Am 10. September jährte sich bereits zum 33. Mal die Grenzöffnung an der österreichisch-ungarischen Grenze, die im Spätsommer 1989 Zehntausende in Ungarn ausharrende DDR-Flüchtlinge für ihre Ausreise in die Bundesrepublik nutzten.
Mit diesem Jahrestag verbunden ist ein großes und wichtiges Kapitel der deutsch-ungarischen Beziehungen, das ein positives, aber auch missverstandenes Ungarnbild erzeugte. Im Mittelpunkt dieser Diskussionen stand Gyula Horn, einst Außenminister, später Ministerpräsident des Landes.
Uneinigkeit bei den wichtigen Jahrestagen
Dreh- und Angelpunkt dieser Auseinandersetzungen ist die Frage nach der Rolle des reformkommunistischen Außenministers Horn bei der Grenzöffnung und den vorangegangenen politischen Weichenstellungen. Allseits bekannt ist das Bild vom 27. Juni 1989 von der österreichisch-ungarischen Grenze nahe Sopron, wo Horn gemeinsam mit seinem österreichischen Amtskollegen Alois Mock mehr schlecht als recht mit der Drahtschere hantierte.
Sie durchschnitten symbolhaft den Eisernen Vorhang und demonstrierten vor den Kameras aus dem In- und Ausland, dass Ungarn die Grenze aufmacht und zu einer Öffnung gen Westen bereit ist. Diese Bilder gingen um die Welt und untermauerten das Image des guten, gewandten Reformkommunisten, der mit Europa und der Welt kooperiert und die ungarische Variante von Glasnost und Perestroika verkörperte. Noch jahrelang wurde dieser Jahrestag von den Außenministerien der beiden Länder als der Tag der Grenzöffnung gefeiert und mit entsprechenden Veranstaltungen bedacht.
Seine Reputation im Westen konnte Horn noch weiter festigen, als er am Abend des 10. September 1989 in den Nachrichten die Grenzöffnung für die DDR-Bürger bekanntgab. Tausende jubelnder Menschen aus Ostdeutschland lagen sich in den Armen und machten sich noch in der Nacht auf den Weg in Richtung Österreich. Während Alois Mock für seine Rolle in der Wendezeit als „Mister Europe“ bezeichnet wurde, klebte an Horn die Bezeichnung „Mister Grenzöffnung“.
Folgenreiche Inszenierung mit Horn
Doch die Wahrheit ist in diesem Zusammenhang viel komplexer. Daher entbrannte auch in den späten Neunzigerjahren ein wahrer Historikerstreit um die Rolle von Gyula Horn. Im Mittelpunkt dieser Zwistigkeiten standen die Jahrestage und deren Interpretation. Mittlerweile ist bekannt, dass Horn und Mock am 27. Juni in Wahrheit nicht den existierenden Eisernen Vorhang, sondern nur einen kleinen Abschnitt notdürftig wiederaufgebauten Grenzzauns durchtrennten.
Der Abbau der Grenzbefestigungsanlagen war schon so weit fortgeschritten, dass es quasi nirgendwo mehr einen richtigen „Eisernen Vorhang“ gab. Daher musste aus PR-Gründen an einer leicht zu erreichenden Stelle wieder ein Zaun errichtet werden, um die öffentlichkeitswirksamen Bilder produzieren zu können.
Diesem Umstand widmete sich eine Ausstellung im Museum Haus des Terrors im Jahre 2009, die den treffenden Titel „Átvágva“ trug, im Ungarischen ein Wortspiel, denn „átvágva“ bedeutet zum einen „durchgeschnitten“, im übertragenen Sinne aber auch „reingelegt“. Doch war der 27. Juni eine erfolgreiche Inszenierung mit großer Bühne, die folgenreiche Bilder für die Weltöffentlichkeit produzierte.
Echte Ereignisse fanden ohne Horn statt
Weit bedeutsamer für die welthistorisch entscheidenden Ereignisse der Wendezeit in Ungarn waren aber der 2. Mai 1989 und der 19. August 1989. Am Morgen des 2. Mai 1989 begannen die offiziell angekündigten Maßnahmen zum Abbau der Grenzbefestigungen, internationale Kamerateams wurden nach Hegyeshalom und Sopron gefahren – in Sopron sollte wenig später auch Horn seinen großen Auftritt haben.
Doch Horn war an diesen durch die ungarische Regierung noch in den Monaten zuvor gefällten Entscheidungen überhaupt nicht beteiligt, er wurde schließlich erst am 10. Mai 1989 zum Außenminister ernannt. Zu jener Zeit ging der Abbau der Grenzbefestigungsanlagen schon mit großer Intensität voran. Der Grund für den Abbau war ganz simpel: Ungarn hatte schon 1988 den Weltpass eingeführt, die ungarischen Bürger konnten beliebig ausreisen. Sie also in einem Gefängnis festzuhalten, denn der Eiserne Vorhang war ein Teil davon, hatte keinen Sinn. Außerdem kostete die Instandhaltung der maroden und veralteten Grenzsperren Unsummen an Geld, die der reformkommunistische Ministerpräsident Miklós Németh nicht mehr aufzutreiben gewillt war.
Ebenso relevant war das Paneuropäische Picknick am 19. August 1989 bei Sopron, wo bei einer kurzzeitigen Öffnung einer ansonsten geschlossenen Grenzübergangsstelle mehr als 600 DDR-Bürger eine Massenflucht nach Österreich wagten – legal ausreisen durften sie mit ihren DDR-Dokumenten ja nicht. Die ungarischen Grenzer beschlossen, nicht einzugreifen, und ebneten so den verzweifelten Menschen den Weg gen Westen, die dann auf österreichischer Seite in Freudentaumel ausbrachen, sie hatten es geschafft. Dieses Ereignis war der Initialfunke für die später beschlossene offizielle Grenzöffnung, die dann in der Nacht vom 10. auf den 11. September 1989 erfolgte.
Der Horn-Mythos in Deutschland
Ungeachtet dieser historischen Tatsachen war es aber weder die ungarische Zivilgesellschaft, die das Paneuropäische Picknick unter hohen persönlichen Risiken ausrichtete, noch die ungarischen Grenzer um Árpád Bella, der für diese humane Geste wenig später disziplinarisch zur Verantwortung gezogen wurde, die die Meriten für die Grenzöffnung kassierten. Auch wurde die positive Rolle von Ministerpräsident Miklós Németh kaum gewürdigt.
Statt dessen verbreitete sich aufgrund der Bilder vom 27. Juni 1989 und 10. September 1989 das wohlfeile Bild von „Mister Grenzöffnung“, nämlich Gyula Horn. Der Politiker erhielt für diese „Rolle“ im Sommer 1990 sogar den Internationalen Karlspreis und wurde in der deutschen Öffentlichkeit, der Politik und den Medien gefeiert wie ein Weltstar. Wie stark Horn und seine Rolle während der Grenzeröffnung bis ins bürgerliche Lager in Deutschland hineinwirkten, zeigt der Umstand, dass die Laudatio kein Geringerer als der FDP-Außenminister Hans-Dietrich Genscher hielt.
In Ungarn hingegen wurde man sich der wahren Hintergründe von 1989 immer klarer bewusst und ordnete Horn auch aufgrund seiner aktiven bewaffneten Tätigkeit bei der Niederschlagung des Ungarnaufstandes von 1956 deutlich negativer ein. Viele Ungarn waren 1990 froh, die Kommunisten los zu sein, und bei aller Sympathie für die gewendeten Reformkommunisten wollte man sich eine souveräne, demokratische und unabhängige Regierung geben. So wurde József Antall am 23. Mai 1990 Ministerpräsident des Landes.
In Deutschland jedoch entwickelte sich ein wahrer Kult um Horn, der ähnlich wie Gorbatschow als Rockstar gefeiert und verehrt wurde. Gemeinsam ist beiden auch, dass sie in ihren Heimatländern weitaus kritischer als in Deutschland beurteilt werden, und viel negativer, als man in Deutschland wahrhaben mag. Dies gipfelte im Frühsommer 1990 auch in einer wenig schmeichelhaften Sequenz, als sich der konservative Wahlgewinner József Antall anschickte, eine bürgerliche Regierung zu bilden.
Nach Zeitzeugenberichten von politischen Akteuren der Wendezeit soll sich Helmut Kohl bei Antall für den Verbleib von Gyula Horn als Außenminister eingesetzt haben. Diese kuriose Bitte macht zugleich deutlich, wie stark die Verbundenheit mit Horn bis in christdemokratische Kreise reichte. Dies ist nur vor dem Hintergrund des deutschen politischen Denkens zu erklären, das oft auf Ausgleich und Verständigung gerichtet ist, während es in den ostmitteleuropäischen Ländern des ehemaligen Ostblocks durchaus das Bedürfnis gab, mit der Vergangenheit abzuschließen, sie aufzuarbeiten und auf gar keinen Fall eine Prolongierung alter reformkommunistischer Machtstrukturen zuzulassen. Eine andere Frage ist natürlich, inwieweit dies tatsächlich gelang, denn alte Seilschaften der Kommunisten in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Medien überlebten und durchliefen eine besondere Metamorphose.
Alte Seilschaften
Die alten Seilschaften der Kommunisten und Postkommunisten wirkten noch jahrzehntelang fort. So war es in der Politik, wo zwischen 1994 und 1998 mit Gyula Horn höchstselbst ein prominenter Vertreter des Einparteienstaates den Posten des Ministerpräsidenten bekleidete. Später saß auf diesem Posten Ferenc Gyurcsány (2004-2009), ein ehemaliger ranghoher Funktionär des kommunistischen Jugendverbandes. Doch auch Péter Medgyessy (2002-2004) war in der kommunistischen Zeit ein Minister gewesen, der sogar für die ungarische Stasi arbeitete.
Auch in der Wirtschaft blieben alte Wirtschaftseliten an der Macht, und genauso verhielt es sich mit vielen Bereichen der Gesellschaft. Insbesondere in den Medien gab es niemals einen echten Systemwechsel, denn die meisten Redakteure aus kommunistischen Zeiten blieben einfach dort, wo sie waren, und die neuen Eigentümer, viele aus dem Ausland, wollten auch lieber Geld verdienen, als einen langwierigen Prozess personeller und moralischer Erneuerung zu wagen. Im Endeffekt war die ungarische Medienlandschaft bis in die Nullerjahre wenig ausgeglichen, die linksliberalen Journalisten und Medien waren in der Mehrheit. Erst später konnten ausgeglichene Medienverhältnisse hergestellt werden.
Für Deutsche unbekannte Konservative
Die deutschen Bewunderer des postkommunistischen Kurses waren weit zahlreicher, als man vermuten würde. Nicht nur die Vertreter der linken Parteien sahen in den ungarischen Postkommunisten, später Sozialisten, ihre Verbündeten und Partner. Die Sympathien für Horn und seine Nachfolger dominierten lange Zeit bis in bürgerliche Kreise das Bild von Ungarn. Viele konnten es schlicht nicht verschmerzen, dass der von ihnen so hoch gelobte Horn von den ihnen unbekannten Konservativen um József Antall im Jahre 1990 aus dem Amt gejagt wurde.
Noch schmerzhafter war es dann, als Horn im Jahre 1998 überraschend das Amt des Ministerpräsidenten aus der Hand geschlagen wurde – ausgerechnet von Viktor Orbán. Damals kam schon wie 1990 (und so wie 2010) das bürgerliche Lager an die Macht. Und in Ungarn galt es unter den Wendeparteien als ausgemachte Sache, nicht mit den Postkommunisten zu paktieren.
Die damalige liberale Partei SZDSZ hatte diesen Grundkonsens übrigens mit dem Eingehen einer Koalition mit Gyula Horn und seinen Postkommunisten im Jahre 1994 aufgekündigt. Ähnliche Diskussionen gab es auch in Deutschland, wenn um die Bündnisfähigkeit der Partei „Die Linke“ gerungen wird. Man erinnere sich nur an die „Rote-Socken-Kampagne“ der CDU aus dem Jahre 1994.
Erweckungserlebnis des bürgerlichen Lagers
Als dann die Linken in Ungarn 2002 wieder das Regierungsruder an sich rissen, koalierten sie ganz selbstverständlich erneut mit den Liberalen. Die bis heute klar erkennbaren Trennlinien und Sollbruchstellen der ungarischen Politik wurden in jener Zeit zementiert. Die linksliberal-postkommunistische Regierung sorgte mit der Lügenrede von Gyurcsány im Jahre 2006, der immensen Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten und einem beispiellosen moralischen Tiefflug für ein Erweckungserlebnis des ungarischen bürgerlichen Lagers.
Angesichts der verheerenden Bilanz von Gyurcsány blieb auch wohlmeinenden westlichen Beobachtern nichts anderes mehr übrig, als beschämt wegzuschauen. Die jahrzehntelange Freundschaft und Sympathie für die Postkommunisten schien aufgebraucht. Doch unter der Oberfläche konnten es viele nicht verwinden, dass ausgerechnet der zuvor schon einmal abgewählte Viktor Orbán wieder das Heft des Handelns in die Hand bekam. Der beispiellose Höhenflug des Fidesz begann schon im Herbst 2006, seit dieser Zeit dominierte die Partei die öffentlichen Debatten im Lande und trieb die Sozialisten vor sich her.
Mit dieser historischen Altlast im Gepäck kam es dann 2010 zu einem großen Sieg der Konservativen um Viktor Orbán, die die postkommunistische Nomenklatura vollends ins Abseits schoben. Motiviert von den negativen Erfahrungen der Gyurcsány-Zeit wollten die ungarischen Wähler nun wirklich mit den Postkommunisten brechen, und zwar für immer. Ein vergleichbares Wählerverhalten findet sich übrigens auch in Polen und Tschechien.
Dennoch lebten die alten Seilschaften, Kontakte und Netzwerke der Linken weiter. Außerdem nutzen diese politischen Kreise die Möglichkeiten der Europäisierung, der Vernetzung und der feingefächerten Kommunikationskanäle viel intensiver und professioneller als die Konservativen. Letztere glaubten, es reiche die historische Wahrheit, um die Menschen auf ihrer Seite zu haben. Doch dies war ein Trugschluss. In den internationalen Debatten war viel relevanter, wer welche Redakteure, wer welche Entscheidungsträger und wer welche Politiker anderer Länder kannte und sie auch ansprechen konnte.
Fazit
In diesem Jahr wurde Viktor Orbán insgesamt das fünfte Mal, dabei das vierte Mal in Folge zum Ministerpräsidenten von Ungarn gewählt. Er ist der Dienstälteste im Europäischen Rat. Ungarns Politik in den Bereichen Wirtschaft, Migration, Familie und Innere Sicherheit ist durchaus als Erfolg zu verstehen und wird auch von vielen liberalen Wählern als solcher wahrgenommen. Die 54 Prozent Zustimmung bei den Parlamentswahlen sind ein klares wie eindeutiges Zeichen dieser Unterstützung. Das Land setzt wichtige Wegmarken, doch die alten Konfliktlinien bleiben.
Warum es für die ungarische Politik so schwierig ist, sich diesen zu entziehen, wird anhand der internationalen Deutungsmuster und des auch von innenpolitischen Gegnern geschürten negativen Ungarnbildes vielleicht etwas sichtbarer. Lassen Sie sich also nicht täuschen, wenn selbsternannte Ungarnexperten mit guten Netzwerken und hervorragenden Fremdsprachenkenntnissen über das Land aufklären und Ihnen Muster, Schemata und Deutungen an die Hand geben, die nur einem Narrativ dienen. Vielmehr sollten alle Facetten der Wahrheit Erwähnung finden. Nur so kann ein ausgewogenes und realitätsnahes Ungarnbild entstehen.