Boris Palmer, Oberbürgermeister der Universitätsstadt Tübingen, ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten, aber auch umstrittensten Bürgermeister Deutschlands. Auf Einladung des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit hielt er am 5. September 2023 einen Vortrag mit dem Titel „Über die grüne Grenze”, in dem er über seine bundespolitischen Ansichten, kommunalpolitischen Aktivitäten und die deutsch-ungarischen Beziehungen sprach. Mehr als 100 Gäste wohnten der Veranstaltung im Scruton Café des Mathias Corvinus Collegium (MCC) bei, das an jenem Abend bis zum letzten Platz gefüllt war. Weitere 75 Zuschauer verfolgten den Vortrag mit anschließender Podiumsdiskussion live per Online-Zuschalte.
Selten komme es vor, so der Generaldirektor des MCC Dr. Zoltán Szalai in seinem Grußwort, dass eine akademische Fachveranstaltung bereits im Vorfeld so kontrovers diskutiert würde wie im Falle des Vortrags von Boris Palmer. Die große mediale Aufmerksamkeit spreche laut Szalai für Boris Palmer, der es mit seinem Politikstil vermochte, gleichermaßen zu begeistern, anzuecken, wie zu inspirieren. Vor diesem Hintergrund sei das MCC für eine Veranstaltung wie diese genau der richtige Ort, an dem man unvoreingenommen und ehrlich streiten und Ideen austauschen könne. „Wir sind vielfältig, wir sind offen, wir sind kontrovers und wir sind gegen Vorverurteilung und Cancel Culture.“
Zu Beginn seines Vortrags sprach Palmer über die Migrationskrise 2015 und legte die Erfolgsgeschichte eines syrischen Flüchtlings dar, der nach seiner erfolgreichen Integration Bürgermeister einer schwäbischen Ortschaft geworden ist. Vor diesem Hintergrund müsse die Frage erlaubt sein, ob die ungarische Politik der restriktiven Migrationspolitik nicht auch ihre Nachteile habe. Mit Blick auf die unterschiedlichen Ansätze der Migrationspolitik der beiden Länder sei es wichtig, Fragen zu stellen und den echten Austausch anzuvisieren, und nicht vom hohen Podest der Moral Gewissheiten zu predigen. Austausch müsse über Gegensätze hinweg funktionieren, Dialog heiße jedoch auch, zu widersprechen, wenn Unsinn – wie etwa in Form von Verschwörungstheorien – verbreitet werde. Insgesamt wünsche er sich für Deutschland, Ungarn und Europa eine Haltung, in der die Kraft der Argumente im Lichte der Aufklärung zählen möge und auch die eigene Position hinterfragt werden müsse. Die Diskursverweigerung von rechts wie links, könne Europa nicht gebrauchen. Europa kann es sich daher nicht leisten, Ungarn auszugrenzen, denn geopolitisch sei der Kontinent überall in der Defensive, militärisch, wirtschaftlich wie auch im Blick auf seine Werte. Palmer äußerte darüber hinaus großes Verständnis für kleine Staaten wie Ungarn, die sehr sensibel gegenüber Einmischung übermächtiger Staaten seien. In diesem Zusammenhang betonte Palmer, dass in Deutschland, „diesseits der grünen Grenze“, eine ehrlichere Diskussion über mögliche negative Folgen der Migration notwendig sei. Im Falle Ungarns sei es zwar legitim, einen Standpunkt zu vertreten, der nicht die multikulturelle Vielfalt zum Leitbild erkläre, jedoch würde in Ungarn mehr Offenheit in Bezug auf die Migrationsfrage helfen, gemeinsame europäische Fortschritte zu erzielen.
Im Anschluss an den Vortrag folgte eine Podiumsdiskussion, die von Bence Bauer, Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium, moderiert wurde. Bauer fragte Palmer unter anderem nach dem Management der Coronakrise und der zuvor angesprochenen geopolitischen Lage Europas. Palmer erwiderte, dass Deutschland es sich in dieser angespannten weltpolitischen Lage nicht leisten könne, seine wenigen Verbündeten, zu denen er Ungarn zweifellos hinzuzählt, zu verprellen. „Deutschland sollte um die Ungarn, und Ungarn um die Deutschen kämpfen“, so der Oberbürgermeister.
Nach dem offiziellen Teil der Veranstaltung hatte auch das Publikum die Möglichkeit, seine Fragen an den Tübinger Oberbürgermeister zu richten. Es folgte eine kontroverse und lebhafte Diskussion unter anderem über den vermeintlichen Pazifismus der Grünen, den Krieg in der Ukraine, und über Fragen der Integration und Grenzpolitik.
Während seines dreitägigen Aufenthaltes in Ungarn kam Palmer mit einer Vielzahl von Politikern, Wissenschaftlern und Persönlichkeiten der deutsch-ungarischen Beziehungen zusammen. Im Rahmen von bilateralen Gesprächen traf er Dr. Balázs Orbán, Politischer Direktor des Ministerpräsidenten und Kuratoriumsvorsitzender des Mathias Corvinus Collegiums, Dr. Ágoston Mráz, Direktor des Nézőpont-Meinungsforschungsinstituts, Attila Steiner, Staatssekretär für Energetik und Klimapolitik im Ministerium für Energie, Dr. Arne Gobert, Präsident des Deutschen Wirtschaftsclubs Ungarn, Boris Kálnoky, Leiter der Medienschule des Mathias Corvinus Collegiums, Zsófia Nagy-Vargha, stellv. Staatssekretärin für Jugend im Ministerium für Kultur und Innovation, Gergely Prőhle, ehem. Botschafter Ungarns in Deutschland und Direktor der Otto-von-Habsburg-Stiftung, Imre Ritter MdNV, Abgeordneter der Ungarndeutschen in der Ungarischen Nationalversammlung, Dr. László Lóránt Keresztes MdNV, Mitglied und ehemaliger Vorsitzender der ungarischen grünen Partei Lehet más a Politika (LMP), Dr. András Schiffer, Gründer der ungarischen grünen Partei Lehet más a Politika (LMP), sowie Máté Litkei, Direktor des Instituts für Klimapolitik. Des Weiteren machte er Bekanntschaft mit Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll und Prof. Dr. Oliver Lembcke, die als Gastprofessoren am Deutsch-Ungarischen Institut tätig sind.