Am 15. März 1848 begann die ungarische Revolution gegen die Vorherrschaft der Habsburger. Was in einem blutigen Unabhängigkeitskrieg mündete, der schließlich mit dem Beistand der Zaristischen Armee niedergeschlagen wurde, gilt seitdem als einer der Marksteine der ungarischen Nationswerdung. Der 15. März bildet neben dem Gedenken an den Ungarnaufstand 1956 (23. Oktober) und der Feier der Staatsgründung (20. August) den dritten Staatsfeiertag in Ungarn. Jedes Jahr versammeln sich an jenem Tage hunderttausende Ungarn innerhalb und jenseits der Staatsgrenzen, um der Revolution und ihrer Anführer von 1848 zu gedenken und die damals ausgerufenen Werte und Forderungen hochzuhalten. Angesichts der nahenden Parlamentswahlen am 3. April trat bei den diesjährigen Feierlichkeiten der politische Schlagabtausch zwischen den Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten in den Vordergrund; auf der einen Seite Regierungschef Orbán, auf der anderen Kontrahent Péter Márki-Zay.
Viktor Orbán hielt am Nachmittag seine Rede vor dem Parlament auf dem zentralen Kossuth-Platz, wohin Schätzungen zufolge mehrere Hunderttausend Ungarn eintrafen. Diese versammelten sich bereits mehr als drei Stunden vorher am Fuße der Margarethenbrücke, um beim sogenannten „Friedensmarsch“ durch das Regierungsviertel kommend zum politischen Herzen Ungarns zu laufen. Dabei schwenkten sie neben Myriaden von Ungarn-Fahnen auch die Flagge der Szekler, die inzwischen zum Symbol für die Unterstützung der Ungarn jenseits der Grenzen geworden ist, zeigten Fidesz-Plakate und hielten Banner hoch mit Schriftzügen wie „No War“ oder „Unsere Heimat vor allem“. Auch waren mehrere deutsche, italienische und spanische Fahnen zu sehen; so nahm eine große Delegation der nationalkonservativen italienischen Gewerkschaft UGL und der spanischen Gewerkschaft Solidaridad am Nationalfeiertag teil. Angesichts des zuletzt wegen des Russisch-Ukrainischen Konflikts etwas abgekühlten Verhältnisses zwischen Polen und Ungarn waren dieses Mal – der Tradition der vergangenen Jahre entgegen – vergleichsweise wenige Polen beim Friedensmarsch zugegen.
Der Krieg in der Ukraine war sodann einer der zentralen Themen der Rede von Orbán. Orbán betonte, Ungarn müsse sich aus diesem Krieg heraushalten, denn wer auch immer gewinne, verlieren würde dabei Ungarn. Er beschuldigte zugleich das Oppositionsbündnis, ungarische Soldaten und Waffen an die Front schicken zu wollen, womit diese Ungarn und die ungarische Minderheit in der Karpatenukraine zur militärischen Zielscheibe machen würde. „Die friedensstiftende Rechte oder die kriegstreiberische Linke? Aufbau oder Zerstörung? Vorwärts oder rückwärts? Wir sagen, bewahren wir den Frieden und die Sicherheit Ungarns. Wer für den Frieden und die Sicherheit stimmt, der stimmt für Fidesz“.
Zugleich führt Ungarn eine der größten humanitären Hilfsaktionen seiner Geschichte durch –Ungarn hilft den Flüchtlingen, lehnt aber die Migration ab, sagte Orbán. Der Ministerpräsident setzte hinzu, dass dieser Krieg nie hätte stattfinden dürfen, dass Ungarn jedoch für den Frieden alles in seiner Macht Stehende getan hätte. Damit in Ungarn, dem Land der „einfallsreichsten Erfinder“ in dem die „schönste Sprache der Welt“ gesprochen werde, Friede, Freiheit und Einheit walten könne, müsse es wiederum ein starkes Land sein. „Deshalb unterstützen wir die Familien und deshalb haben wir eine Million neuer Arbeitsplätze geschaffen. Deshalb haben wir die Multis besteuert, haben die Energiekosten Fgesenkt, und deshalb haben wir den IWF nach Hause geschickt.“ Zudem sei es wichtig, erklärte Orbán, das am Tage der Wahlen zugleich stattfindende Referendum über das Kinderschutzgesetz für sich zu entscheiden, um den von Westeuropa her drohenden „Genderwahnsinn“ zu stoppen. Mit den patriotischen Worten „Die Fahnen hoch, der liebe Gott über uns, Ungarn vor allem, vorwärts Ungarn!“ schloss Orbán seine Rede, die 33 Minuten dauerte und 25-mal vom Jubel der Menge unterbrochen wurde.
Auf der anderen Seite der Donau, just entlang der Gebäude der Technischen Universität, versammelte das Oppositionsbündnis ihrerseits zehntausende Anhänger, blieb jedoch zahlenmäßig weit hinter dem Aufgebot des Friedensmarsches zurück. Den Auftakt der Veranstaltung machte der Pastor und Politiker Gábor Iványi, gefolgt von mehreren Reden verschiedener Oppositionsvertreter, darunter die Momentum-Vorsitzende Anna Donáth, der Budapester Oberbürgermeister Gergely Karácsony, der Jobbik-Vorsitzende Péter Jakab sowie die DK-Spitze Klára Dobrev. Bevor Orbáns Herausforderer Márki-Zay das Podium betrat, gab der angereiste Donald Tusk seine Unterstützung für das Linksbündnis kund. Der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei gilt als Kritiker der amtierenden ungarischen Regierung und befürwortete jüngst die Aufnahme der zukünftigen Partei von Márki-Zay in die EVP. Gegenwärtig ist, bis auf die an der Regierung beteiligte KDNP, keine ungarische Partei Mitglied der EVP; während Jobbik rechtsaußen steht, lassen sich DK, MSZP, Momentum, LMP und Párbeszéd links der Mitte verorten. Medienberichten zufolge ist Tusk jedoch nicht im Namen der EVP nach Budapest gekommen, sondern als Parteivorsitzender der polnischen Bürgerplattform PO. Orbán hatte zuvor bei seiner Rede die Opposition dafür angegriffen, dass sie mit Donald Tusk in den Wahlkampf ziehe: „Sie haben jenen Polen hierhergebracht, für den man sich auch zu Hause schämt, der zuerst seine eigene Partei in Polen und dann die Europäische Volkspartei in Brüssel zerschlagen hat. Donald Tusk ist die schwarze Katze selbst, die nur Unglück über einen bringt.“
Tusk bezeugte seinerseits die gemeinsamen geschichtlichen Erfahrungen von Ungarn und Polen, die während der sowjetischen Herrschaft über Ost- und Mitteleuropa Seite an Seite gegen die Unterdrückung gekämpft hätten. Vor diesem Hintergrund sei heute der Verteidigungskrieg der Ukrainer nicht nur ein Kampf für die eigene Souveränität, sondern auch für die Freiheit von Polen und Ungarn. „Kein ehrlicher Mensch sollte Zweifel daran haben, auf welcher Seite Orbán in diesem Kampf steht. Er und sein Team haben hart daran gearbeitet, dass sie in Europa als besonders Putin-freundlich wahrgenommen werden“ – sagte Tusk. Der PO-Vorsitzende meinte überdies, dass Józef Bem – polnischer General aufseiten der ungarischen Kräfte während der Revolution 1848 –, wenn er heute denn lebte, sicherlich hier bei der Oppositionskundgebung und nicht vor der Parlament stehen würde.
Márki-Zay übte in seiner Rede schwere Kritik am Regierungsstil von Ministerpräsident Orbán, der dem Ruf des ungarischen Volkes geschadet und das Land vereinnahmt habe. „Wenn man „Ungarn“ sagt, ist [Orbán] das Gesicht, das vor den Menschen erscheint. Er machte alles zunichte, was Generationen zuvor aufgebaut haben.“ Dem Oppositionsführer nach hätte Ungarn unter Orbán den „zurückgebliebenen Osten“ statt den „sich entwickelnden Westen“ zum Vorbild genommen. Bei einem Wahlsieg müsse man daher mit der jetzigen Regierung abrechnen. Dass Márki-Zay beste Aussichten für diesen Wahlsieg hätte, begründete er wie folgt: „Ich bin ein Politiker mit einer bewegten Vergangenheit, der noch nie eine Meinungsumfrage gewonnen, aber auch noch nie eine Wahl verloren hat.“
Der vielleicht berühmteste ungarische Dichter Sándor Petőfi schrieb 1848: „Schwören wir beim Gott der Ahnen: Nimmermehr beugen wir uns den Tyrannen! Nimmermehr!“. Diesen gar revolutionären Ton trafen beide, Viktor Orbán und Péter Márki-Zay, 19 Tage vor den Wahlen. Nach den Wahlen auf die Barrikaden gehen – das hat aber bisher nur die rechtsextreme Mi Hazánk angekündigt.
Titelbild: Kundgebung auf dem Kossuth-Platz vor dem Parlament.
Quelle: Infostart.hu