Friedrich Merz zufolge habe die CDU zugelassen, dass der Konservativismus zum Schimpfwort verkomme. Die deutschen Christdemokraten haben bei den Bundestagswahlen im September 2021 eine der schwersten Wahlniederlagen ihrer Geschichte erlitten. Angela Merkel nimmt Abschied von der politischen Bühne, die CDU ist nach anderthalb Jahrzehnten wieder in der Opposition und auch die Popularität der Partei hat tendenziell abgenommen. Die Wahl eines neuen Parteivorsitzenden, der sich dieser Herausforderungen annimmt, scheint unumgänglich geworden. In diese Rolle schlüpfte nun Friedrich Merz, der mit 62,1 Prozent der Stimmen der Basis gewählt wurde. Sein neuestes Buch ist diese Woche bei MCC Press auf Ungarisch erschienen.
„In Folge der Krise kann daher längerfristig eine bessere politische Ordnung und ein materieller Wohlstand entstehen, der den Nachhaltigkeitsgrundsatz umfassend respektiert und dadurch Perspektiven eröffnet, die Grund für Zuversicht und Optimismus bieten können.“
Neben der Covid-19-Pandemie ist der Ausgangspunkt für das zweite (und wesentlich gewichtigere) Schwerpunktthema des Buches im individuellen politischen Engagement und in den Ambitionen von Merz selbst zu suchen. Als Mitglied des CDU-Vorstands, das aus der freiwilligen Verbannung zurückgekehrt ist, hat sich Merz jüngst zweimal vergeblich für die Führungsrolle des Parteivorsitzenden der CDU beworben, nur um auch ein drittes Mal in diesem Herbst, nunmehr als haushoher Favorit, wieder einmal für diese Position in den Ring zu steigen.
Im Hinblick darauf kann „Neue Zeit – Neue Verantwortung“ auch als politisches Manifest, als Entwurf des politisches Programms von Merz als Parteivorsitzender betrachtet werden, durch das der Autor Einblick in sein politisches Bekenntnis bietet und sein Konzept für die Zukunft Deutschlands und der CDU vorstellt.
An dieser Stelle sollte die beileibe außergewöhnliche politische Karriere von Merz nicht unerwähnt bleiben, als dessen Krönung er – dem voraussichtlichen Ergebnis nach – die vor dem Wiederaufbau stehende CDU führen dürfen wird. Merz hat (von 1989 bis 1994) internationale Erfahrungen als Europaabgeordneter gesammelt und leitete von 2000 bis 2002 als Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion die parlamentarische Opposition der Koalitionsregierung von SPD und Grünen unter Bundeskanzler Schröder. In dieser Zeit galt er als innerparteilicher Hauptrivale der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel. Vor den Bundestagswahlen 2002 war Merz Mitglied im Schattenkabinett des CDU/CSU-Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber. Nach der Wahlniederlage war er von 2002 bis 2004 stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion und Mitglied des CDU-Vorstands. Vor den Bundestagswahlen 2009 hat er seinen Rückzug aus der öffentlichen Politik angekündigt.
Danach war Merz zehn Jahre lang als bei diversen Unternehmen als Jurist tätig und war Vorstands- und Aufsichtsratsmitglied mehrerer deutscher Unternehmen. 2018 entschied er sich, in die Politik zurückzukehren und für den durch den Rückzug von Merkel frei gewordenen CDU-Vorsitz zu kandidieren. Beim 31. Bundesparteitag der Christlich Demokratischen Union unterlag er schließlich Annegret Kramp-Karrenbauer im zweiten Wahldurchgang mit einem geringen Abstand von 51,75 zu 48,25 Prozent. Im Januar 2021 hat sich Merz zum zweiten Mal erfolglos um den Parteivorsitz beworben und diesmal eine Niederlage (mit 52,79 zu 47,21 Prozent) gegen Armin Laschet erlitten. Trotz oder vielleicht genau wegen der beiden knappen Niederlagen hat sich Merz im Oktober 2021 für den Parteivorsitz beworben, der durch den Rücktritt Laschets frei geworden ist. Über den neuen CDU-Vorsitzenden konnten – erstmals in der Geschichte der CDU – diesmal alle Parteimitglieder abstimmen (nach der Online-Abstimmung vom 04. bis zum 16. Dezember wird der designierte Parteivorsitzende formell beim CDU-Parteitag im Januar 2022 den Vorsitz übernehmen).
Schließlich hat Merz mit einer unerwartet klaren Mehrheit gewonnen: bei einer Wahlbeteiligung von 66,02 Prozent aller Mitglieder hat er bereits im ersten Wahlgang mit 62,1 Prozent die erforderliche absolute Mehrheit der Stimmen erhalten.
Seit der deutschsprachigen Erstausgabe haben die Gedanken des Autors nicht an Aktualität eingebüßt und mit der zunehmenden Zahl an Herausforderungen für die Bundesrepublik und Europa an Bedeutung zugenommen.
Von einer auf lange Sicht nachhaltigen Entwicklung über die Stärkung der globalen Rolle und der globalen Wettbewerbsfähigkeit Europas bis hin zur Wiederverankerung des politischen Kompasses für die deutschen Parteien rechts der Mitte und vor Allem für die CDU – der Autor führt uns den zahlreichen wesentlichen und für die Zukunft Deutschlands unvermeidlichen Fragen näher. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich Merz der leichteren, eher zur Belustigung führenden Äußerungen und Geschichten enthält. Vielleicht mag Merz nur im Untertitel über die Zukunft Europas – „Europa: Champions League oder Bezirksliga?“ – dieser Versuchung erlegen sein, allerdings muss man in Ungarn, im Land der zehn Millionen Nationaltrainer niemandem erklären, welche Optionen er sich für die Zukunft Europas vorstellen kann. Wie Merz schreibt:
„Europa wird als Gemeinschaft nur dann stark sein, wenn es zu einem starken Zusammenschluss gleichrangiger Partner wird. Wenn wir zu einer solchen Gemeinschaft verschmelzen, werden wir auch politisch mehr Gewicht haben als die Gesamtheit aller unserer Teile. Und letzten Endes entscheidet dieses Gewicht darüber, ob wir in der Champions League der politischen Großmächte der Welt spielen werden oder als Spielball der Großen in der Bezirksliga bleiben.“
Wie sich Merz zu Beginn des Buches – zukunftsträchtig – mit den Auswirkungen der verschleppten Coronavirus-Pandemie beschäftigt, so wird auch zum Schluss ein Thema behandelt, das immer mehr an Aktualität gewinnt: die Zukunft der deutschen Christdemokratie und die CDU als Partei. Die CDU brauche einen erneuerungsfähigen Parteivorsitzenden mit Weitblick – stellt Merz fest.
Ein Führungswechsel allein ist allerdings nicht genug, um die Identitätskrise und die daraus bedingte strukturelle Schwäche der Partei zu beseitigen. Aktuell ist die CDU nämlich überwiegend zu einer Partei mit einer Wählerschaft im mittleren Lebensabschnitt und von Rentnern geworden. Sie hat dabei versäumt, Einwände und Gegenmeinungen zuzulassen, und auch zu wenig Wert auf jene Fragen gelegt, die für die junge Wählerschaft besonders wichtig sind – das übernahm der politische Gegner. Dabei ist der Begriff des Konservativismus zu einem Schimpfwort verkommen.
Wie Merz schreibt: „Der Grund, weshalb der Konservativismus einen derart zweifelhaften Ruf in Deutschland erworben hat, ist auch darin zu suchen, dass es die CDU über lange Jahre hinweg versäumt hat, diesen Begriff im positiven Sinne mit eigenen Inhalten und Botschaften zu gestalten. Stattdessen hat unsere Partei gelähmt zugesehen, dass unsere linken politischen Gegner den Konservativismus praktisch mit einer reaktionären Gedankenwelt identifizieren, während die wirklich reaktionären rechtsextremen Kräfte sich in der Rolle der wahren Hüter des Konservativismus geben können.“
Die Suche der CDU nach einem Weg in der Nach-Merkel-Ära scheint sich damit schwierig zu gestalten, und zwar sowohl für Merz, als auch für die Partei, wobei der taktische Vorteil, Politik aus der Opposition zu machen, die Lage nur ein wenig erleichtern wird. Obwohl es jetzt an der Regierungskoalition von SPD, Grünen und der FDP liegt, die außerordentlich hoch gesteckten Punkte des Regierungsprogramms und der Erklärungen durch Taten zu untermauern. Durch die besondere Struktur des deutschen Föderalstaates ist auch die CDU – auf Landesebene – an der Regierung geblieben. Nichtsdestotrotz hat Merz eine Vision und Merz möchte regieren. Dazu braucht er eine neue CDU. Friedrich Merz lässt keinen Zweifel daran, an der Spitze dieser Partei stehen zu wollen. Merz schreibt am Ende seines Buches:
„Ich wünsche mir eine CDU, innerhalb der wir offen über den richtigen Weg sprechen und in der wir nach einer Übereinkunft unseren Standpunkt klar nach außen vertreten können. Eine CDU, die den ins Persönliche gehenden Angriffen und der Verrohung unserer politischen Sprache entgegentritt. Eine CDU, die die Vielfalt lebt. Eine CDU, die in der Lage ist, zu lernen. Eine CDU, die mit jungen Leuten zurechtkommt und bereit ist, sich neuen Themen anzunehmen, die – wenn erforderlich – einen klaren Standpunk vertritt und die Richtung weist. Eine Partei, die berechenbar ist, weil jeder weiß, wo sie steht.“
Friedrich Merz: Neue Zeit – Neue Verantwortung: Demokratie und soziale Marktwirtschaft in Deutschland im 21. Jahrhundert (ungarische Ausgabe bei MCC Press, 2022, 220 Seiten)