Die EU-Kommission geht in die Vollen und aktiviert den seit Anfang 2021 geltenden neuen Rechtsstaatlichkeits-Konditionalitätsmechanismus erstmals gegen Ungarn. Dabei wird der Entzug von 7,5 Milliarden Euro an EU-Mitteln in Aussicht gestellt, sofern das Land keine Schritte gegen die von der EU-Kommission vorgebrachte angebliche Korruption unternimmt.

Begriffliche Unklarheiten

Nicht nur in Ungarn, aber auch in anderen Mitgliedsländern erscheinen die weitverzweigten Mechanismen, Verfahren und Entschlüsse von EU-Gremien rätselhaft und wenig transparent. Daher ist es immer wieder wichtig, eine Differenzierung vorzunehmen, welches Organ welche Entscheidung trifft, inwiefern hierauf reagiert werden kann und was die konkreten Rechtsfolgen und etwaige finanzielle Konsequenzen sind. Besonders im Falle von Ungarn tut eine Unterscheidung dringend not.

Defizitverfahren

Überschreitet ein Land das Budgetdefizit von 3% des Bruttoinlandsprodukts, so kann der Rat für Wirtschaft und Finanzen ein formales Verfahren mit Geldstrafen einleiten. Viele südeuropäischen Länder konnten von der Sonderregelung profitieren, nach der in einer schweren Wirtschaftskrise keine Sanktionen drohen. Diese Schritte haben nach Kritikern insgesamt zu einer Aufweichung der Stabilitätskriterien geführt, viele Länder verstoßen dauerhaft gegen diese Vorlage. Ungarn hingegen entwickelt sich gegen diesen Trend. Das früher schon in Gang gesetzte Defizitverfahren konnte durch solides Haushalten und gute Wirtschaftspolitik bereits im Jahre 2013 formal beendet werden. Damals anerkannte die EU-Kommission, dass Ungarn erfolgreich das Defizit zurückgefahren hätte. Im Bereich solides Haushalten sind die Länder Mittel- und Osteuropas vorbildlich und kaum von den sparsamen skandinavischen oder nordeuropäischen Ländern zu unterscheiden.

Vertragsverletzungsverfahren

Im Falle mangelnder Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Recht leitet die EU-Kommission sog. Vertragsverletzungsverfahren ein, beispielsweise bei der PKW-Maut gegen Deutschland. Auch gegen Ungarn wurden zahlreiche Vertragsverletzungsverfahren auf den Weg gebracht. Zu Beginn des Jahres 2022 waren insgesamt 60 Verfahren gegen das Land anhängig. Diese betreffen vor allem technische Angelegenheiten und in der Öffentlichkeit kaum wahrnehmbare oder diskutierte Detailfragen. Zum Vergleich: Gegen Deutschland waren zum selben Zeitpunkt 68 solche Verfahren eröffnet, die Skala der Vertragsverletzungsverfahren bewegt sich per 2022 von 31 (Dänemark) bis 106 (Spanien). Ungarn

bewegt sich im besten Drittel und steht im Vergleich mit den anderen Staaten relativ gut dar. Trotzdem herrscht in der breiten europäischen Öffentlichkeit der Eindruck vor, als hätte Ungarn immer wieder gegen EU-Auflagen verstoßen. Zur Wahrheit gehört auch, dass gerade aufgrund vieler vermeintlicher Mängel die Entscheidungen der ungarischen Regierung besonders streng überwacht werden. In fast allen solchen gegen Ungarn gerichteten Vertragsverletzungsverfahren konnten sich Regierung und Kommission einigen.

Art. 7-Verfahren

Das 1998 eingeführte Rechtsinstrument soll die Verletzung der EU-Werte ahnden und kann im Extremfall den Stimmrechtsentzug des betreffenden Landes stipulieren. Erstmals wurde seitens der Kommission das Art.7-Verfahren gegen Polen eingeleitet, dem Land wurde zum Vorwurf gemacht, das Justizsystem umgestaltet zu haben. Auch gegen Ungarn kam es zur Eröffnung des Art.7-Verfahrens, nämlich durch die Annahme des sog. Sargentini-Berichts im Europäischen Parlament im September 2018. Rechtsexperten weisen allerdings immer wieder darauf hin, dass Art.7-Verfahren des Parlaments eindeutig einen stärken parteipolitischen Gehalt haben, als solche Entscheidungen der Kommission, die als Hüterin der Verträge nach rechtlichen Gesichtspunkten entscheidet. Jedenfalls beinhaltete der EP-Beschluss eine lange Liste von Vorwürfen an Ungarn, diese ist eine fast lückenlose Ansammlung aller Bereiche, in denen es seit dem Amtsantritt der konservativen Regierung von Viktor Orbán Reformen gegeben hatte. Der Bericht differenziert aber gar nicht danach, ob die zuvor teilweise von der Kommission beanstandeten Maßnahmen nicht in etwa korrigiert wurden, was bei den meisten zutraf.

Weitere Beschlüsse des Europäischen Parlaments

In diese Kerbe schlugen viele politische Beobachter, die in den diversen Stellungnahmen gegen Ungarn wie Tavares-Bericht 2013, Sargentini-Bericht 2018 oder Delbos-Corfield-Bericht 2022 ein nach demselben Schema angelegtes politisches Unterfangen sahen, die von den links-grünen-liberalen politischen Formationen ausgingen und die ungarische Regierung wegen ihrer konservativen Politik angriffen. In der Tat sind die Wegmarken der Ungarn ein Gegenentwurf zur Identitätspolitik. Viele Maßnahmen unterliegen tatsächlich einer anderen politischen Beurteilung, wenn man Konservative oder beispielsweise Grüne und Linke befragt. Problematisch wird es, wenn Dogmen der Identitätspolitik zu angeblichen Werten der EU verklärt werden und Aktionen gegen Länder gestartet werden, die diesem Trend aus eigener Überzeugung nicht folgen. Das Europäische Parlament ist in den letzten Jahren zu einem Forum parteipolitischer europäischer Auseinandersetzungen geworden, in denen auch einzelne Politikfelder von Mitgliedsländern Gegenstand der Debatten werden.

Ungarn und die Wiederaufbaufonds

Nach den Verteilungsplänen sollte Ungarn aus dem Finanztopf des Wiederaufbau- und Resilienzfonds etwa sieben Milliarden Euro zustehen, also etwa eine Milliarde pro Jahr im Finanzzeitraum 2021-2027.

Jedoch wurde der Wiederaufbauplan von Ungarn von der Europäischen Kommission bis dato nicht akzeptiert. Eine Einigung beim Wiederaufbaufonds muss bis Jahresende erfolgen. Insbesondere sollen nach Meinung der EU-Kommission Verbesserungen im System der öffentlichen Ausschreibungen erfolgen, bei Gesetzesvorhaben breitere gesellschaftliche Konsultationsmechanismen greifen und in Korruptionsentscheidungen der Staatsanwaltschaft sollte der Rechtsweg offenstehen. Hierbei ist sich die ungarische Regierung sicher, eine Einigung erzielen zu können.

Konditionalitätsmechanismus

Unmittelbar nach dem Sieg des konservativen Parteienbündnisses aus Fidesz und KDNP am 3. April 2022 gab EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel bekannt, den Konditionalitätsmechanismus gegen Ungarn zur Anwendung bringen zu wollen. Der Mechanismus sieht die Streichung von EU-Mitteln vor, wenn einem Mitgliedsland schwerwiegende Versäumnisse im Umgang mit EU-Geldern nachgewiesen werden konnte, durch systematische oder einzelne Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, im Bereich der EU-Haushaltsführung. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen steht das öffentliche Vergabewesen des Landes. Damit kann die Kommission die Auszahlung des regulär Ungarn zustehenden Geldbetrages aus dem ordentlichen Haushalt des Finanzrahmens 2021-2027 blockieren. Der ungarischen Regierung wurde Zeit gegeben, bis November ein gutes Dutzend gesetzgeberischer Maßnahmen umzusetzen.

Maßnahmen der Ungarn

Anfang September beschloss die ungarische Regierung, die Einrichtung einer unabhängigen Korruptionsbekämpfungsbehörde voranzutreiben und bis Mitte November einzurichten. Außerdem soll eine Task Force zur Korruptionsbekämpfung ins Leben gerufen werden, diese soll paritätisch mit staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren besetzt sein. Ebenso soll eine Kontrollbehörde zur Überprüfung des öffentlichen Vergabewesens gegründet werden. Nach Auskunft des ungarischen Generalstaatsanwalts leitet die ungarische Staatsanwaltschaft in allen von OLAF empfohlenen Fällen ein formales Verfahren ein. Als erstes konkretes Gesetzesvorhaben wurde schon am 19. September 2022 die Drucksache Nr. T/1202 in die Ungarische Nationalversammlung eingebracht. Inhalt dieser ist eine Reihe von Einzelregelungen, um den Bedenken der EU-Kommission entgegenzukommen. Beispielsweise sollen die staatlichen Finanzbehörden offiziell Amtshilfe für OLAF leisten können. Ferner sollen Mitglieder der Kuratorien von öffentliche Aufgaben erfüllenden Stiftungen im Falle von Unvereinbarkeitsfällen an der Entscheidungsfindung nicht teilnehmen. Außerdem werden einzelne Bestimmungen des Gesetzes über die öffentliche Vergabe geändert. Justizministerin Judit Varga zeigte sich zuversichtlich, auf alle Kritikpunkte der EU-Kommission im Zusammenhang mit dem Rechtsstaatlichkeits-Konditionalitätsmechanismus einzugehen und diesen offensiv und schnell zu begegnen. In der Vergangenheit wurden konkret formulierte Sachargumente seitens der Kommission von den ungarischen Entscheidungsträgern immer wieder zufriedenstellend adressiert.

Fazit

Wie in der Vergangenheit ist auch jetzt davon auszugehen, dass die sachlich formulierten Anliegen der Europäischen Kommission bei den ungarischen Regierungsverantwortlichen auf fruchtbaren Boden fallen und abgearbeitet werden. Diese haben immer wieder hervorgehoben, auf konkrete fachliche Beanstandungen positiv zu reagieren, wie auch bei früheren Einwänden. Schließlich geht es um den europäischen Rechtsrahmen, zu dem sich auch Ungarn unzweideutig bekannt hat. Anders hingegen verhält es sich bei politisch motivierten Angriffen seitens einer gegnerischen Mehrheit im Europäischen Parlament. Diese werden in Ungarn kaum ernstgenommen und motivieren die Ungarn vielmehr, sich in ihrer Politik nicht beirren zu lassen. Ungarn zeigt nämlich aller Welt, dass eine zeitgemäße dezidiert konservative Politik Erfolg haben kann. Die Angriffe gegen diesen Weg werden als Bedrohung der nationalen Souveränität aufgefasst, die den Ungarn aufgrund ihrer historischen Erfahrungen überaus wichtig ist.