Eine alte These besagt: Deutschland erreicht nur dann wahre Größe, wenn es nicht sich selbst, sondern „Europa“ vertritt. Eine durch die Deutschen dominierte EU kann stark genug sein, um als Großmacht aufzutreten. Die Frage ist nun, ob das heutige Deutschland im Schatten des seit einem Jahr währenden russisch-ukrainischen Krieges dieser Erwartungshaltung gerecht werden kann.
Polens Außenminister Radosław Sikorski sagte 2011: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger, als deutsche Untätigkeit.“ Dieser Satz widerspiegelt auch heute sehr gut die in vielen europäischen Ländern wahrnehmbare eindeutige Erwartungshaltung, Deutschland sollte nicht untätig sein, nicht zögern und keine Ausflüchte suchen, sondern ausgehend von seinen eigenen nationalen Interessen gemeinsam mit den anderen ein europäisches Interesse definieren und dieses schützen, anwenden und zur Geltung bringen. Das gilt erst recht in einem konfliktbeladenen globalen Umfeld, in dem Europa um seine Selbstbestimmung kämpfen muss. Im Schatten von, nicht selten aber auch im Wettbewerb mit Großmächten wie Russland, China, Indien und den USA.
Schuldgefühle und gesellschaftliche Entwicklungen
Das Schuldgefühl, das die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten, bestimmt ihr Denken und Handeln bis zum heutigen Tage. Die Deutschen wissen, dass sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie unter den Nazis geschehen nie wiederholen dürfen. Wenngleich Westdeutschland nach 1945 eine erfolgreiche Demokratie aufbauen konnte, die ihren Bürgern einen beispielhaften wirtschaftlichen und kulturellen sowie zivilisatorischen Aufschwung verschaffte, während dem sie die dunklen Jahre ihrer Geschichte hinter sich ließen, sind die schuldbehafteten Handlungsmuster weiterhin präsent. Das zeigt sich am rigorosen Auftreten gegen jede echte oder auch nur vermeintliche „Nazi“-Tendenz im In- und Ausland. Da sind die Deutschen gründlich wie immer: Was seit 1945 als gesellschaftlicher Konsens gilt, das vertreten sie entschlossen und bestimmt, mit einer Vehemenz, die in vielen anderen Länder zumindest als ungewöhnlich wahrgenommen wird. Das heißt, sie halten diese als gesellschaftlichen Konsens wahrgenommenen Lehrsätze ein, halten andere an, es ihnen gleichzutun, und erzwingen sie notfalls mit Überzeugung, Sendungsbewusstsein und natürlich als Verfechter der historischen Wahrheit.
In der Innenpolitik zeigt sich das daran, dass alles, was rechts von CDU und CSU an Gedankengut, Gruppierungen, Bewegungen, Parteien, Medien oder auf welche Weise auch immer artikuliert wird, unverzüglich in diesen Interpretationsrahmen gerät, aus dem man kaum mehr rauskommt. Im Wesentlichen sind die in den politischen und gesellschaftlichen Mainstream nicht hineinpassenden bürgerlichen Artikulationen nicht zugelassen, sie erzeugen Gegenreaktionen und es entsteht eine Meinungsblase. Die in der bundesdeutschen Gesellschaft durchaus vorhandenen Reflexe werden aber auch durch neue Tendenzen aus den USA wie Cancel Culture, Wokismus oder Identitätspolitik teilweise überschrieben, teilweise überlappt, was zu einer außergewöhnlichen Mixtur führt, die andernorts nicht zu beobachten ist. Bei den Deutschen ist das Moralisieren ein Muss, das häufig in arrogante und ausgrenzende Belehrungen mündet.
Dieses Moralisieren macht freilich nicht an den Landesgrenzen Halt. So muss es nicht überraschen, warum Politik und Medien in Deutschland so harsche Positionen gegenüber Ungarn einnehmen. „Sie sind das Gegenbild zur linken Identität“, so der namhafte konservative Historiker Prof. Dr. Andreas Rödder 2021 in Budapest. In der Außenpolitik führt besagte Erscheinung dazu, dass von Deutschland nie mehr eine Gefahr ausgehen darf, und dass man behutsam mit seinen Beschaffenheiten umgeht, also nicht den Status einer Großmacht anstrebt. Dieses Land darf einzig dem „Guten“ dienen, zum Wohle Europas, ja der ganzen Welt, und selbstverständlich nur gemeinsam mit seinen Verbündeten, in einem gemeinsam definierten Rahmen.
Was bedeutet das in Bezug auf die Ukraine?
Wer nun glaubte, im aktuellen russisch-ukrainischen Krieg würden die Deutschen für Frieden, einen Ausgleich und eine schnellstmögliche Beilegung des Konflikts eintreten, hat sich gewaltig geirrt. Ganz im Gegenteil ziehen die Repräsentanten der politischen Elite und der Medienelite die gegenteiligen Schlüsse, also dominiert nicht der Pazifismus, sondern die Vorstellung, die Ukrainer zu bewaffnen, um die russische Armee zurückzuschlagen. Hierbei spielt die moralische, kaum zu widerlegende Grundannahme eine große Rolle, nach der die Ukrainer im Recht sind, sie wurden angegriffen, sie verteidigen sich nur. Dabei kann das Moralisieren ganz zur Geltung kommen.
Zu diesem Schema des Moralisierens passt, dass Russland das Schlechte, das Böse, das Kriminelle verkörpert. In der deutschen Öffentlichkeit werden oft Vorwürfe laut, die das Regime in Moskau als diktatorisch, massenmörderisch, menschenverachtend, unbarmherzig und als teuflische Kraft beschreiben, es erinnert an die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte. Die Deutschen erkennen ihre eigene Vergangenheit wieder und sie glauben besser als jeder andere einschätzen zu können, welche Gefahr der russische Angriff für Europa bedeutet. Ganz nebenbei können die Deutschen mit einem entschlossenen Auftreten zeigen, dass sie auf der „guten Seite“ stehen. Darum zweifelt in Deutschland auch niemand an, dass die Ukrainer für uns alle und in unserem Namen Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, ja die europäische Identität verteidigen. Und dabei muss man ihnen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln helfen.
Natürlich kann Deutschland in dieser Konstellation kaum eine Führungsrolle in der internationalen Ukraine-Koalition einnehmen. Diese Rolle gebührt eindeutig den USA und Großbritannien, zwei Nicht-EU-Ländern und die deutsche Regierung folgt ihren Bündnispartnern. Berlin muss dabei entscheiden, ob es der Politik der USA und zugleich dem gemeinsamen Denken und Handeln der NATO und der dort formulierten Politik folgt, oder ob es einen alternativen Radius ausgestaltet, mit seinen europäischen Verbündeten. In diese Richtung gehen übrigens die französischen Vorstellungen von der europäischen strategischen Souveränität. Selbst Präsident Emmanuel Macron äußerte sich im Dezember dergestalt, dass es früher oder später Friedensverhandlungen mit Russland geben müsse – die Orbán-Regierung fordert Gleiches schon seit langem und weitaus entschiedener. In Deutschland mögen solche Vorstellungen bei nicht wenigen Menschen auf fruchtbaren Boden fallen, für die politische und Medienelite sind derartige Forderungen jedoch tabu. Wenn man die Zeitungen liest und führende Politiker reden hört, könnte man glauben, die deutsche Gesellschaft sei geschlossen in dieser Frage. Das ist mitnichten der Fall, viele sind gegen weitere Waffenlieferungen, aber sie stehen nur am Rande und bestimmen das Geschehen nicht mit.
Wie kann sich eine derartige Zusammenarbeit unter deutscher Führung überhaupt gestalten? Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich, dass in der jetzigen Lage jede in diese Richtung gehende Vorstellung die grundsätzliche Frage mit sich brächte, ob Deutschland überhaupt eine Führungsrolle einzunehmen gedenkt, wohin es führen würde und wozu diese überhaupt gut wäre? Daneben würde eine solche sofort und mindestens einen Konflikt mit der jetzigen US-Administration heraufbeschwören. Die Amerikaner erkennen die Schwäche Europas und der europäischen Führungsmächte, sie sind nicht unentschlossen, sondern ergreifen die Initiative und drücken ihre Agenda durch, was auch in der Debatte um die Panzerlieferungen eindeutig wurde. Olaf Scholz und seine Regierung schrecken komplett davor zurück, auf diesem Gebiet eine andere Politik zu verkünden. Ohnehin stehen sich die beiden Regierungen weltanschaulich sehr nahe, wofür die Rolle der die Außenministerin stellenden Grünen bezeichnend ist. Diese Partei ist nicht nur dafür bekannt, ihre Positionen flexibel zu ändern, sie tut es dann gleich noch mit größtem Elan und inbrünstiger Überzeugung. Bei den Waffenlieferungen ist man ganz eng an der Seite der USA. Im vergangenen Jahr wurde unter skandalösen Umständen die amerikanische Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan zur Sonderbeauftragten des Außenressorts gemacht, als sie noch keine deutsche Staatsbürgerschaft besaß.
Zunehmende Spannungen
Zur Ausübung einer führenden Rolle ist es daher wichtig, dass die innere Verfasstheit, die Ordnung und die öffentlichen Zustände es möglich machen, eine auch von anderen anerkannte führende Rolle für sich reklamieren zu können. Deutschland durchlebt aber in vielen Bereichen wechselvolle Zeiten, weil die Krisen seit 2015 einfach nicht abreißen wollen, die sich auf die seelisch-wirtschaftliche-öffentliche Situation auswirken. Die Migrationskrise ist bis heute nicht verdaut; sie hat immense soziale und wirtschaftliche Probleme heraufbeschworen, mit Auswirkungen auf das Bildungswesen, den Wohnungsmarkt, den Arbeitsmarkt und die öffentliche Sicherheit. Das Coronavirus kam dann hinzu, einige Corona-Restriktionen sind bis heute in Kraft. Selbst im Jahre 2023 ist Covid noch ein Thema, das Land konnte sich erst langsam von den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie erholen, die Entscheidungsmechanismen sind langsamer geworden und viele Arbeitnehmer arbeiten noch immer im Home Office. Nun kommen die Auswirkungen des Ukraine-Krieges hinzu, unter anderem eine schlechtere Versorgungssicherheit, allgemeine Teuerung und Energiekrise. Unbeeindruckt davon wollen die politischen Entscheidungsträger nichts von einer Rückkehr zur Kernenergie wissen. Lieber forcieren sie die Verbrennung von Kohle und pfeifen auf den Klimawandel.
Die unteren Mittelschichten und die ärmeren Menschen wurden mit jeder einzelnen Krise weiter in die Tiefe gezogen, wohingegen jene intellektuelle Schicht in den Großstädten, die das Rückgrat der Grünen bildet, bisher weitgehend verschont blieb. Die gesellschaftlichen Spannungen nehmen immer weiter zu, was der AfD Zulauf beschert.
Unterdessen hat Deutschland auf vielen Gebieten seine führende Rolle eingebüßt und gelten Deutsche längst nicht mehr als das, was sie einmal waren: strukturiert, pünktlich, zuverlässig, ausgeglichen und rational denkend. Vorbei die Zeiten, als alle Welt aufschaute, wenn es deutsche Wirtschafts- und Ingenieursleistungen zu bestaunen gab. Die deutsche Automobilindustrie hat den Wettbewerb verschlafen, der Energiesektor ist mit sich selbst beschäftigt, und grundlegende Dinge wie Infrastruktur oder Versorgungssicherheit funktionieren nicht mehr wie selbstverständlich. Ob es die chronischen Verspätungen der Deutschen Bahn sind oder das Chaos an Flughäfen, ob die miserable Netzabdeckung beim Internet oder die heruntergekommenen Straßen und Brücken: der Niedergang wird für alle Bürger sichtbar. Und zu all dem gesellt sich der Berliner Wahlskandal, wo eine komplette Wahl wiederholt werden muss, weil viele ohne Berechtigung wählten, andere falsche Wahlzettel erhielten oder aber das Wahlergebnis nachträglich per Hand „korrigiert“ wurde.
Hier bildet auch die Bundeswehr keine Ausnahme, ganz im Gegenteil. In letzter Zeit wurde viel über die katastrophalen Zustände berichtet, und nach dem Wirken von drei Verteidigungsministerinnen ist die Moral der Truppe am Boden. Denn wie schon ihre Vorgängerinnen hatte auch Frau Lambrecht, die soeben zurücktreten musste, keinen Schimmer von Militärfragen. So wusste sie auch nichts mit jenem Sondervermögen von 100 Mrd. Euro anzufangen, mit dem die Truppe dringend modernisiert werden sollte.
Olaf Scholz ist ein erfahrener und besonnener Politiker, nicht von ungefähr war er Vizekanzler unter Angela Merkel. Er hat ganz sicher das Dilemma der deutschen Politik in diesem nationalen und internationalen Spannungsfeld erkannt. Seine Koalitionspartner von der FDP und den Grünen machen lautstarken Druck, Deutschland müsse noch mehr Waffen liefern, wenngleich Deutschland in der EU schon an erster Stelle steht. Auch hiervon handelt der Streit um die Leopard-Panzer. Mit diesen Forderungen sind die Koalitionspartner von Olaf Scholz im Gleichklang mit den USA, den Polen und den baltischen Ländern. Gibt der Kanzler dem Druck nach, mag er wie ein starker Politiker erscheinen, der führt, aber in Wirklichkeit folgt er nur dem westlichen Mainstream. Geht er auf Distanz, mag er als charismatischer europäischer Politiker herüberkommen, riskiert jedoch den Fortbestand der Ampel-Koalition und riskiert internationale Verwicklungen. Also unterstützt Deutschland die Ukraine lieber ohne viel Aufsehen, liefert die Waffen, womit es die Frustration der Bündnispartner und Koalitionspartner in Grenzen hält, ohne aber die Erwartungen an eine Führungsrolle zu erfüllen. Scholz weiß sehr wohl, welchen Unmut eine eigenständige deutsche Position erregen könnte, und dass ein konstruktives Misstrauensvotum im Bundestag im Handumdrehen das Ende seiner Kanzlerschaft bedeuten könnte.
Die Rolle der USA
Der Ukraine-Krieg legte einen potenziellen geopolitischen Konflikt offen. Die Rolle der USA in Europa erscheint im Spiegel des Krieges in einem anderen Licht. Dabei gab es schon in der jüngeren Vergangenheit Spannungen, beispielsweise wegen der Abhör- oder der WikiLeaks-Skandale. Eine frühere amerikanische Staatssekretärin war sich nicht zu schade, auszusprechen, was man in der dortigen Führung von zahlreichen Aspirationen der Europäischen Union hält – dies hier niederzuschreiben würde sich nicht geziemen. Die Wirtschaft der USA wuchs weiter – anders als die europäische. In den USA explodierten die Energiepreise nicht, die Inflation stieg im Vergleich zur Entwicklung in Europa nur moderat an. Die Amerikaner realisierten mit ihren Energieträgern dank hoher Weltmarktpreise Rekordeinnahmen, während die Europäer und insbesondere die Deutschen enorme Neuschulden machen mussten, um ihre Energierechnung bezahlen zu können.
Auch die US-Rüstungsindustrie fährt gut dabei; Deutschland hat mittlerweile drei Dutzend Kampfflugzeuge der fünften Generation vom Typ F-35 geordert und kauft jede Menge Militär- und Transporthubschrauber. Die US-Industrie erlebt dank dieser Exportaufträge einen Boom. Politisch haben die Europäer und allen voran die Deutschen die Führungsrolle der USA in der internationalen Ukraine-Koalition sichtbar akzeptiert. Wenn man die öffentliche Meinung und die Erklärungen der politischen Entscheidungsträger verfolgt, erscheint es unrealistisch, dass die Europäer einen eigenen Ansatz versuchen würden – jede Initiative unter deutscher Federführung scheint nahezu ausgeschlossen.
Aussichten
Eine deutsche Führungsrolle besitzt somit derzeit keine Realität. Es gibt zu viele innere Spannungen, lähmende Schwäche und gesellschaftlichen Frustrationen. Die Erwartungen und der Druck aus dem Ausland können die Deutschen nicht aus ihrer Lethargie reißen. Ohne geordnete Verhältnisse daheim und bei andauerndem Krieg in der Ukraine wird Deutschland kaum seine realen Interessen formulieren und von diesen geleitet auf internationalen Foren auftreten können. Bleibt also jene unausgegorene Politik, die uns die Deutschen schon seit langem bescheren.
Würde Deutschland allerdings gemeinsam mit Frankreich und zur großen Überraschung der Weltgemeinschaft Friedensverhandlungen erzwingen können, brächte das dem Ansehen und Einfluss des Landes einen markanten Schub aber auch einen Konflikt mit der US-Administration Dieser Krieg kennt keine militärische Lösung, der moralisierende Ansatz trägt nur zur fortwährenden Zerstörung der Ukraine bei. Friedensverhandlungen mit einem Ergebnis ähnlich jenem von 2014 wären zwar auch suboptimal. Aber immerhin würde die Ukraine nicht anhaltend zerstört und könnte wieder Luft holen, wie in den acht Jahren seit 2014. Und es wäre ein Sieg des europäischen Narrativs, während sich Olaf Scholz zurecht als bester Schüler Angela Merkels und als Friedensstifter in Europa feiern lassen könnte. Das aber würde Deutschland den direkten Weg ebnen, um sich vor den Augen der ganzen Welt als führende europäische Macht auf der Landkarte zu positionieren. Diese Vorstellung erscheint im Moment aber eher utopisch.
Foto: Mandiner