Ein Werk, das in seinem Gehalt und Umfang lange auf sich warten ließ: Beim Buch „Der ungarische Staat – Ein interdisziplinärer Überblick“ handelt es sich um einen akademischen Sammelband, in dem auf über 500 Seiten knapp dreißig Autoren aus Politik, Wissenschaft und Kultur verschiedenste Aspekte von Ungarns Geschichte und Gegenwart unter die Lupe nehmen.

Erschienen ist es im Frühjahr 2021 in der Reihe „Staat-Souveränität-Nation“ des Springer-Verlages. Der von Rüdiger Voigt herausgegebenen Reihe liegt die Annahme zu Grunde, dass der souveräne Nationalstaat kein Auslaufmodell ist. In der politischen Praxis ist Ungarn dafür im letzten Jahrzehnt ein Beispiel gewesen, was es einerseits zur Zielscheibe vieler Linksliberaler, andererseits zum Vorbild vieler konservativer Denker machte.

 In die Tiefe der Diskurse schauen

Gerade in der deutschen Öffentlichkeit und ihrer Meinung zu Ungarn lässt sich dies exemplarisch nachvollziehen. Vor allem der Großteil der Medien tadelt das Land unentwegt für seinen vermeintlichen autoritären und nationalistischen Kurs, andere ahnen wiederum, in Ungarn herrsche noch eine Politik des „gesunden Menschenverstandes“. Ungeachtet welcher politischen Couleur man ist, lohnt es sich, einen Blick hinter die Fassade des Alltagsjournalismus zu wagen. Das heißt, das Land besuchen, sich ein Bild machen, oder eben in die Tiefe der Diskurse schauen, wozu auch das Durcharbeiten wissenschaftlicher Aufsätze gehören mag. Das besprochene Werk bietet dafür eine gute Gelegenheit. Vorangegangen ist dem Sammelband sein im Jahre 2019 publiziertes ungarisches Original, dessen Titel „Tausend Jahre in Europa – Der Charakter des ungarischen Staates“ für sich schon an ein Manifest erinnert. Seit seinem Erscheinen vor zwei Jahren erfuhr es einen breiten akademischen und gesellschaftlichen Widerhall und wurde zudem als ein Kompendium konservativer Politik in Ungarn verstanden. Die dort abgedruckten Beiträge ließ man für die deutsche Fassung übersetzen und lektorieren, ergänzt wurde die Ausgabe mit einem Vorwort von Ministerpräsident Viktor Orbán. Herausgeber und Co-Autoren des Bandes sind Zoltán Szalai, Generaldirektor des Mathias Corvinus Collegiums (MCC), und Balázs Orbán, der neben seinem Amt als parlamentarischer Staatssekretär auch Vorsitzender des MCC-Kuratoriums ist. Das MCC ist Ungarns größte Talentschmiede, bei der auch das Deutsch-Ungarische Institut für Europäische Zusammenarbeit angesiedelt ist. Letzteres organisierte letzten November gemeinsam mit der Konrad-Adenauer-Stiftung die Vorstellung des Buches in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Tor zum Westen als auch zum Osten

Ungarn verstehen – so könnte man das Kernanliegen des Buches prägnant skizzieren. Ungarn, das auf eine tausendjährige Staatlichkeit zurückblicken kann, durchlebte Monarchien, Fremdherrschaft, Diktaturen und Demokratien mit verschiedensten Attributen. In dieser Zeit hat sich in Ungarn eine besondere Formation aus Sprache, Sitten, Geschichte und Politik gebildet. Zahlreiche Völker, die mit den Ungarn im Karpatenbecken siedelten, haben die ungarische Kultur bereichert. Über die Jahrhunderte war Ungarn stets sowohl ein Tor zum Westen als auch zum Osten. All das steckt im Ungarn der Gegenwart drin, was heißt, dass Ungarns rechtliches und politisches System untrennbar mit der Geschichte des Landes, seiner Werte und seiner Kultur verbunden ist. Diese verschiedenen Schichten, ob nun das historisch gewachsene Rechtssystem, die Sprache oder sogar die Musik, tragen allesamt zum „Charakter“, zur Persönlichkeit des ungarischen Staates bei und definieren ihn, so die Herausgeber des Werkes. Balázs Orbán, gefragt nach der Entstehungsgeschichte des Buches, betonte, dass es „ursprünglich nicht für Ausländer geschrieben wurde. Es entstand für uns Ungarn, die seit dreißig Jahren endlich in Freiheit leben können, nachdem sie zwei Diktaturen durchmachen mussten. Die neue Generation muss lernen, wer wir sind, woher wir kommen, wie wir gegenwärtig handeln und warum.“ Dass dieses Buch, nachdem es zunächst den Ungarn ihr eigenes Land näherbringen wollte, nun nicht etwa in englischer, sondern in deutscher Sprache erschien, zeigt indes klar, welche zentrale Rolle die deutschsprachigen Länder in der ungarischen Geschichte einnehmen. Ebenso zeigt es, wie wichtig es den Ungarn ist, dem wohl von vielen Deutschen geforderten „Erklärungsbedarf“ zu entsprechen.

Große Bandbreite an Themen

Geschrieben haben die Beiträge unter anderem namhafte Kulturhistoriker, Juristen, Ökonomen und auch Politiker. Um einige zu nennen: Tamás Sulyok, der ungarische Verfassungsgerichtspräsident, Kanzleramtsminister Gergely Gulyás oder Slomó Köves, der Vorsitzende der Vereinigten Israelitischen Glaubensgemeinschaft Ungarns. So vielfältig die fachliche Herkunft der Autoren ist, so groß ist auch die Bandbreite der Themen. Es finden sich neben Texten mit Überschriften wie „Zur konstitutionellen Identität Ungarns“ oder „Staatstheoretisches Denken in Ungarn und das deutsche Geistesleben“ auch Beiträge mit Titeln wie „Das Judentum und die ungarische Staatlichkeit“ oder „Musik und der ungarische Staat – Dohnányi, Bartók und Kodály“. Damit geht das Werk weit über rein staatstheoretische oder rechtswissenschaftliche Schriften hinaus, in denen ein Staat vor allem durch seine Verfasstheit, seine Gesetze und seine Staatsphilosophie beschrieben wird. Der rote Faden von „Staat–Souveränität–Nation“ durchzieht jedoch auch die kulturgeschichtlichen oder wirtschaftspolitischen Aufsätze des Buches. Als „interdisziplinärer Überblick“ gedacht wurden die Beiträge in fünf Kapitel unterteilt. Den Auftakt bildet „Ungarn heute“, mit Abhandlungen etwa zur Rolle und zur Geschichte der Verfassungsgerichtbarkeit Ungarns, zur aktuellen Zusammensetzung der ungarischen Gesellschaft oder zur Rolle des Christentums in der Staatlichkeit. Es folgt der Abschnitt „Ungarn damals“. Hier kommen unter anderem die Nationalsymbole Ungarns zur Sprache, wie etwa die Stephanskrone als durchgängiges Symbol der ungarischen Staatlichkeit, der Turul-Vogel, die Nationalhymne oder die Kokarde. Außerdem ergründet der australische Musikwissenschaftler Malcolm Gillies die Symbole der ungarischen Seele in der ungarischen Musik. Der ungarischen Seele, oder eben „ungarischen Denkweise“, ist hiernach konsequent ein eigenes Kapitel gewidmet. In diesem Kapitel werden staatstheoretische Konzepte wie auch die rechtlichen sowie inhaltlichen Besonderheiten des ungarischen Grundgesetzes von 2011 diskutiert. Insbesondere die Symbiose von Verfassungstradition, Geschichte und moderner rechtlicher Kodifizierung vermag einiges über die genuinen Besonderheiten des ungarischen Rechtssystems auszusagen. Darauf folgt der vierte thematische Block – „Ungarn international“ – mit Aufsätzen unter anderem zur Rolle der Minderheiten im Lande und zur Wahrnehmung Ungarns im Ausland. Der Sammelband schließt mit den Beiträgen zur „Ungarischen Wirtschaft und Gesellschaft“, in denen vorrangig die Wirtschaftspolitik der letzten zehn Jahre besprochen wird.

Fazit

Dank der Vielzahl und thematischen Vielfalt der Aufsätze erfährt der Leser wesentlich Neues über Ungarn – und vor allem aus einem vielleicht neuen Blickwinkel, der für manchen vielleicht etwas unkomfortabel wirkt. Schließlich sind Begriffe wie „Nation“, „illiberales Staatskonzept“ oder „Volksseele“ auf Deutsch mit einem gewissen Vorgeschmack versehen – für einen Ungarn haben diese Worte eine überwiegend positive Bedeutung inne. Festzustellen sind zudem das makellose Lektorat und die gelungene Übersetzung, die das flüssige Lesen des Werkes ermöglicht, was bei vielen Übersetzungen aus dem akademischen Ungarischen ins wissenschaftliche Deutsche leider nicht der Fall ist. Weniger erfreulich ist bisweilen, dass einige Beiträge bei Weitem zu kurz sind, als dass sie akademisches Neuland präsentieren könnten. Zudem wäre anstelle einer reinen Übersetzung sicherlich eine Neujustierung des Werkes in Hinblick auf das deutschsprachige Publikum von Vorteil gewesen: Wenngleich mehrere Artikel das deutsch-ungarische Verhältnis thematisieren, hätte man mit der einen oder anderen Zugabe sicher noch mehr Leser gewinnen können. Alles in allem ist „Der ungarische Staat – Ein interdisziplinärer Überblick“ eine für die Diskurse der ungarischen Gegenwart unerlässliche Hintergrundlektüre. Es empfiehlt sich als ein Schlüssel zum ungarischen Denken, zur ungarischen Geschichte und zum Verständnis des ungarischen Staatsaufbaus. Auch mit Blick auf diese große Verheißung sollte man den Buchpreis von derzeit 79,99 Euro keinesfalls als zu teuer bewerten.