An Ministerpräsident Viktor Orbán dürfte nach der Parlamentswahl am 3. April wohl kaum ein Weg vorbeiführen.
In Ungarn wird am 3. April die Ungarische Nationalversammlung gewählt. Die seit 2010 amtierende bürgerliche Regierungskoalition von Fidesz und Christlich-Demokratischer Volkspartei (KDNP) geht als Favorit in die Wahl, Ministerpräsident Viktor Orbán hat nach allen Erhebungen die besten Popularitätswerte. Die Opposition um Péter Márki-Zay versammelt insgesamt sechs Parteien des linken, grünen, liberalen und rechtsnationalen Spektrums. Wie auch in anderen Ländern wird der öffentliche Diskurs stark von den Ereignissen in der Ukraine überschattet. Mit dem in gut einer Woche stattfindenden Urnengang steht Ungarn am Scheideweg: Soll die konservative Regierung mit Viktor Orbán im Amt bleiben oder wagen die Ungarn ein Regenbogen-Experiment mit ungewissem Ausgang?
Die Parlamentswahlen wurden als reguläre Wahlen mit dem Ablauf der vierjährigen Legislaturperiode vom Staatspräsidenten anberaumt, dieser muss laut Grundgesetz die Wahlen auf einen Sonntag im April oder Mai ansetzen. Die nunmehr zu wählende Nationalversammlung wird das neunte frei gewählte Parlament seit der politischen Wende von 1989 sein. Nach den Bestimmungen des Grundgesetzes muss das neue Parlament spätestens 30 Tage nach der Wahl zusammentreten, es wählt auch den Ministerpräsidenten mit der Kanzlermehrheit. Wie in Deutschland gelten auch in Ungarn die Wahlrechtsgrundsätze der allgemeinen, freien, geheimen, gleichen und unmittelbaren Wahlen. Eine Besonderheit ist es, dass es – anders als in den meisten Ländern Europas – bisher noch nie zu vorgezogenen Parlamentswahlen gekommen ist – ein Ausweis der politischen Stabilität und Berechenbarkeit des Landes.
Das ungarische Wahlrecht hat seine Besonderheiten
Die Ungarische Nationalversammlung besteht aus 199 Abgeordneten, von denen 106 in Einzelwahlkreisen mit einfacher Mehrheit gewählt werden, hierbei kommt das Mehrheitsprinzip zum Tragen. 93 Abgeordnete werden über die Parteilisten nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bestimmt, es gilt die 5-Prozent-Hürde. Dabei hat jeder Wähler eine Erststimme für den Wahlkreisbewerber und eine Zweitstimme für eine Parteiliste.
Anders als in Deutschland ist nicht das Zweitstimmenergebnis für die Gesamtheit der Mandate maßgeblich, sondern es stehen beide Untersysteme separat nebeneinander. Daher wird das Wahlrecht als ein Grabenwahlsystem bezeichnet. Eine Besonderheit ist, dass keine einzige Stimme verloren gehen darf. Aus diesem Grundewerden die Stimmen der Wahlkreisverlierer der Parteiliste zugeschlagen (Verliererkompensation) und die für den Erwerb des Direktmandats nicht mehr benötigten Stimmen der Wahlkreisgewinner ihrer jeweiligen Parteiliste (Gewinnerkompensation). Aufgrund des Majoritätssystems spielt das Wahlrecht einer besonders geeinten politischen Formation in die Hände: Schon ein kleiner Umschwung, ein kleiner Vorsprung kann ausreichen, um die Mehrheitsverhältnisse umzudrehen. Davon profitiert auch die ungarische Opposition.
Personen, die über keinen ungarischen Wohnsitz verfügen (die sogenannten „Auslandsungarn“) können bei Antrag in das Briefwählerverzeichnis aufgenommen werden, sie können dann per Brief abstimmen, aber nur für eine Parteiliste. Die Erststimme entfällt, da diese Personengruppe keinem Wahlkreis zugeordnet werden kann. Hingegen haben die Angehörigen der 13 autochthonen Volksgruppen im Inland (Nationalitätenangehörige) die Möglichkeit, sich ebenfalls zu registrieren, bei ihnen verhält es sich aber genau umgekehrt. Sie haben zwar die Erststimme für den Wahlkreisbewerber, ihre Zweitstimme hingegen entfällt, da sie für den Wahlvorschlag ihrer jeweiligen Nationalität votieren.
Für einen Abgeordnetensitz benötigt die Wahlliste einer Volksgruppe mittels des sogenannten „privilegierten Mandatserwerbs“ nur ein Viertel der für ein reguläres Parlamentsmandat benötigten Stimmenzahl. Hierbei wird das eine Mandat von den regulären Parteilistenmandaten abgezogen, so dass sich die Parteien die verbliebenen 92 Listenmandate unter sich aufteilen müssen. Diese parlamentarische Vertretung ist bei den Wahlen 2018 nur den Ungarndeutschen gelungen, damals hatten sie etwa 33.000 registrierte Wähler und etwa 26.000 Stimmen, was ausreichend war. Auch 2022 rechnen sich die Deutschen in Ungarn gute Chancen für den Gewinn des Abgeordnetenplatzes aus.
Ebenso können Ungarn mit vorübergehendem Aufenthalt im Ausland beispielsweise aufgrund eines Studiums, Urlaubs, einer Geschäftsreise oder dergleichen am ungarischen Konsulat ihre Stimme abgeben (Anmeldung). Auch hier ist gewährleistet, dass die Stimmabgabe für den Kandidaten des Heimatwahlkreises erfolgt. Um das Wahlgeheimnis zu garantieren, werden die Wahlzettel der An- und Umgemeldeten in den Heimatwahlkreis geschickt, wo diese dann mit den Stimmzetteln eines am Wahlabend nicht ausgezählten Wahllokals vermengt und anschließend ausgezählt werden. Dies ist der Grund dafür, dass am Wahlsonntag selbst der Auszählungsstand immer etwa bei 98 Prozent verharrt, das Endergebnis wird etwa eine Woche nach der Wahl bekannt gegeben.
Die amtierenden Regierungsparteien erzielten bei den letzten Wahlen als Listenverbindung 49,27 Prozent der Stimmen und konnten zudem 91 von 106 Direktwahlkreisen gewinnen. Die Oppositionsparteien traten separat an und gewannen 15 Direktmandate, die damals stärkste Partei war die rechtsradikale Jobbik mit 19,06 Prozent. Aufgrund des Umstands, dass die Oppositionsparteien in jedem Wahlkreis mit mehreren Kandidaten gegen Fidesz-KDNP antraten, verflüchtigten sich jedoch ihre Siegeschancen.
Dieses Mal soll alles anders sein. In oppositionsinternen Vorwahlen einigten sich die sechs Parteien auf 106 gemeinsame Direktkandidaten, die gegen Fidesz-KDNP in die Entscheidung gehen. Damit erhöhen sich die Chancen der linken Oppositionsallianz schon rein mathematisch. Politische Analysten gehen davon aus, dass vermittels dieser Taktik zumindest in der Hochburg Budapest, der Agglomeration und einigen großen Städten sichere Erfolge einzufahren sind. In den eher ländlich und kleinstädtisch geprägten Wahlkreisen hingegen sind die Erfolgsaussichten der Konservativen größer.
Orbáns Politik wird mehrheitlich positiv beurteilt
Die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán sorgte mit ihrer Familien-,Wirtschafts- und Migrationspolitik auch international für Schlagzeilen. Dabei steht im Mittelpunkt der Politikgestaltung der Glaube an bewährte Lebensumstände der Bevölkerung des Landes: Die Besinnung auf Familie, Heimat und Nation als natürliche Gemeinschaften der Menschen, die Bewahrung der ungarischen und europäischen Identität und die Stärkung der christlichen Werte. In der Wirtschaftspolitik gilt als Zielvorgabe die Workfare-Gesellschaft, in der ein Vorankommen durch Arbeit und Schaffung von Werten und Eigentum angestrebt wird. Gepaart wird dieser Politikansatz mit einer auch international beachteten Familienpolitik, die Familien mit Kindern belohnt, Frauen in ihrer Erwerbstätigkeit unterstützt und mit Steuernachlässen und Wohn- und Baugeldern Anreize schafft, Beruf und Familie miteinander zu vereinen. Gerade junge Mütter werden dabei stark bevorzugt, angefangen mit einem Elterngeld, das höher ist als das reguläre Gehalt, bis zum Erlass der Sozialversicherungsabgaben.
Ungarn sorgt zudem mit außergewöhnlich niedrigen Steuern wie einer 9-Prozent-Körperschaftssteuer oder der 15-Prozent-Flat-Tax-Einkommenssteuer für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum und ein unternehmens- und familienfreundliches Umfeld. Die Steuererklärung machen die Ungarn online, quasi auf einem Bierdeckel, in kaum mehr als fünf Minuten. Die Steuermoral hat sich stark verbessert, die Schattenwirtschaft geht immer mehr zurück. Dabei konnten seit 2010 rund eine Million neue Arbeitsplätze entstehen. Während 2010 das Land gerade 1,8 Millionen Steuerzahler hatte, waren es Ende 2021 bereits 4,7 Millionen. Das BIP-Wachstum betrug im Jahre 2021 genau 7,1 Prozent – damit war Ungarn im europäischen Spitzenfeld, die Arbeitslosigkeit ist mit 3,7 Prozent quasi nicht existent.
Aus der Corona-Krise ist Ungarn gut herausgekommen, das Land immunisiert seit Januar 2021 konsequent, sehr schnell und wendet alle sechs Impfstoffe an. Bereits Ende Mai 2021 fielen alle Beschränkungen und abgesehen von der Maskenpflicht im ÖPNV und in bestimmten Innenräumen im Winter gab es seit dieser Zeit kaum Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Auch in der Migrationspolitik machten die Ungarn ab 2015 vor, dass konsequenter Schutz der Außengrenzen machbar ist. Zudem lebte Ungarn vor, dass man selber bestimmen kann, mit wem man zusammenlebt, und somit in der Hand behält, wie sich die ethnische, nationale und religiöse Zusammensetzung der Landesbevölkerung gestaltet. Diese Politik gilt als klarer Gegenentwurf zur Migrationspolitik in vielen anderen Ländern, hat aber die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Auch aus diesem Grunde kann die Opposition nur schwer tragfähige Gegenmodelle präsentieren und tut sich schwer mit Kritik.
Die politische Gemengelage wird von den tragischen Ereignissen des Krieges in der Ukraine überschattet. Während die Opposition die vormaligen guten Wirtschaftsbeziehungen zu Russland kritisierte, forderte sie in einer ersten Reaktion gar die Entsendung von Soldaten und Kriegsmaterial in die Ukraine. Davon ist sie freilich wiederabgerückt. Márki-Zay verstieg sich gar zur Aussage, Orbán allein sei schuld an der russischen Invasion.
Die politische Führung des Landes reagierte nach Meinung vieler besonnen auf die neue Lage im Nachbarland Ukraine. Politisch steht die ungarische Regierung fest an der Seite der EU und der NATO, unterstützt vollumfänglich das Sanktionsregime und steht somit auf der Liste der gegenüber Russland „feindseligen“ Staaten. Auch bekannte sie sich zur territorialen Integrität der Ukraine. Auf einer großen Wahlkampfkundgebung vor mehreren hunderttausender Anhängern gab Orbán die Losung aus: „Wer Frieden und Sicherheit will, wählt Fidesz.“ Der eigens organisierte Friedensmarsch des Regierungslagers mit dem Motto „No war“ war eine große Demonstration für eine friedvolle Lösung des Konflikts. Bis Redaktionsschluss erreichten zudem fast eine halbe Million Menschen aus der Ukraine das kleine Ungarn: Die Flüchtlinge wurden von Behörden, Kommunen, Hilfsorganisationen und auch normalen Bürgern versorgt, durch das Land rollte eine riesige Welle der Hilfsbereitschaft.
Nach letzten Umfragen liegen die Regierungsparteien mit etwa sechs bis sieben Prozentpunkten in Führung – dies würde für eine solide absolute Mehrheit reichen und die Wiederwahl Viktor Orbáns wäre gesichert.