1967 gelang dem Rechtsphilosophen und Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde eine Formulierung, die seither in kontroversen Diskursen über den demokratischen Verfassungsstaat zu einem geflügelten Wort avancierte: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.” Warum die Frage nach der Vereinbarkeit von Staat und Gesellschaft immer noch ein zentrales Thema demokratischer Debatten darstellt, erörterte Dr. Michael Kühnlein, Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt am Main, am 05. April 2023 im Rahmen der Veranstaltung “Identität und Rechtsstaat – das Dilemma säkularisierter Staaten” des Deutsch-Ungarischen Instituts für europäische Zusammenarbeit. Knapp 40 Teilnehmer nahmen an der Podiumsdiskussion teil, die von Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Professor der Technischen Universität Chemnitz für die europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und Gastprofessor am Mathias Corvinus Collegium, moderiert wurde.
Bence Bauer, Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts, eröffnete die Veranstaltung und betonte in seiner Begrüßungsrede die Wichtigkeit des intensiven Austauschs zwischen Deutschland und Ungarn, welche im Rahmen des Deutsch-Ungarischen Instituts für europäische Zusammenarbeit gewährleistet werden soll.
Zur Auslegung des Böckenförde-Diktums erklärte Kühnlein, dass der Freiheitsgedanke des gesellschaftlichen Individuums den modernen Rechtsstaat stark und schwach zugleich mache. Stark, da Demokratien über eine starke politische Identität verfügen, denn das Volk schreibe sich selbst seinen Willen und somit seine Identität zu. Schwach sei dieser Staat aber deshalb, weil er den Einzelnen nicht zur totalen Mitgliedschaft zwingen könne. Böckenförde versuchte 1964, so Kühnlein, während des zweiten vatikanischen Konzils mit Hilfe seiner Thesen religiöse Normen in demokratische Rahmenbedingungen einzuebnen. Der Rechtsstaat müsse unabhängig von der Religion offen sein, in dem Sinne verletzbar bleiben, um Freiheiten gewähren zu können.
Stärke und Schwäche zusammen machen also das Paradox dieser Freiheitsreflexion aus. Böckenförde gehe es aber nicht um eine Aufhebung des Paradoxes, sondern vielmehr um die Wahrung ihrer Differenz, die er als Quelle von Freiheit sehe.
Kühnlein erläuterte, dass Böckenförder dadurch ein Fundament für kontroverse Legitimationsdebatte des säkularisierten Rechtsstaats geschaffen habe. Das Diktum wurde dahingehend kritisiert, dass Böckenförde eine homogenisierte Gesellschaft voraussetze, was angesichts einer pluralistischen Gesellschaft nicht zu vereinbaren sei. Allerdings, so stellte Kühnlein klar, wollte Böckenförde keine Homogenität schaffen, sondern die Notwendigkeit gemeinsamer Wertüberzeugungen in multiplen Wirklichkeiten betonen.
Bezüglich konservativer Identitäten befasste sich Kühnlein insbesondere in seinem Werk “konservativ?!: Miniaturen aus Kultur, Politik und Wissenschaft”, welches Herr Prof. Dr. Kroll im Laufe der Veranstaltung vorstellte. In der Diskussion über das Buch wurde deutlich, inwiefern selbst das Wort “Konservativ” in Deutschland seine Identität durch polarisierende Debatten verlöre. In diesem Zusammenhang machte Kroll darauf aufmerksam, dass vor allem in Deutschland der Rechtsstaat seine demokratischen Werte aushöhle, indem er eine Debattenkultur schaffe, welche nur die Einteilung in Gut und Böse kenne. Eben jene geforderte Vielseitigkeit von Meinungen sehe man aber in Ungarn noch gewährleistet.
Die Suche nach einer gemeinsamen Identität regte im weiteren Verlauf der Veranstaltung die Teilnehmer zu einem intensiven Diskurs an. Identität, so Kühnlein, schaffe man nur, wenn eine ordentliche Debattenkultur gewährleistet werden könne. Das Problem, das sich den Teilnehmern allerdings stellte, sei die zunehmende Fokussierung auf Mikrogruppen und auch Kühnlein sieht hier das Scheitern eines universalen Gesellschaftsdiskurs, weshalb es unabdingbar sei wieder einen Rahmen für tolerante Diskussionen zu schaffen. Problematisch sei in diesem Sinne die Auseinandersetzung in Deutschland mit aktuellen Problemen, welche nicht mehr kulturgeleitet sondern sozioökonomisch geführt würde. Im Mittelpunkt der Diskussion stand allen voran die Schaffung von Parallelstruktur, welche durch die steigende Migration immer mehr zunehme und sich als Hindernis für die Schaffung einer gemeinsamen Identitäten herausstelle.
Im Rahmen des auf die Podiumsdiskussion folgenden Stehempfangs konnten die interessierten Teilnehmer und der Referent den lebhaften Austausch fortsetzen.