamen Beratungen. Sogar ein eigenes Verrechnungssystem und einen Urlauberaustausch vereinbarten die beiden Dienste.[3]

Im Oktober 1957 schlossen Ungarn und die DDR zudem ein Rechtshilfeabkommen, das die beiden Geheimdienste in besonderer Weise auslegten: Begingen Ostdeutsche in Ungarn Straftaten, musste der DDR die Auslieferung angeboten werden. Umgekehrt galt dasselbe.[4] In einem Übereinkommen legten Mielke und Biszkus Nachfolger János Pap 1963 fest, dass die von den Geheimdiensten Festgenommenen in Einzelhaft verwahrt und spätestens nach 30 Tagen auf dem Luftweg ausgeliefert werden sollten.[5]

Was anfangs eher theoretisch galt – so viele Verhaftungen von Bürgern des jeweils anderen Landes gab es nicht – nahm im Laufe der Zeit immer größere Ausmaße an. Seit der beiderseitigen Aufhebung der Visapflicht für Privatreisen im Jahr 1963 stieg die Zahl der DDR-Bürger, die nach Ungarn fuhren, nämlich stark. Lag sie 1961 noch bei 41.000, betrug sie 1980 1,1 und 1989 sogar 1,3 Millionen. Für viele Ostdeutsche war Ungarn eine Art sozialistisches Italien, mit Sonne, Wein und einem weniger strengen Staat. Mit der Zahl der Touristen stieg aber auch die Zahl der Fluchtversuche – weil in der DDR die Ansicht vorherrschte, die ungarischen Grenzen seien weniger stark bewacht als die der DDR.

Registrierten die Behörden 1963 noch 62 Versuche, die Grenze ohne Genehmigung zu übertreten, waren es 1972 bereits 339 und 1987 sogar 413. 1988 erhöhte sich die Zahl weiter auf 762 und im ersten Quartal des Jahres 1989 steigerte sie sich noch einmal auf fast das Dreifache des Vorjahrs. 1988 gelang 210 Personen über Ungarn die Flucht in den Westen.

Um den „Missbrauch des Reiseverkehrs“ zu unterbinden, arbeiteten die beiden Geheimdienste eng zusammen. Gemeinsam kämpften sie gegen Fluchthelfer, die DDR-Bürger mit gefälschten Pässen, in umgebauten Wohnwagen oder im Kofferraum aus Ungarn ungesehen in den Westen bringen wollten. Gleichzeitig wollten sie die ungarischen Grenzen immer perfekter verschließen. Die Stasi übergab dazu nicht nur Schulungsmaterial für die Grenzwachen, sondern untersuchte auch jede gelungene Flucht, um verbliebene Schlupflöcher zu schließen. Ende der 1960er Jahre hatte Ungarn an der österreichischen Grenze Stacheldraht und Minenfelder durch einen etwa zwei Kilometer zurückgesetzten Signalzaun namens „SZ-100“ ersetzt. Der Zaun war so gebaut, dass, wenn man ihn überstieg oder ein Loch hineinschnitt, sofort Alarm ausgelöst wurde. Dann rückten ungarische Soldaten aus, um den Grenzgänger festzunehmen, noch bevor er Österreich erreichen konnte. Die Berliner Mauer wurde auf diese Weise gleichsam bis nach Sopron verlängert.

Wie aus einer Statistik aus dem Jahr 1987 hervorgeht, gelang es dem ungarischen Innenministerium, rund 80 Prozent der DDR-Flüchtlinge festzunehmen, Sie wurden nach Budapest in das Gefängnis an der Gyórskocsistraße gebracht und nach kurzem Verhör dem Staatssicherheitsdienst übergeben. Mitarbeiter der Abteilung XIV flogen sie anschließend mit Interflug-Maschinen nach Ost-Berlin aus, wo sie mit einem Gefangenentransporter in die Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen gebracht wurden.

 

  1. Die Balaton-Brigade

Die Stasi wollte Fluchtversuche allerdings möglichst schon im Vorfeld verhindern. Dazu sammelte sie alle Hinweise über DDR-Bürger, die mit dem Gedanken spielten, ihr Land illegal zu verlassen. Seit 1964 schickte sie auch eine sogenannte Operativgruppe nach Ungarn, die mit Wissen der ungarischen Geheimpolizei DDR-Bürger auch dort überwachte. Sie war als Vertretung des DDR-Reisebüros getarnt und bestand zuletzt aus sieben Offizieren, die ihr Büro im Obergeschoss einer Budapester Villa hatten. In der Urlaubssaison waren drei von ihnen auch in Veszprém, Siófok und Hévíz stationiert, weshalb ihnen der Schriftsteller György Dalos den Namen „Balaton-Brigade“ verlieh. Das ungarische Innenministerium stellte ihnen dort – gegen Entgelt – entsprechende Arbeitsquartiere zur Verfügung. Die Operativgruppe besaß zudem fünf Pkw und einen eigenen Parkplatz am Budapester Flughafen Ferihegy. Während DDR-Urlauber maximal 360 DDR-Mark in lediglich 2190 Forint umtauschen durften, standen der Operativgruppe 1988 „Operativgelder“ in Höhe von 1,6 Millionen Forint zur Verfügung. Mehr über die Arbeit der Operativgruppe erfährt man aus der Diplomarbeit von Holger Baldauf, der diese von 1983-1987 leitete.[6]

Um die DDR-Urlauber auch in Ungarn zu überwachen, warb die Operativgruppe Dutzende Informanten an. Sie rekrutierte diese vor allem in den Vertretungen des DDR-Reisebüros am Balaton, unter ostdeutschen Saisonkräften sowie unter DDR-Bürgern, die dauerhaft in Ungarn lebten. Ungarische Staatsbürger durfte die Stasi dagegen nicht anwerben. Zuletzt arbeiteten für die Operativgruppe 23 Inoffizielle Mitarbeiter (IM) und 43 sogenannte Kurzzeit-IM. Zusätzlich schickte der Staatssicherheitsdienst im Sommer junge hauptamtliche Mitarbeiter an den Balaton, die dort auf Stasi-Kosten zelteten, um Camping-Urlauber zu bespitzeln. Selbst Stasi-Offiziere, die in Ungarn Urlaub machen wollten, mussten der Operativgruppe vorab als Zuträger gemeldet werden – „unter Beachtung der zumutbaren Belastungen während des Urlaubsaufenthaltes“, wie es in der Diplomarbeit heißt.

Im Fokus standen dabei vor allem die Kontakte zu Westdeutschen. Denn auch die entdeckten Ungarn als Reiseland. Lag ihre Zahl 1961 noch bei 10.000, stieg sie bis 1980 auf 400.000 und bis 1989 sogar auf 1,4 Millionen. Auf Campingplätzen, in Hotels und Restaurants sowie bei touristischen Ausflügen trafen sich Deutsche aus Ost und West in ungewohnter Freizügigkeit. Während Westdeutsche ihre DDR-Verwandten zum gemeinsamen Familienurlaub einluden, organisierten Kirchen und Studentenverbände gesamtdeutsche Ferienlager. Es wundert nicht, dass dabei auch Gedanken aufkamen, wie man die DDR verlassen könnte.

Vor diesem Hintergrund erhielten die Stasi-Informanten sogenannte Kontrollaufträge, um Urlauber gezielt zu überwachen. Ihre Berichte enthielten allerdings vielfach nur Banalitäten. So beobachtete ein IM mit dem Decknamen „Peter Schäfer“ den Tagesablauf zweier Familien aus Ost und West. Seinem Führungsoffizier berichtete er, dass die männlichen Personen nachmittags „mit Surfen und anderen wassersportlichen Tätigkeiten“ befasst gewesen seien. „Die weiblichen Personen waren mit Tätigkeiten um und im Objekt befasst und sonnten sich.“

Bei der Überwachung erhielt die Stasi vom Budapester Geheimdienst umfangreiche Unterstützung. Wenn DDR-Bürger aus Ungarn in die Bundesrepublik schrieben, wurden ihre Briefe abgefangen und dem Staatssicherheitsdienst übergeben – rund 1200 Briefe und Postkarten allein im Jahr 1988. Umgekehrt informierte die Stasi regelmäßig über geplante Fluchten und bat um die Kontrolle verdächtiger Personen.

Die Zusammenarbeit der beiden Dienste stieß in den 1980er Jahren allerdings zunehmend an Grenzen. Wegen des Anstiegs der Touristenzahlen war eine umfassende Kontrolle nicht mehr zu leisten. Ein zusätzliches Handicap war, dass sich DDR-Bürger ihre Quartiere oftmals selbst besorgten. Da sie sich in Ungarn nicht anmelden mussten, waren sie dann häufig weder für die Stasi noch für die ungarische Polizei aufzufinden.

Im Laufe der Zeit wurde die Zusammenarbeit zwischen den beiden Geheimdiensten immer asymmetrischer. So richtete die Stasi 1988 263 Anfragen an die Ungarn, während diese in den beiden Jahren 1987/88 zusammen lediglich 26 Ersuchen stellten. Noch größer war der Unterschied bei den Auslieferungen: Während Ungarn 1988 397 DDR-Bürger übergab, überstellte die Stasi ganze vier ungarische Staatsbürger. Als der Chef des ungarischen Geheimdienstes einmal an einem einzigen Tag 26 Stasi-Anfragen in seiner Postmappe fand, platzte ihm regelrecht der Kragen. Einem Vermerk zufolge forderte er, der Staatssicherheitsdienst sollte „seine Probleme zu Hause klären und seine Probleme nicht auf Ungarn schieben.“

In dieser Zeit verlor der ungarische Geheimdienst im eigenen Land massiv an politischer Unterstützung. Die reformorientierte Regierung unter Miklós Németh, der im November 1988 Ministerpräsident geworden war, hielt viele seiner Aktivitäten für überflüssig. Németh berichtete später, dass er die täglichen Geheimdienst-Berichte bald gar nicht mehr gelesen habe, weil ihm dafür die Zeit gefehlt habe. Anfang 1989 bat der Leiter der Internationalen Abteilung des ungarischen Innenministeriums, József Varga, die jährlichen Konsultationen mit dem DDR-Staatssicherheitsdienst auf März vorzuziehen – später gebe es keine Mittel mehr dafür. Bei dem Treffen in Ost-Berlin eröffnete er der Stasi, dass in Ungarn eine Entwicklung eingesetzt habe, die „letztlich dazu führen wird, dass die Grundlagen des sozialistischen Staates Schritt für Schritt beseitigt werden.“ Bewährte Tschekisten würden in den Ruhestand versetzt, wodurch ihr Einfluss auf die Arbeit des Dienstes eliminiert werde. Er selbst werde aus diesem Grund vorzeitig in Pension gehen. „Die Genossen der Sicherheitsorgane sehen derzeit keine Möglichkeit, eine Umkehr dieses Prozesses zu erreichen,“ heißt es in dem Vermerk der Stasi.

Wenig später wurde der ungarische Geheimdienst der Kontrolle der Staatspartei MSZMP entzogen und der Regierung unterstellt. In Interviews versicherten die Verantwortlichen, dass sie sich jetzt nur noch mit echten Bedrohungen der inneren Sicherheit, etwa durch Drogen- oder Waffenhandel, befassen wollten. Die Grenzbewachung wurde aus dem Geheimdienst ausgegliedert und die Zahl seiner Mitarbeiter reduziert. Anfang August schüttete der ungarische Verbindungsoffizier in Siofok dem lokalen Stasi-Residenten sein Herz aus. Mehrere hundert Mitarbeiter der Abwehr-Diensteinheiten seien „zur Untätigkeit verurteilt“, heißt es in dem anschließend gefertigten Vermerk. Viele seien verunsichert und hätten Angst um ihren Arbeitsplatz. Vornehmlich aus Angst bäten viele Mitarbeiter um ihre Entlassung und suchten sich eine andere Tätigkeit.[7]

 

  1. Der Abbau des Eisernen Vorhangs

Dass das Budapester Innenministerium als verlängerter Arm der Stasi fungieren sollte, war vor diesem Hintergrund immer schwerer einzusehen. Auch für das aufwändige Grenzregime gab es keinen Grund mehr, denn seit Januar 1988 durften ungarische Staatsbürger mit einem sogenannten Weltpass jederzeit ins westliche Ausland fahren. Die Absperrungen waren zudem störanfällig und marode geworden, so dass sie ständig Fehlalarm auslösten. Bereits 1987 war der Kommandant der ungarischen Grenztruppen, János Székely, in einem Inspektionsbericht zu dem Ergebnis gekommen, dass die Sperranlagen „sachlich, politisch und auch moralisch veraltet“ seien. Ihre Sanierung würde mindestens 500 Millionen Forint kosten.

Am 28. Februar 1989 beschloss deshalb das ungarische Politbüro, den Grenzzaun abzubauen. Das ungarische Innenministerium beruhigte jedoch die Stasi, dass der Abbau durch „verstärkte Tiefensicherung“ und „Streifentätigkeit“ kompensiert werde. Die Demontage des Signalzauns schritt so schnell voran, dass für den Fototermin der Außenminister Mock und Horn am 27. Juni ein 200 Meter langer Abschnitt wieder aufgebaut werden musste.

Zum Abriss der Grenzanlagen kam noch eine weitere Entwicklung. Wegen der wachsenden Zahl von Flüchtlingen aus Rumänien – 8.000 im Jahr 1988 und 19.000 im Jahr 1989 – trat Ungarn am 12. März der Genfer Flüchtlingskonvention bei. Artikel 33 verbietet es, Flüchtlinge in ein Land zurückzuschicken, in dem sie von Verfolgung bedroht sind. Das UN-Flüchtlingshilfswerk hilft zugleich bei ihrer Versorgung. Die Stasi unterschätzte offensichtlich, dass dies auch Auswirkungen auf die DDR haben könnte. Erst am 12. Juni, dem Tag des Inkrafttretens, erschien in Budapest eine Stasi-Delegation, um über die möglichen Folgen zu sprechen. Das ungarische Innenministerium sicherte ihr zwar zu, DDR-Bürger weder als Flüchtlinge anzuerkennen noch in den Westen ausreisen zu lassen. Es erklärte aber auch, dass die an den Grenzen gefassten Ostdeutschen wegen der in Ungarn eingetroffenen UN-Mitarbeiter nicht mehr an die DDR ausgeliefert werden würden.

Wie mit den DDR-Flüchtlingen in Zukunft umgegangen werden würde, war den ungarischen Verantwortlichen zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht klar. Innerhalb der Regierung gab es verschiedene Standpunkte. DDR-Bürger, die im Frühjahr 1989 verhaftet und ausgeliefert worden waren, berichteten der Stasi, dass ihnen ihr ungarischer Vernehmer selbst empfohlen hätte, den Flüchtlingsstatus zu beantragen. Er könne aber nicht garantieren, dass dem Antrag stattgegeben werden würde. In dem erwähnten Gespräch in Siofok vertrat der ungarische Verbindungsoffizier Anfang August die Meinung, „daß in absehbarer Zeit auch Bürger der DDR, wenn sie darum bitten, als politisch Verfolgte (in der UVR) anerkannt werden und Aufnahme in den Flüchtlingslagern finden.“

 

  1. Die große Fluchtwelle

In Ostdeutschland wurden die Berichte über den Abbau des Eisernen Vorhangs aufmerksam verfolgt. Nach einem Bericht des Bundesnachrichtendienstes war es bereits im Frühjahr 1989 im Politbüro der SED zu einer Diskussion über die Folgen des Abbaus der Grenzanlagen in Ungarn gekommen. Innenminister Friedrich Dickel hätte dabei empfohlen, die Zahl der Reisegenehmigungen nach Ungarn umgehend zu reduzieren, da mit vermehrten Fluchtversuchen zu rechnen sei. Auf Anraten von Stasi-Minister Mielke habe das Politbüro aber auf Reisebeschränkungen verzichtet, da nach Einschätzung der Stasi dadurch innere Unruhen in der DDR hätten ausgelöst werden können. Mielke habe dies für wesentlich problematischer gehalten als ein eventuelles Ansteigen der Flüchtlingszahlen.[8]

Auch in der Bevölkerung war die Grenzöffnung Thema. Während einige die Hoffnung damit verbanden, jetzt möglicherweise leichter über die ungarische „grüne Grenze“ in die Bundesrepublik zu gelangen, fürchteten viele, dass die SED Reisen nach Ungarn verbieten könnte. Bereits am 17. Mai 1989 meldete die Stasi, dass sich in der Bevölkerung „Gerüchte und Spekulationen über zu erwartende drastische Einschränkungen im Reiseverkehr“ erheblich verstärkt hätten. Auch „progressive Kräfte“ brächten zum Teil „spontan und emotional“ ihre Ablehnung solcher Maßnahmen zum Ausdruck. Hunderttausende Ostdeutsche bangten um ihre Sommerferien am Balaton. Um sie zu beruhigen, beraumte der DDR-Botschafter in Budapest am 24. Mai eigens eine Pressekonferenz an, auf der er die Gerüchte kategorisch zurückzuwies.

So kam es, dass sich im Sommer 1989 eine Karawane von DDR-Bürgern auf den Weg nach Ungarn machte. Die Stasi nahm sich zwar vor, verstärkt „Ersthinweise auf beabsichtigtes ungesetzliches Verlassen der DDR“ zu erarbeiten. Auf diese Weise sollte sie verhindern, dass Fluchtwillige eine Reisegenehmigung erhielten. Zudem sollte der „Filtrierungsprozesses an den Grenzen“ verbessert werden, um Verdächtige „aus den Reiseströmen herauszulösen“. Doch angesichts der großen Zahl von Reisenden und des kurzen zeitlichen Vorlaufs war es unmöglich, die Unzufriedenen alle auszusortieren.

Dass es neben den Botschaftsbesetzungen in Warschau, Prag und Ost-Berlin in Ungarn zu einem mengenmäßig weit größeren Flüchtlingsproblem kommen würde, zeichnete sich jedoch erst allmählich ab. Schon nach den ersten Nachrichten über die Grenzöffnung hatten viele DDR-Bürger sicherheitshalber einen Antrag auf Genehmigung einer Ungarn-Reise bei der DDR-Polizei gestellt. Nach und nach entstand vor allem bei jungen Ostdeutschen eine Art Torschlusspanik und das Gefühl: Jetzt oder nie. Im August meldeten die ungarischen Behörden einen sprunghaften Anstieg der Fluchtversuche. DDR-Bürger, die an den Grenzen gefasst wurden, kamen nun nicht mehr in Haft und versuchten deshalb den Übertritt häufig noch einmal woanders. Viele begaben sich auch in die Deutsche Botschaft in Budapest, um dort ihre Ausreise zu verlangen.

Auf diese Weise füllte sich Ungarn nach und nach mit immer mehr fluchtwilligen DDR-Bürgern. Bereits am 14. August musste die Botschaft wegen Überfüllung schließen. Hunderte DDR-Bürger campierten nun vor dem Gebäude, so dass die Malteser im Garten der Zugliget-Kirche ein Zeltlager für sie errichteten. Am Balaton entstanden weitere Flüchtlingslager. Anfang September lag die Zahl der Flüchtlinge in den Lagern bereits bei 3500. Viele zelteten aber auch einfach am Straßenrand. Ministerpräsident Németh, der den Sommer gern am Balaton verbrachte und die Zelte sah, wusste, dass es spätestens Ende September zunehmend kalt werden würde.

Nach ergebnislosen Verhandlungen mit einer Abordnung des Staatssicherheitsdienstes beschloss die ungarische Regierung, der DDR ein Ultimatum zu setzen: Sollte sie ihre Bürger nicht durch Ausreisezusagen zur Rückkehr bewegen, würde Ungarn die Ostdeutschen über die Grenze lassen. Am 25. August flogen Németh und sein Außenminister Horn zu einem geheimen Treffen nach Bonn, wo sie Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher über den Plan informierten. Kohl, so erinnerte sich Németh in einem Interview, habe Tränen in den Augen gehabt.[9]

Über den Ernst der Lage war sich die Stasi aber offenbar immer noch nicht im Klaren. Ende August versicherten die Leiter der Stasi-Bezirksverwaltungen dem Minister für Staatssicherheit bei einer Beratung, die Lage sei „stabil“ und man habe „alles im Griff“. Als der Geraer Stasi-Chef irgendwann auf die „Ungarnprobleme“ und „die hohe Anzahl der Verbleiber“ zu sprechen kam, merkte er an, dass dies „doch viele auch progressive Kräfte nachdenklich“ stimme. Mielke unterbrach ihn daraufhin und fragte: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“ Die Antwort des Oberst: „Der ist morgen nicht, Genosse Minister, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da.“

Am 31. August 1989 reiste der ungarische Außenminister Horn zu seinem ostdeutschen Amtskollegen Oskar Fischer. Sein Land sei nicht länger bereit hinzunehmen, dass in Ungarn rund 10.000 DDR-Bürger auf eine Ausreisemöglichkeit warteten. Die DDR-Regierung solle erklären, dass sie deren Anträge auf Ausreise wohlwollend bearbeiten werde, wenn die Antragsteller nach Hause zurückkehrten, ansonsten werde man die Grenzen am 4. September öffnen. Weil sich die SED-Führung nicht dazu bereit erklärte, kündigte Horn schließlich an, dass Ungarn die Ostdeutschen ausreisen lasse – eine Woche später, als ursprünglich geplant, um der DDR noch die Chance zu geben, „konstruktive Lösungen“ zu finden.

Am Abend des 10. September war es dann so weit. Die ungarische Regierung teilte mit, dass die ostdeutschen Flüchtlinge ab Mitternacht ausreisen dürften. Zuvor hatte sie unter Berufung auf eine Notlage die dem entgegenstehenden Artikel des Abkommens über die Visafreiheit fristlos gekündigt. Noch in derselben Nacht rollten Hunderte DDR-Fahrzeuge über die Grenze. Viele DDR-Bürger brachen kurzentschlossen ihren Urlaub ab und ließen sogar ihre Zelte und Autos stehen, um mit bereitgestellten Bussen so schnell wie möglich nach Österreich zu gelangen.

Als am nächsten Tag das Politbüro der SED zusammentrat, herrschte unter den greisen Funktionären Ratlosigkeit. Da Parteichef Honecker sich von einer Krebsoperation erholen musste, wurde die Sitzung vom ZK-Sekretär für Wirtschaft, Günter Mittag, geleitet. Einer Mitschrift zufolge kommentierte er die Massenausreise mit den Worten: „Die erste Frage ist für mich, das Loch zuzumachen, um keine neuen Sachen anlaufen zu lassen.“ Doch wie dies geschehen sollte, wusste er nicht zu sagen. „Wieso müssen die wackligen Kandidaten fahren?“, fragte er in die Runde, um sogleich hinzuzufügen, Reisesperren dürften „allerdings nicht unsere Partei und die Masse der Bevölkerung betreffen. Wir würden sie verärgern.“

Der Plan des Politbüros, kritische DDR-Bürger nicht mehr nach Ungarn fahren zu lassen, den Mielke umgehend in einen Maßnahmeplan übersetzte, erwies sich letztlich als Bumerang. Die Ausreiseantragsteller machten ihrer Unzufriedenheit nun zu Hause Luft und gingen gemeinsam mit Oppositionellen auf die Straße. Mit Massendemonstrationen zwangen sie die SED schrittweise zum Rückzug, bis am 9. November nach einer missverständlichen Pressekonferenz Hunderte zu den Grenzübergängen der DDR strömten. Gegen 23.30 Uhr wurde der Schlagbaum an der Bornholmer Straße in Berlin geöffnet. Der lange Umweg über Ungarn war nun n

 

[1] Vereinbarung über die operative Zusammenarbeit zwischen dem Ministerium für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik und dem Ministerium des Innern der Volksrepublik Ungarn, 22.05.1958, BuArch/BStU MfS MfS Abt. X Nr. 1778.

[2] Vereinbarung über die weitere Entwicklung der Zusammenarbeit mit dem ungarischen Innenministerium, BuArch/BStU MfS MfS Abt. X Nr. 1780.

[3] Zuständig für die Kooperation mit Ungarn war beim MfS die Abteilung X. Sie wurde 1956 gegründet, war dem Minister Mielke direkt unterstellt und wurde bis zur Auflösung des MfS von Willi Damm geleitet. Mit zuletzt 46 hauptamtlichen Mitarbeitern handelte es sich um eine der kleinsten Diensteinheiten des MfS. Sie war selber nicht nachrichtendienstlich tätig und ähnelte eher einer Poststelle mit angeschlossenem Übersetzerbüro. Beim ungarischen Innenministerium war für die internationalen Beziehungen die 10. Abteilung der Generaldirektion III/II verantwortlich, die lange Zeit bei der Spionageabwehr angesiedelt war. Sie wurde ebenfalls 1956 gegründet und von 1959 bis 1962 von Gyula Gazdik, von 1965 bis 1976 vom ehemaligen Leiter der ungarischen Operativgruppe in Ost-Berlin Sándor Markus und von 1986 bis 1989 von Dr. János Varga geleitet. Ab 1986 war die internationale Zusammenarbeit im Sekretariat des stellvertretenden Ministers für Staatssicherheit angesiedelt und wurde dort von János Roszol gelenkt.

[4] Gesetz über den Vertrag zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Ungarischen

Volksrepublik vom 30. Oktober 1957 über den Rechtsverkehr in Zivil-, Familien- und

Strafsachen, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Teil 1. 1958, Nr. 21, 277–298.

[5] Allgemeine Schrift Nr. 0/00 der/des MfS, Mielke, Minister vom 18.09.1963 betr. Übereinkommen des MfS der DDR und des MdI der VR Ungarn über die Zusammenarbeit beider Organe bei den sich aus dem Rechtshilfevertrag vom 30.10.57 ergebenden Aufgaben; BuArch/BStU MfS BdL-Dok 9051. Gem. dienstl. Bestimmung Nr. 0/00 der/des MfS der DDR; MdI der Volksrepublik Ungarn vom 01.10.1964 betr. Vereinbarung des Ministers für Staatssicherheit der DDR mit dem Minister des Innern der Volksrepublik Ungarn in Übereinstimmung mit den Ministern der Justiz sowie der Generalstaatsanwälte beider Staaten über die Ergänzung der Bestimmungen des Abschnittes III des Rechtshilfevertrages zwischen der DDR und der UVR vom 23.06.1963; BuArch/BStU MfS BdL-Dok 8897.

[6] Hauptmann Holger Baldauf, Ausgewählte Aufgaben und Bedingungen für die Qualifizierung und Intensivierung der Arbeit einer Operativgruppe der Hauptabteilung VI, dargestellt an der Operativgruppe in der UVR, Diplomarbeit; BStU/BuArch MfS JHS MF 5502.

[7] Information über ein Gespräch mit dem ungarischen Verbindungsoffizier in Siofok vom 16.08.1989; BuArch/BStU MfS ZAIG 14182.

[8] BND: 25 Jahre Mauerfall, Dokumente aus den Akten des BND, Nr. 8, Dokument 20, S. 36.

 

[9] „Es gab nur eine Lösung – die vollständige Öffnung der Grenze“, in: Preußische Allgemeine vom 08.09.2024; https://paz.de/artikel/es-gab-nur-eine-loesung-die-vollstaendige-oeffnung-der-grenze-a12298.html (letzter Zugriff: 29.10.2024).