Jahrelang als Aspirant gehandelt, erhält László Krasznahorkai nun den begehrten Preis.
Am 9. Oktober wurde es publik: Der diesjährige Literatur-Nobelpreis geht an den 71-jährigen Ungarn László Krasznahorkai. Er ist damit nach Imre Kertész der zweite Preisträger dieser renommierten Auszeichnung für Literatur, doch innerhalb weniger Jahre der dritte Ungar, der einen Nobelpreis zuerkannt bekommt – nach Katalin Karikó (Medizin) und Ferenc Krausz (Physik), die 2023 ausgezeichnet wurden. Das mittelgroße mittelosteuropäische Land ist dafür bekannt, dass es der Welt überproportional viele Nobelpreisträger schenkte, doch viele bereits im Ausland ihr Wirken entfalteten. Der heuer Ausgezeichnete lebt zwar schon seit Jahren in Berlin, doch verbrachte er Kindheit und Universitätsjahre in seinem Heimatland, die ersten Werke schuf er hier. Gerade darum ist man in Ungarn stolz auf den Drehbuchautor und Schriftsteller. Das ganze Land gratulierte ihm unisono, und auch wenn Krasznahorkai als bekennender politischer Gegner der Orbán-Regierung gilt, ließ es sich der Ministerpräsident nicht nehmen, dem Nobelpreisträger persönlich zu gratulieren. In historischen Stunden wie der Zuerkennung eines Nobelpreises oder etwa dem Papstbesuch sind die Ungarn vereint, politischer Streit wird beiseitegelegt.
Das Nobelpreiskomitee würdigte die Ungarn mit folgenden Worten: „…für sein fesselndes wie visionäres Werk, das inmitten apokalyptischen Schreckens die Macht der Kunst bekräftigt.“ Die erste Reaktion von Krasznahorkai auf diese Ehrung war bezeichnend für seinen schalen Humor: Dem schwedischen Radio gegenüber erklärte er, dass er ruhig und unruhig zugleich sein. Darauf angesprochen entgegnete er trocken wie grotesk: „Es ist bisher der erste Tag, an dem ich den Nobelpreis erhalten habe.“ Der Erfolgsautor wurde am 5. Januar 1954 in der südosteuropäischen Kleinstadt Gyula nahe der rumänischen Grenze geboren. Diese entlegene Gegend Ungarns, weit weg von der Hauptstadt Budapest, wird als „Sturmecke“ bezeichnet, weil sie dem Land stürmische Umbrüche und wetterfeste Charaktere bescherte. Krasznahorkai ist ein ebensolcher sturmerprobter und erdverwachsener Schriftsteller. Seine Werke sind voller Wucht und von erschlagender Stärke, erzählerischer Klarheit und tiefen Gedanken.
Sein Erstlingswerk „Satanstango“ – in allen Sprachen der Welt fast gleich geschrieben – erschien vor genau 40 Jahren. Damals gerade 30 geworden, beschrieb Krasznahorkai mit seinem Hauptcharakter „Futaki“ auf fabelhafte Weise die inneren Brüche und Spannungen in einer südostungarischen Siedlung, in der das kommunistische Kolchosenwesen Verfall und Trostlosigkeit brachte. Das Werk ist eine Absage an Ideologie und Verheißung und war in den späten 1980-er Jahren des ungarischen Kádárregimes eine unerhörte literarische wie politische Meisterleistung, die zurecht in viele Sprachen übersetzt wurde.
Auch dem deutschen Leser dürfte das Wirken von Krasznahorkai nicht ganz verborgen geblieben sein. In deutscher Sprache finden sich mit dem weltbekannten „Satanstango“ die literarische Ouverture von 1985 als auch andere Stücke, allen voran der in Deutschland handelnde Roman „Herscht 07769“. Diese Erzählung spielt in der fiktiven Thüringer Kleinstadt namens Kana, deren Postleitzahl im Werk als 07769 geführt wird. Es bedarf kaum großer Ortskenntnisse, um aufzuspüren, dass sich der Schriftsteller am fast gleichnamigen Städtchen Kahla südlich von Jena orientiert, mit der fast identischen Postleitzahl 07768. In den letzten Jahren für seine aus Jena herausgedrängte Neonaziszene bekannt, steht Kahla für eine in Ostdeutschland angeblich grassierende Xenophobie und Kleingeistigkeit. Auch der Autor bedient sich dieses Klischees, indem er Kana symbolisch für den in seiner Lesart rückwärtsgewandten und fremdenfeindlichen Osten stellt.
Der Protagonist, Florian Herscht, ist ein einfacher wie behäbiger Hilfsarbeiter, der sich mit schlecht bezahlter Fassadenreinigung über Wasser hält. Dabei stehen er und die anderen Putzmänner wohl als Chiffre einer vorgeblichen Säuberung nicht nur der Hauswände, sondern auch abweichender Meinungen. Der Vorgesetzte, einfach nur „Boss“ genannt, nutzt Herscht nicht nur wirtschaftlich wie existenziell schamlos aus, sondern will ihn auch politisch instrumentalisieren. Dessen plumptes Werben um den Eintritt in die „Einheit“, eine Neonazi-Schlägertruppe und das fast schon fanatische Eifern um diese Gesinnung auch optisch feiernde Tattoos, lassen den Boss in den Augen von Florian Herscht zur furchterregenden Allmacht wachsen. Nomen non est omen: Herscht herrscht nicht, sondern wird beherrscht. Umso mehr verwundert, dass der aus prekären materiellen wie intellektuellen Verhältnissen stammende Herscht sich ein Herz fasst und der Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Brief aufsetzt, vor der nahenden Apokalypse warnend. Als Absender schreibt er lediglich seinen Nachnamen und die Postleitzahl aufs Couvert, in der wohlweislichen Annahme, dass ihn im Örtchen wohl jedermann kennt. Doch eine Antwort lässt auf sich warten. Aus diesem beflissenen Absendercode ist der zunächst verwirrende Titel des ganzen mehr als 400 Seiten starken Werkes geworden, das aus einem einzigen Satz besteht. Der Gebäudereiniger sucht in der vermeintlichen Verheißung Merkel die Flucht aus seiner alltäglichen Misere, doch die politische Botschaft ist unüberhörbar: Die Bundeskanzlerin erscheint als Retterin aller Geknechteten, aller Unterdrückten – dieses wohlfeile Bild zu fertigen entsprach wohl den späten Merkeljahren: „Nein, sie ist anders, sie hört auf die einfachen Bürger“ (S. 29). Dass ausgerechnet ein ausländischer Beobachter dieses Zerrbild zeichnet, spricht von der umfassenden Verankerung von Krasznahorkai in den deutschen Verhältnissen, auf die er sich mit diesem Buch zutiefst einlässt. Mit der politischen Aussage kann man streiten, doch mit der erzählerischen Wucht, der tiefen Kenntnis der ostdeutschen Stimmung und mit dem feinsinnigen Gespür für Land und Leute freilich nicht – diese sind nämlich gut gelungen.
Der Literaturnobelpreis für den streitbaren László Krasznahorkai wird sicherlich die innerdeutschen Debatten um die politischen Verhältnisse in Ostdeutschland weiter befeuern. Die Auszeichnung wird von einigen auch als Ansporn für das kritiklose Übernehmen der Narrative des stumpfen Ostens herhalten müssen – leider. Die Wahrheit ist viel komplexer, als dass selbst ein gut geschriebener und fesselnder Roman sie ausdrücken kann. Die Gegenwartskritik mag durchaus berechtigt sein, doch schlussendlich müssen die Menschen vor Ort entscheiden, wem sie ihre politische Zukunft anvertrauen. Dieser Befund kann und muss für Deutschland zutreffen, doch auch für das Heimatland des Autors muss er gelten. In einem halben Jahr finden dort Parlamentswahlen statt. Es ist nicht ganz ausgeschlossen, dass die Bilder und Codes von Krasznahorkai auch in dortigen Wahlkampf instrumentalisiert werden. Davor sollten verständige Leser gefeit sein, schon deshalb ist die Lektüre von Krasznahorkai dringend empfohlen.