Russland führt den Krieg nicht gegen die Ukraine, sondern gegen den Westen. Im Konflikt treffen nicht nur militärische Streitkräfte, sondern grundlegend unterschiedliche Werteordnungen aufeinander. Die Aufgabe der kommenden Jahre besteht für Europa darin, seinen Platz in der multipolaren Weltordnung zu finden, da die globalistischen Konzepte inzwischen versagt haben. Über diese und andere Themen sprachen die deutschen Visiting Fellows des Mathias Corvinus Collegium, Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll, Prof. Dr. Heinz Theisen, sowie Richard Schenk am 22. Februar 2023 im MCC-Bildungszentrum im südostungarischen Szeged im Gespräch mit dem Moderator Tamás Fonay, Projektkoordinator am Deutsch-Ungarischen Institut.

 

Prof. Kroll beleuchtete die Lage Russlands aus der historischen Perspektive und leitete diese ausgehend vom 10. Jahrhundert im Hinblick auf die Beziehungen zu Europa ab. Dabei betonte er, dass mit der Christianisierung ab 988 die damalige Kijewer Rus eindeutig zu einem Teil Europas geworden sei, jedoch hätten in Folge der Unterdrückung durch die Mongolen die für die europäische Kultur maßgeblichen Prozesse wie die Renaissance, der Humanismus oder die Reformation nicht stattgefunden. Im Gegensatz zu Mittel- und Osteuropa konnte in Russland keine Regionalmacht entstehen, es gab keinen selbstbewusstes Adel, keine parlamentarischen Strukturen und auch keine städtischen Selbstverwaltungen, so Kroll. Und obwohl es im Laufe der Geschichte Bestrebungen gab, die zur Stärkung der europäischen Beziehungen Russlands beitrugen – wie beispielsweise die Machtpolitik Peters des Großen oder die postsowjetischen Initiativen –, kam es vor einem Jahr zu einem tragischen Bruch. Dieser werde die Seiten auf Jahrzehnte voneinander trennen. „Putin betrachtet Europas als Feind und die naive Hoffnung, dass sich Russland an den europäischen Geist anschließen wird, scheint endgültig verloren gegangen zu sein. Russland verfügt über eine einzigartige Werteordnung, dabei haben Spiritualität, Kommunitarismus und der orthodoxe Glauben einen erheblichen Einfluss. Putin will den dekadenten Westen weit hinter sich lassen.“ – so Prof. Kroll.

Prof. Heinz Theisen beleuchtete die Fragestellung aus der Perspektive der Politikwissenschaft und sprach sich entschieden dafür aus, dass Russland nicht zu Europa gehöre und damit nicht nach europäischen Werten gemessen und beurteilt werden könne. „Man muss sich darüber Gedanken machen, wo die Grenzen des Westens liegen, wo diese gezogen und verteidigt werden müssen und wo nicht.“ Er führte aus, dass der Westen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion überzeugt sei, die eigenen Strukturen auf andere Teile der Welt ausweiten zu müssen. Das sei allerdings durch die unterschiedliche geistige Haltung, die abweichende kulturelle Basis und einer anderen Definition von Freiheit ein erfolgloses Unterfangen, das schwerwiegende Folgen nach sich ziehen würde. Ebenso komplex sei auch die Frage der Zugehörigkeit der Ukraine, die durch ihre Lage zwischen dem Westen und Russland lange Zeit neutral blieb, allerdings durch den zunehmenden, zu Beginn zivilen, später auch militärischen Einfluss Amerikas in den vergangenen zwei Jahrzehnten zum Westen hinbewegt wurde. „Im Krieg zwischen Russland und der Ukraine treffen zwei Weltbilder aufeinander, die sich gegenseitig nicht verstehen. In diesem Fall kann keine der Parteien gewinnen. Wir müssen uns der Größe der Gefahr bewusstwerden. Ein Waffenstillstand ist notwendig.“ – betonte Prof. Theisen und führte aus, dass wir nach dem Krieg mit einem Jahrzehnte währenden, neuen Kalten Krieg rechnen müssen und dass es auch zu einer Teilung der Ukraine kommen könnte. Zum Abschluss seines Vortrages betonte er, dass sich der Universalismus des Westens seinem Ende nähere und eine neue, multipolare Weltordnung im Entstehen sei, wo die große Frage darin liege, welchen Platz sich Europa aussuche: entweder als eigenständige Großmacht oder an der Seite der Vereinigten Staaten.

Die fach- und sachbezogene Konfrontation unterschiedlicher Sichtweisen und die aktive Einbindung des Publikums hat zu einer konstruktiven Diskussion geführt, die nach der Podiumsdiskussion in informellem Rahmen fortgesetzt wurde.