Was ist die Bedeutung des Konservatismus in Deutschland? Mit welchen Problemen hatte er nach 1945 zu kämpfen und was sind seine Perspektiven für heute? Diese und weitere Fragen diskutierte Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Professor für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der TU Chemnitz und Visiting Fellow am Deutsch-Ungarischen Institut für Europäische Zusammenarbeit des Mathias Corvinus Collegiums, am 28. Februar 2023 im Scruton Belváros Café in Budapest. Die Veranstaltung mit rund 30 Teilnehmern wurde vom Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit, Bence Bauer, eröffnet und von Prof. Dr. Michael Sommer, Professor für Alte Geschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und weiterer Visiting Fellow des DUI, moderiert.
Bauer ging in seiner Rede auf die Bedeutung des Konservatismus in Ungarn und am MCC ein, wobei er auf den namensgebenden britischen Philosophen Sir Roger Scruton verwies. Prof. Sommer stellte den Referenten anekdotisch anhand einer Reihe von abwechslungsreichen Fragen aus seinem Leben und Wirken vor. Dann führte er fachlich in das Thema ein, bevor er Prof. Kroll die Bühne überlies. Kroll ging zunächst auf den schweren Stand des Konservatismus in Deutschland ein, der neue Impulse benötige, da er Anliegen vertrete, die jeder teile. Seinen Vortrag gliederte er in vier Themenkomplexe.
Zunächst sprach er über die Schwierigkeiten des Konservatismus nach 1945. So sei dieser diskreditiert gewesen wegen seiner Mitwirkung an der Machtergreifung Hitlers. Gleichzeitig war er aber auch der Grundpfeiler für die Opposition gegen den Nationalsozialismus gewesen und war aufgrund dieser Beteiligung von den Nazis verfolgt worden. Ein weiterer Punkt der zu seiner Diskreditierung beitrug sei das Narrativ des Zusammenhangs zwischen Nazis und Konservativen gewesen, welches die Nationalsozialisten bewusst befördert hätten, um den Konservatismus zu vereinnahmen. Drittens hätte ein demographischer Aspekt eine Rolle gespielt. So habe die blutige Auslöschung der konservativ-preußischen Schicht im Dritten Reich dazu geführt, dass eine Reaktivierung dieser Tradition in der Demokratie personell fast ausgeschlossen gewesen sei. Beinahe die gesamte soziale Trägerschaft habe gefehlt. Der vierte Grund sei die fehlende geographische Basis des Konservatismus in der Bundesrepublik gewesen. Sein Regionalmilieu Ostelbien, also die ehemaligen deutschen Ostgebiete, hatte Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg verloren. Ein letzter Grund sei die Bevölkerungsverschiebung und -umschichtung gewesen. So seien die gewohnten Hierarchien zusammengebrochen und die Kategorie des Bürgerlichen durch neue Lebensstile ersetzt worden.
Im zweiten Teil seines Vortrags sprach Kroll über die Kulturvorstellung des Westens. So sei kulturell 1945 bis 1960 die letzte Etappe einer genuin deutsch geprägten Kulturvorstellung gewesen. Die Alliierten hätten nach 1945 Leitbilder und westliche Demokratievorstellungen in die deutsche Gesellschaft implementiert. Diese hätten zwar selbstverständlich viele Vorteile gebracht, den Preis trugen aber die Konservativen. Der gemeinsame Rahmen sei die Integration in den Westblock gewesen, trotz alldem seien deutsche konservative Traditionsbestände relativiert worden. Die zwei prägenden Phänomene definierte Kroll als Westernisierung, die ideelle Westintegration der Eliten, und Amerikanisierung im Alltag, den Medien und der Massenkultur mit Breitenwirkung. So sei der Konservatismus durch einen Konsensliberalismus ersetzt worden, der in der Blockkonfrontation jedoch als geringeres Übel im Vergleich zum Marxismus empfunden worden sei. Mit der 1968er-Generation sei der Konsensliberalismus anschließend durch die Ideologie des Neomarxismus abgelöst worden, was zu einer Linksverschiebung der politischen Kultur beigetragen habe. Dank den Vertretern des Konservatismus und des Konsensliberalismus habe man die freiheitlich-demokratische Grundordnung jedoch bewahren können.
Der dritte Teil des Vortrags widmete sich den Inhalten konservativen Denkens und Politik im historischen Rückblick. Es gehe um die Bewahrung, aber nicht um des Bewahrens willen. Vielmehr gebe es bewährte Werte und Ansprüche. die es zu erhalten gelte. Die drei Grundbegriffe des Konservatismus seien konservative Freiheit, Nationalismus und die soziale Frage. Der konservative Freiheitsbegriff stehe gegen eine schrankenlose Realisierung individueller Wünsche für Verantwortung und eine sinnvolle und rechtlich gesicherte Ordnung. Der Mensch entfalte sich nur innerhalb seiner gemeinschaftlichen Bindungen. Der Nationalismus sei in Deutschland bis Bismarck ein linkes Thema gewesen. Erst danach habe sich dies geändert. Der Konservatismus habe stets für Regionalismus und Föderalismus plus das kulturelle Europa als Zusammengehörigkeit gestanden. In der sozialen Frage habe der Konservative keine sozialpolitische Gleichgültigkeit. Vielmehr sei diese historisch ein Kernanliegen des Konservatismus gewesen, nicht des Sozialismus oder Liberalismus. Kroll erläuterte hier, dass Besitz stets an Verpflichtung und Verantwortung gebunden sei.
Abschließend wurde ein Ausblick über die Gegenwartsdiskussionen und die Rolle des Konservatismus gegeben. Kroll betonte den Respekt für bewährte Institutionen und die Wertschätzung einer Ordnung der „gestuften Mannigfaltigkeit statt der Gleichmacherei“. Der Konservatismus könne eine differenzierte Binnengliederung Europas ins Zentrum stellen. Das konservative Bekenntnis sei die Ungleichheit als Grundlage zur Freiheit plus gesunder und dosierter Fortschritt: „Fortschritt in Freiheit“.