Ab heute berät der EuGH über eine Klage der EU-Kommission gegen Ungarn. Es geht auch um Grundsätzliches: Darf die EU in der Kindererziehung Vorgaben machen?

as am 15. Juni 2021 beschlossene und am 8. Juli 2021 in Kraft getretene ungarische Kinderschutzgesetz stand schon bei seiner Verabschiedung in der Kritik. Die Regelung mit dem sperrigen Namen „Gesetz über ein strengeres Vorgehen gegen pädophile Straftäter und die Änderung bestimmter Gesetze von Kindern“ sieht vor, dass Kinder und Jugendliche vor inkriminierten Inhalten und Werbung in Büchern, Filmen und sonstigen kulturellen Erzeugnissen geschützt werden, die die Abweichung von der dem Geburtsgeschlecht entsprechenden Identität, der Geschlechtsumwandlung oder der Homosexualität als Selbstzweck vermitteln oder darstellen. Die Novelle enthält zahlreiche Änderungen, die sich unter anderem auf die Mediendienste, die Werbung, den elektronischen Geschäftsverkehr und den Schulunterricht beziehen. Bereits 2021 berichtete „Die Tagespost“ ausführlich.

Nach der damaligen Gesetzesbegründung soll der Frühsexualisierung ein Riegel vorgeschoben werden. Eltern und autorisiertes Unterrichtspersonal in den Schulen sollen es in der Hand haben, die Sexualaufklärung zu betreiben und nicht irgendwelche Nichtregierungsorganisationen oder Lobbygruppen, die diesbezüglich Partikularinteressen vertreten. Zudem wurde argumentiert, dass der Staat dazu angehalten sei, die körperliche, geistige und moralische Entwicklung der Kinder ins Auge zu fassen und entsprechend zu schützen. Es sei vonnöten, ein auch in der Praxis anwendbares und griffiges Regelungswerk zu implementieren, das den Schutz der Kinderrechte sicherstellt. Es sei einsehbar, dass nur bestimmte Inhalte zwecks einer gesunden seelischen und geistigen Entwicklung von Heranwachsenden vermittelt werden sollten. Es gebe aber viele derartige Inhalte, die von den Kindern missverstanden werden könnten oder die sich schädlich auf ihre Entwicklungen auswirken könnten, weil sie das moralische Wertesystem durcheinanderbringen.

Ein Verstoß gegen diverse Vorschriften sowie die Charta der Grundrechte?

Dieser Sichtweise schloss sich damals die EU-Kommission nicht an, sondern leitete noch am 15. Juli 2021 ein Vertragsverletzungsverfahren ein und – nachdem dieses kein Ergebnis zeitigte – erhob am 19. Dezember 2022 Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit dem Aktenzeichen C-769/2022. Dieser Klage schlossen sich sowohl das Europäische Parlament als auch die Mitgliedsländer Belgien, Dänemark, Irland, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich und Portugal an. Vorgebracht wurde, dass die ungarische Bestimmung gegen diverse EU-Vorschriften verstieße, etwa gegen die Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste, die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr, die Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt, die Datenschutzgrundverordnung, gegen Art. 56 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union sowie einzelne Bestimmungen der Charta der Grundrechte. In diesen technisch anmutenden Einzelregelungen erblickt die Kommission das verbriefte Recht unter anderem von Gewerbetreibenden, also von Anbietern, Produzenten und Dienstleistern, ebensolche Inhalte auch Minderjährigen unbeschränkt vermitteln zu dürfen.

Die Klage dürfte dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn der EuGH im Wege der praktischen Konkordanz zum Schluss kommt, dass die behaupteten Rechte der Diensteanbieter den vorgebrachten Schutzinteressen der Kinder vorgehen, sprich in diesem Falle den Bestimmungen des EU-Rechts Vorrang vor den Regelungen des Staates Ungarn eingeräumt wird. Dies wäre dann der Fall, wenn die Bestimmungen der mitgliedsstaatlichen Ebene gegen das Europarecht verstießen. Fraglich ist in diesem Zusammenhang freilich, ob sich die europäische Ebene auf Fragen des Kinderschutzes und der Erziehung von Kindern begeben darf, die Kompetenz des Mitgliedsstaates sein sollen.

Keine Frage, die nur Ungarn betrifft

Fernab dieser rechtstechnischen Einzelfragen steht aber eine fundamentale und ins Mark gehende rechtspolitische Ermessenprärogative, die sich fast schon als zivilisatorische und kulturelle Grundsatzentscheidung ausnimmt: Kann ein Land aktiv werden, um Kinder vor der Darstellung von homosexuellen Handlungen zu schützen, um ihre seelisch-geistige Entwicklung zu schützen? Oder wird dies dem Land unter Bezugnahme auf Regelungen des Geschäftsverkehrs untersagt? Kann ein Land mit der Mehrheit seiner Bevölkerung und seiner politischen Entscheidungsträger bestimmen, die ureigenste Angelegenheit der Menschheit, die Erziehung von Kindern zu regulieren oder wird dieses Recht von Brüssel vindiziert? Kann ein Land eine Politik verfolgen, die traditionelle Werte von Familie, Kultur und Tradition vermittelt oder wird es von den progressiven linksliberalen und grünen Eliten darin mit Macht gestoppt?

Diese Grundsatzentscheidung ist keine Frage, die nur Ungarn betrifft. Jedes Land in der EU muss sich bei einer solchen selbstverantworteten Politik immer wieder die Frage stellen, inwieweit es die Auseinandersetzung mit der Brüsseler Bürokratie einzugehen bereit, willens und imstande ist. Debatten über Ungarn sind auch Debatten, die Deutschland und viele andere Länder betreffen. Die markanten Entscheidungen der ungarischen Politik muten gewöhnungsbedürftig an, doch bei näherem Hinsehen entpuppen sie sich als kulturelle, geistige und zivilisatorische Grundsatzfragen, vor deren Beantwortung man sich auf lange Sicht nicht drücken kann. Dies gilt nicht nur für den Bereich des Kinderschutzes und der relevanten Gesellschaftspolitik, sondern auch für andere Kernbereiche nationalstaatlichen Anliegens wie etwa Migration und Zuwanderung.

Willkommen im Club, Deutschland?

Bekanntlich wurde Ungarn am 13. Juni 2024 vom EuGH zur Strafzahlungen von 200 Millionen Euro und zusätzlich einer Million Euro täglich verurteilt, weil es eine aktive Grenzsicherung betreibt und es ablehnt, illegale Migranten ins Land zu lassen. Für die Rechtswächter in Luxemburg hätte Ungarn eine souveräne Entscheidung über die eigenen Grenzen gar nicht treffen dürfen. Damit wurde dem Land das Recht abgesprochen, selbst zu entscheiden, mit wem man zusammenlebt und wie sich die Landesbevölkerung zusammensetzt. Eine ähnliche Politik der Grenzsicherung betreibt nun Deutschland – mit zehn Jahren Verspätung – und muss sich wohl in Zukunft auch auf große Konflikte mit den eigenen Gerichten, mit der Brüsseler Politik und mit dem EuGH einstellen.

Willkommen im Klub, schrieb Ministerpräsident Viktor Orbán an die Adresse Deutschlands gerichtet. Es bleibt zu hoffen, dass in vielen wichtigen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Gestaltung der eigenen Zukunft die Mitgliedsstaaten sich ihre Rechte nicht nehmen lassen, ihre Politik am Wohl der eigenen Landesbevölkerung auszurichten, statt an übergeordneten internationalen, kaum greifbaren Interessen anderer. Auch in diesem Bereich zeigt sich, dass die breite Mitte der Gesellschaft in Ungarn gar nicht viel anders denkt als die der deutschen Gesellschaft: Man will in einem friedlichen und sicheren Land leben, selbst die Geschicke in die Hand nehmen und mit Arbeit und Leistung für das Wohlergehen zukünftiger Generationen Sorge tragen.