Die großen Verlierer der deutschen Wahlrechtsreform sitzen in den Reihen der Opposition: Vor allem der CSU und der Linkspartei droht das Aus.
In der Bundesrepublik hat die Ampel-Regierungsmehrheit das Bundeswahlgesetz, welches seit 1949 in seinen Grundzügen unverändert galt, im Eiltempo novelliert. Der große Verlierer dieser Reform kann die Opposition werden, weil die Neuregelung zwei Oppositionsparteien (der CSU und der Linken) einen Schlag versetzt, der sich unter Umständen auch als fatal erweisen kann. Diese Vorgehensweise gilt in der deutschen Konsensdemokratie als wahrer Tabubruch. Die Opposition wird das Bundesverfassungsgericht anrufen und sich politisch in Zukunft mit aller Macht für die Rücknahme dieser Wahlrechtsreform einsetzen.
„Arrogant bis zum Gehtnichtmehr, das ist diese Ampel!“ – so der Zwischenruf des Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe bei der parlamentarischen Debatte im Bundestag. „Arroganz der Macht!“ – fuhr er fort. Was ist aber wirklich am 17. März in Deutschland im Bundestag passiert? Fakt ist, dass der Bundestag mit 399 Stimmen gegen 261 Gegenstimmen – mit einer einfachen Mehrheit – die wohl größte Wahlrechtsreform im Nachkriegsdeutschland verabschiedet hat. Aus der Abstimmung und der Plenardebatte ging es hervor, dass die sog. Ampelkoalition aus der SPD, den Grünen und der FDP eine harte Konfrontation mit den Oppositionsfraktionen eingegangen ist. Während die Regierungskoalition den Entwurf diszipliniert unterstützt hat, führte die Opposition ein erbitterten Abwehrkampf gegen diesen.
Im Zuge der deutschen Wahlrechtsreform können auch ungarische Leser Argumentationen und Motive entdecken, die ihnen bekannt vorkommen.
Der uferlose Bundestag
Das personalisierte Verhältniswahlrecht für den Deutschen Bundestag – dem deutschen Bundesparlament – ähnelt dem ungarischen Grabenwahlrecht nur oberflächlich. Den bisherigen Bestimmungen nach hatte der Bundestag 598 Mitglieder, wobei 299 Abgeordnete in den Einzelwahlkreisen und die übrigen über 16 Landeslisten gewählt wurden. In der Regel waren das ebenfalls 299 Abgeordnete, allerdings wird davon oft nach oben abgewichen. Mit diesem bundesdeutschen Wahlrecht wurde der Grundsatz einer proportionalen Vertretung umgesetzt, wobei dementsprechend jeder Partei Mandate nach dem jeweiligen Listenergebnis zugewiesen wurden. Das bedeutet, dass die Direktmandate einer Partei von der Anzahl der Listenmandate in Abzug gestellt wurden. Das gilt auch umgekehrt: hat eine Partei mehr Wahlkreise gewonnen, als ihr nach dem Listenergebnis zugestanden hätten und dadurch sog. Überhangmandate erhalten, wurden auch den anderen Parteien Ausgleichsmandate zugewiesen. So wurde der Proporz unter den Parteien wiederhergestellt.
Bei den letzten Wahlen haben die beiden großen Parteien – die SPD und das Parteibündnis CDU/CSU – jeweils nur ein Listenergebnis von um 25 Prozent erreicht, aber in 264 von 299 Wahlkreisen gewonnen, sodass außerordentlich viele Überhangs- und Ausgleichsmandate entstanden sind. Zusätzlich musste auch das Verhältnis unter den Bundesländern gewahrt bleiben, weshalb die Anzahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages von 598 plötzlich auf einen Allzeithoch von 736 gestiegen ist. Obwohl bereits das bisherige System völlig proportional war, blieben doch gewisse Überreste des Mehrheitswahlrechts wie bspw. die Überhangmandate und das Grundmandatsklausel erhalten – ausführlich auch hier hier zu lesen!
Hintergrund für diesen komplexen Mechanismus ist, dass in letzter Zeit vor Allem die Volksparteien immer mehr Stimmenanteile eingebüßt haben, andererseits aber immer noch unverhältnismäßig viele Direktmandate errungen haben, noch dazu mit stellenweise sehr schwachen Ergebnissen (zum Beispiel hat der Direktkandidat der CDU in Dresden in der dortigen multipolaren Parteienlandschaft das Mandat mit einem Ergebnis von 18 Prozent gewonnen). Über die Widrigkeiten des bisherigen Wahlrechts schrieb Bence Bauer eine Analyse im Juni 2021, abrufbar unter dem Link: https://corvinak.hu/de/vilag/2021/06/28/was-ist-das-problem-mit-dem-deutschen-wahlsystem .
Das Einvernehmen der Friedensjahre
Das vorab beschriebene Wahlsystem ist nicht ohne Grund derart kompliziert geworden.
Das Wahlrecht des 1871 gegründeten deutschen Staates, des Deutschen Kaiserreichs war noch einfach gestaltet: sämtliche Abgeordnete haben ihr Mandat in den Einzelwahlkreisen errungen. Deutschland versank im Zuge des Ersten Weltkriegs in eine Militärdiktatur, was in den Augen der Deutschen dem Mehrheitswahlrecht ein Stigma verliehen hat. Auch aus diesem Grund hat die 1919 gegründete Weimarer Republik bewusst mit dieser Tradition gebrochen. In dieser Republik wurde ein reines Verhältniswahlrecht ohne Prozenthürde eingeführt. Auch diese Lösung hat die Prüfungen der Zeit nicht bestehen können und die Nationalsozialisten haben auch bewusst ihre Schwächen ausgenutzt, sodass das reine Verhältniswahlrecht zu einem noch heftigeren Weltenbrand beigetragen hat – so zumindest die politische Wahrnehmung der Nachkriegszeit.
Das neue Wahlgesetz ist deshalb in 1949 als Kompromisslösung entstanden: die Gründer des neuen deutschen Bundesstaates haben den Versuch unternommen, die Vorteile der Verhältnis- und der Mehrheitswahl in einem System zusammenzuführen. Diese Lösung hat sich endlich bewährt und wurde zu einem festen Bestandteil der politischen Kultur in der Bundesrepublik. Bis zum 17. März dieses Jahres hat es keine politische Kraft den Mut aufgebracht, mit der Logik dieses Systems zu brechen, obwohl eine Änderung lediglich einer einfachen parlamentarischen Mehrheit bedurft hätte. Sämtliche Parteien haben sich an dieses Einvernehmen gehalten und das gegenseitige Vertrauen war bis dato ungebrochen.
Der status quo musste letzten Endes deshalb verändert werden, weil die neuen Wahlergebnisse zu Lasten der größeren Parteien zu Regenbogenverhältnissen geführt haben (bspw. sind mehr Parteien ins Parlament gewählt worden: im aktuellen 20. Bundestag sitzen acht Parteien). Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht mehrere Urteile gefällt, die zu einem Anstieg der Anzahl der Ausgleichsmandate geführt haben. Durch die Kombination dieser zwei Faktoren ist die Anzahl der Abgeordneten viel zu hoch geworden – zugleich stieg auch wegen dieses parlamentarischen „Wasserkopfes“ die Unzufriedenheit der Bundesbürger.
Neuer Kompromiss gesucht
Nach den Bundestagswahlen im Jahr 2013 war der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) der wichtigste Befürworter einer Wahlrechtsreform mit der Aussage, dass mit einer steigenden Anzahl von Bundestagsabgeordneten auch dessen Arbeit behindert werde. Lammert hat es nicht geschafft, einen Konsens zwischen der damaligen, von Angela Merkel angeführten Regierungskoalition aus CDU/CSU und der SPD sowie der Opposition zu erreichen. Über die erforderliche Mehrheit verfügte die Koalition zwar, jedoch hielt man sich an die ungeschriebene Regel, dass es keine Wahlrechtsreform ohne Zustimmung der Opposition geben soll. Im Zuge der Bundestagswahlen 2017 wurde das Problem noch schwerwiegender, aber auch der Nachfolger Lammerts, Wolfgang Schäuble (CDU) ist einer Lösung nicht nähergekommen. Mit den Bundestagswahlen 2021 ist zwar die CDU/CSU in die Opposition gekommen, aber auch die neu gebildete linke Koalition unter Olaf Scholz hat eine Wahlrechtsreform angekündigt.
Verschiedene Interessen – verschiedene Demokratien?
Aber weshalb hat man es nicht geschafft, einen Kompromiss für die neue Reform zu finden? Die Antwort liegt in der unterschiedlichen Wählerschaft der parlamentarischen Parteien. Die Interessen der SPD und der CDU/CSU lagen zunächst ähnlich. Traditionell sind sie die beiden stärksten Parteien in Deutschland gewesen und konnten in allen Landesteilen ansehnliche Erfolge erzielen. Den Löwenanteil der Wahlkreise haben immer diese beiden Parteien gewonnen. Ihnen hat dieser alte Konsens grundsätzlich gepasst, weil er gewährleistet hat, dass es überall im Land vor Ort gewählte und auch vor Ort verantwortliche Wahlkreisabgeordnete geben soll.
Die Ergebnisse der SPD sind aber in den vergangenen Jahrzehnten zurückgegangen und die Unionsparteien haben dadurch immer mehr Wahlkreise gewonnen, obwohl sie auf der Liste schwächer abgeschnitten haben. Der Grund war, dass die Fragmentierung zugenommen hat und der Abstand zwischen der CDU und dem Zweitplatzierten (in der Regel der SPD) größer wurde. Die Sozialdemokraten lagen zwar bei den Bundestagswahlen 2021 geringfügig vor der CDU/CSU und konnte dadurch gemeinsam mit den Grünen und den Freien Demokraten die Bundesregierung bilden. Ungeachtet dessen wurde in den Reihen der SPD erkannt, dass es sich dabei nur um einen Übergangserfolg handeln könnte und die Repräsentation der Wahlkreise zu Gunsten der Listenmandate zu schwächen sei, wobei die Mehrheitstraditionen komplett aufgegeben werden.
Die Situation stellt sich für die Grünen und die FDP noch eindeutiger dar. Beide Parteien sichern sich ihre Mandate fast ausschließlich über die Liste, dazu noch spielt lokale Verankerung vor Ort für diese Parteien eine geringere Rolle. Interessant ist zu erwähnen, dass auch die Wahlinteressen der rechtspopulistischen AfD ähnlich gelagert sind, wie die Bestrebungen der Grünen und der FDP, daher haben viele AfD-Abgeordneten gerne für den linksliberalen Vorschlag gestimmt.
Die andere Besonderheit der deutschen Parteienlandschaft besteht darin, dass es auch regional stark verwurzelte Parteien gibt. Die bürgerliche CDU tritt im Freistaat Bayern gar nicht an, sehr wohl jedoch ihre Schwesterpartei CSU, die wiederum ausschließlich hier zur Wahl steht. Das gilt auch für die Kommunal-, Landes- und Bundespolitik, das heißt die Kandidaten und Listen in Bayern werden von der CSU gestellt, andernorts von der CDU. Die CSU hat 2021 insgesamt 37 Prozent der Listenstimmen in Bayern geholt und 45 der 46 Wahlkreise gewonnen. Auf Bundesebene wiederum gilt die CSU als kleine Partei, sodass sie auf ganz Deutschland bezogen ein Listenergebnis von lediglich 5,2 Prozent erreicht. Deshalb zählte für die CSU im alten Wahlsystem nur eins: die Zahl der eigenen Direktmandate im Berliner Bundestag. Seit 2017 hat seit kein Listenmandate mehr im Deutschen Bundestag innegehabt.
Darüber hinaus war im alten Wahlgesetz die sog. Grundmandatsklausel vorgesehen: diese sieht vor, dass sofern eine Partei mindestens drei Wahlkreise gewonnen hat, für sie die Fünf-Prozent-Klausel nicht mehr gilt, und sie auch Mandate über die Listen erringen kann. Diese Grundmandatsklausel war für die Linke immer besonders wichtig. Die Linke hat als Nachfolgepartei der ostdeutschen kommunistischen Partei in den neuen Bundesländern höhere Ergebnisse erzielt, als im Westen. Auf Bundesebene ist sie deshalb zweimal an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, erfüllte jedoch wegen ihrer gewonnenen Direktmandate die Grundmandatsklausel. So war es 1994, aber auch bei den letzten Bundestagswahlen 2021. In der bisherigen Situation hatte diese Klausel seit 2017 für die CSU keine Relevanz, weil sie nur Direktmandate hatte und keine Abgeordneten über die Liste in den Bundestag entsandt hat. Das kann sich aber jetzt ändern.
Gesetzgebung im Eiltempo
Die SPD, die Grünen und die FDP haben bereits 2021 im Koalitionsvertrag festgelegt, dass sie eine Reform des Wahlrechts innert eines Jahres zum Ziel haben und dass sie dabei die Rolle der Verhältniswahl gegenüber Wahlkreisresultaten stärken wollen. Sie haben zwar einen Wahlrechtsausschuss gebildet, allerdings kann nicht dieser Ausschuss, sondern drei Abgeordnete, Sebastian Hartmann (SPD), Till Steffen (Grüne) und Konstantin Kuhle (FDP) als Väter der Novelle des Wahlgesetzes gelten. Die Reform wurde formell nicht von der Bundesregierung, sondern von den drei Fraktionen der Koalition eingebracht. Dadurch hat die Vorlage sowohl die Abstimmung zwischen Innen- und Justizministerium, wie auch die bei Regierungsvorlagen vorgeschriebene sechswöchige Stellungnahme des Bundesrates umgangen.
Besonders pikant an der Geschichte ist, dass die Vorlage eine Woche vor der Plenarabstimmung abgeändert wurde, sodass die Zeit lediglich für die Behandlung der weitreichenden Ergänzungen eine einzige Ausschusssitzung umfasst hat
Abwertung der einzelnen Wahlkreise
Wie in Zukunft das neue deutsche Wahlrecht aussehen wird, ist im verabschiedeten Gesetzentwurf zu lesen. Formal sticht am meisten ins Auge, dass die Anzahl der Mandate auf 630 begrenzt wird. Das ist das Einfachste an dieser Reform, alles andere ist dann umso komplizierter.
Gehen wir die Bestimmungen der neuen Reform der Reihe nach durch. Der größte Fehler mag vielleicht darin liegen, dass die Wähler selbst nicht verstehen werden, für wen, für was und warum sie stimmen sollten. Wenn nämlich bei der Wahl Überhangmandate für eine Partei entstehen und das Verhältnis unter den Parteien innerhalb der Obergrenze von 630 Abgeordneten nicht durch Ausgleichsmandate hergestellt werden kann, werden in den Wahlkreisen, in denen die betreffende Partei das jeweils schlechteste Ergebnis erzielt hat, die Mandate nicht vergeben. Darüber hinaus erhalten in Zukunft nur diejenigen Kandidaten ein Direktmandat, deren Partei auch die Fünf-Prozent-Hürde genommen hat. Für unabhängige Kandidaten ist es dadurch praktisch unmöglich, ein Direktmandat zu erhalten. Im internationalen Vergleich existiert eine derartige Regelung praktisch sonst nirgendwo. Darüber hinaus wurde auch die Grundmandatsklausel abgeschafft, weil durch die Reform die Rolle der Wahlkreise reduziert wird und sie gar nicht darauf ausgerichtet ist, regional gut dastehende politische Akteure zu belohnen.
Die Regierungskoalition ließ eine Bombe platzen
Der verabschiedete Gesetzentwurf hat in Deutschland ein politisches Erdbeben ausgelöst. Die jetzt verabschiedeten Änderungen mögen als Detailfragen erscheinen, allerdings stellen sie einen Bruch mit der grundlegenden Logik des Wahlrechts dar: die Mehrheitsabstimmung in den einzelnen Wahlkreisen verkommt zur Kulisse und ausschließlich der Grundsatz der Listenwahl kommt zum Tragen. Zwar war auch das frühere Wahlrecht proportional, allerdings hatten die Wahlkreise noch eine gewisse Bedeutung. Einerseits bedeutete jeder Sieg in einem Wahlkreis ein sicheres Mandat, andererseits wurden in den einzelnen Wahlkreisen erfolgreiche Parteien durch die Grundmandatsklausel belohnt. Das stellt eine erhebliche Veränderung der inneren Logik des Wahlrechts dar. Auch deshalb haben die Mitglieder der Regierungsfraktionen selbst die Reform als größte Wahlrechtsreform der letzten Jahrzehnte bezeichnet.
Noch dazu stellt das von der Regierungsmehrheit verabschiedete neue Wahlgesetz eine existentielle Gefahr für zwei der drei Oppositionsfraktionen – für die Linke und die CSU – dar. Die Linke könnte mit ihrem Wahlergebnis 2021 nach dem neuen Gesetz die parlamentarische Hürde nicht mehr überspringen, weil die Grundmandatsklausel abgeschafft wurde. Damit würde die SPD einen Rivalen auf der linken Seite loswerden, vor allem in den neuen Bundesländern.
Von noch größerer Bedeutung ist vielleicht, dass nach den neuen Regeln auch die bayerische CSU an den Rand des Abgrunds gerät. Erreicht sie nur um ein 0,3 Prozent schlechteres Ergebnis als 2021, kann sie auch dann eine vollständige Wahlniederlage erleiden, selbst wenn alle ihrer Kandidaten im eigenen Wahlkreis gewinnen würden! Aber warum? Weil die CSU, die unter Umständen an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern sollte, in Folge auch die Zuteilung sämtlicher Direktmandate unwiederbringlich verlieren würde. Auch das Schicksal der Direktmandate wird nämlich über die Listenergebnisse besiegelt und außerdem gilt die Ausnahme für Parteien mit mindestens drei Direktmandaten nicht mehr (was jetzt nun für die CSU wichtig gewesen wäre). Alles in Allem verliert also die CSU doppelt bei dieser Reform. Die Partei könnte das nur vermeiden, wenn sie mit ihrer Parteiliste nicht nur im Freistaat, sondern auch bundesweit antreten würde. Damit würde sie aber Stimmen von ihrer Schwesterpartei CDU abwerben, weil gemeinsame Listen im deutschen Wahlrecht bis heute unbekannt sind. Die Regierungskoalition bezweckt damit eindeutig, das größte oppositionelle Parteibündnis sprengen.
Eine neue politische Kultur
Diese Reihe von politischen Tabubrüchen durch die Regierungskoalition kann eine grundlegende Änderung in der Dynamik der deutschen Parteienlandschaft herbeiführen. Die CDU/CSU hat bisher sowohl die Grünen, als auch die Sozialdemokraten mit Samthandschuhen angefasst, weil sei diese in Zukunft unter Umständen als Koalitionspartner brauchen würde. Die Regierungsparteien haben dieses Vertrauen nicht erwidert, sondern das langjährig über die Lager hinweg bestehende politische Einvernehmen bewusst gebrochen. Die Unionsparteien waren für sie nur so lange wichtig, bis sie ihren Interessen gedient haben. Allmählich beginnt auch die bürgerliche Opposition, das zu erkennen.
Laut dem CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz ist das Vertrauen der Regierungskoalition gegenüber erschüttert und er kündigte an, dass die Union zukünftig dafür kämpfen wird, die Reform abzuschaffen. Sowohl die CDU/CSU-Bundestagfraktion, als auch die CSU-geführte bayerische Staatsregierung wollen daher das Bundesverfassungsgericht im Zuge der abstrakten Normenkontrolle anrufen.
Im deutschen Grundgesetz wird allerdings die Frage des Wahlrechts bewusst nicht ausführlich geregelt, daher ist der Ausgang dieser Normenkontrolle ungewiss. Das Grundgesetz war nämlich in 1949 nur als Übergangslösung gedacht und hat letztlich nur deshalb die Prüfung der Zeit bestanden, weil sie von ungeschriebenen Gesetzen der politischen Kultur ergänzt wurde. Wenn die jeweilige Regierungsmehrheit das Wahlrecht ohne Einbeziehung der Opposition drastisch und in ihren Grundfesten verändert und mitunter auch die politische Existenz Anderer gefährdet, besteht die Gefahr, dass das Wahlrecht mit jedem weiteren Regierungswechsel neu geschrieben werden könnte – wenn die bürgerliche Seite überhaupt noch jemals eine Mehrheit erlangen kann. Das erscheint jedoch aus den beschriebenen Gründen als eine sehr schwierige Aufgabe.
Titelbild: Michael Kappeler / DPA / AFP