Während zwischen Russland und dem Westen seit Jahren Eiszeit herrscht, verhandelt der ungarische Ministerpräsident in den ersten Tagen der Ratspräsidentschaft seines Landes mit globalen Akteuren für den Frieden
Die ungarische EU-Ratspräsidentschaft begann fulminant. Das Zepter gerade vom belgischen Ministerpräsidenten Alexander De Croo übernommen, begab sich der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sodann auf eine Friedensmission nach Kiew, Moskau und Peking. Mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj sprach der Premier mehrere Stunden unter vier Augen. Dem Vernehmen nach arrangierten die beiden erst am Donnerstag zuvor die spontane Visite.
Nach seinem wöchentlichen Radiointerview am Freitagmorgen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk jettete Orbán dann in die russische Hauptstadt Moskau, wo er eine längere bilaterale Unterredung mit Präsident Wladimir Putin hatte. Dieser, mit NATO-Generalsekretär Stoltenberg vorab abgestimmte Besuch, wurde gerade einmal 48 Stunden vorher arrangiert – auf Ersuchen der ungarischen Seite.
Nach einem Abstecher zum Rat der Turkvölker mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan landete der ungarische Ministerpräsident dann am 8. Juli in Peking, wo er mit dem chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping zusammentraf. Danach ging es unmittelbar zum Spitzentreffen der NATO-Länder nach Washington.
Ungarns StandpunktImmer wieder unterstrich Orbán, dass der Krieg in der Ukraine mit einem Waffenstillstand und einem Verhandlungsfrieden zu beenden sei. Europa müsse dazu die Initiative ergreifen, um seine eigene globale Handlungsfähigkeit zurückzuerlangen. Der alte Kontinent dürfe nicht zum Spielball von anderen globalen Akteuren werden. Außerdem verlören die Europäer bei diesem Konflikt sehr viel und würden den Preis des Krieges in Form von neuen Waffenlieferungen, erhöhter Flüchtlingsaufnahme und einer grassierenden Inflation bezahlen. Leider würden europäische Politiker zu wenig für den Frieden tun und kaum die Initiative ergreifen. Der Frieden komme nicht von selbst, man müsse hierfür große Anstrengungen unternehmen.
Anstatt nach einem Frieden zu suchen, würden die Europäer, so der ungarische Standpunkt, durch ständige Waffenlieferungen an die Ukraine auf eine Verlängerung des Krieges hinarbeiten und gebetsmühlenartig das Wunschdenken verbreiten, die Ukraine könne gewinnen. In Wahrheit jedoch könne keine Seite den Krieg für sich entscheiden, daher seien Verhandlungen der einzige Weg für eine Beendigung des Kriegstreibens.
Die ungarische Einschätzung sei, dass Moskau noch mindestens vier bis fünf Jahre den Krieg werde weiterführen können, da es über größere Ressourcen verfüge und die eigene Wirtschaft schneller in eine Kriegswirtschaft überführen habe können, sowie die chinesische, iranische und nordkoreanische Unterstützung den Russen helfen würde. Trotz eines kleineren nominalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) sei die Rüstungsproduktion in Russland und den hinter dem Land stehenden Verbündeten viel größer als im Westen.
Zudem sei das Zeitfenster für ein souveränes Auftreten der Europäer im Sinne des Friedens gerade äußerst günstig. Wenn im November Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt würde, hätten die Europäer nichts mehr zu sagen, da der Neugewählte dem Vernehmen nach direkt mit Putin über die Köpfe der Ukraine und Europas werde verhandeln wollen.
Anders als die meisten europäischen Staatslenker hat Orbán jedoch besonders gute Beziehungen zu Trump, sodass dessen Präsidentschaft aus ungarischer Sicht keine Nachteile brächte. Gleichwohl gelte es für die Europäer jetzt, Verhandlungen zu führen und das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Hierfür will Orbán die notwendigen Impulse geben.
Gespräche in Kiew, Moskau, PekingIn Kiew lotete der ungarische Ministerpräsident zunächst nach eigenem Bekunden aus, welche rote Linien es für die ukrainische Führung gebe. Er wollte, so Orbán, den Präsidenten nicht überreden, sondern ihn bitten, seinen Standpunkt zu überdenken. Vielleicht müsse man die Reihenfolge umtauschen, nämlich erst Feuerpause, dann Friedensverhandlungen.
Das Auftreten der EU nach außen hänge von den großen Ländern wie Deutschland, Frankreich und Italien ab, so Orbán. Deshalb habe er dort zuvor von den Regierungschefs deren Standpunkt eingeholt. Orbán gestand ein, dass der ukrainische Präsident etwas reserviert auf die vorgeschlagene Waffenruhe reagiert habe. Die bilateralen Unterredungen waren jedoch erfolgreich in der Hinsicht, dass sich die ukrainisch-ungarischen Beziehungen zum Besseren wenden. Unter anderem sagte Orbán auf einer gemeinsamen Pressekonferenz zu, ukrainische Schulen für Flüchtlingskinder in Ungarn zu finanzieren. Und auf ukrainischer Seite gab es Bewegung in den strittigen Minderheitenfragen.
Während seiner anschließenden Reise nach Moskau erklärte Orbán, dass derzeit nur noch wenige Staatsmänner in der Lage seien, sowohl mit Russland als auch mit der Ukraine zu sprechen. Zweifelsohne gehört er zu ebenjenen Führungspersönlichkeiten.
Noch unmittelbar vor dem Besuch in Moskau wurde von ungarischer Seite ein Kommuniqué herausgegeben, das den bilateralen Charakter der Visite unterstrich. Orbán vermittelte gegenüber Putin den Standpunkt der Europäer und der Ukrainer sowie deren Bedingungen für einen Frieden. Besonders wichtig war für den ungarischen Ministerpräsidenten, herauszufinden, wie rational der russische Präsident in diesem Konflikt denke und handele. Seiner Einschätzung zufolge agiert Putin höchst rational, auch nach europäischen Maßstäben.
Wie zuvor Selenskyj lehnte auch Putin eine Feuerpause vorerst ab, weil die Ukraine diese in seinen Augen für eine weitere Aufrüstung missbrauchen würde. Orbáns Reise wertete er nicht nur als bilateralen Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten, sondern auch als Engagement des Landes, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat.
Der dritte Kurztrip führte Orbán nach China. Der Besuch in Peking war auch deshalb enorm wichtig, weil das Reich der Mitte einen großen Einfluss auf Russland ausüben kann und China ein relevanter globaler Akteur ist. In einer derart explosiven weltpolitischen Lage, so Orbán, müsse auch mit denjenigen, mit denen man nicht auf einer Plattform stünde, genauso viel, wenn nicht sogar mehr gesprochen werden als mit den Verbündeten.
Auch mit China sei es notwendig, den ständigen Dialog aufrechtzuerhalten und die Bindungen nicht zu kappen, wie es bei Russland geschah. Die Wirtschaftsbeziehungen mit China seien ungleich gewichtiger als die mit Russland. Viele globale Fragen wie Klimawandel, Mittlerer Osten, Afrika seien ohne China nicht zu lösen. Nicht zuletzt könne es ohne China in der Ukraine keinen Frieden geben.
Weiter nach WashingtonVon Peking aus ging es weiter zum NATO-Gipfeltreffen in Washington. Dort gab es lediglich einen einzigen Staatsmann, der innerhalb einer Woche mit Selenskyj, Putin, Erdoğan und Xi Jinping hat Gespräche führen können – Viktor Orbán.
Er selbst sieht hingegen die großen europäischen Staaten in der Pflicht, die Rolle des Verhandlungsführers in einer Friedensmission einnehmen. Wiederholt bekundete der Ministerpräsident seinen Willen, sowohl die europäischen Partner als auch die NATO-Verbündeten von seiner Mission nach Kiew, Moskau und Peking unterrichten zu wollen.
Völlig unverständlich wurden in Ungarn die Reaktionen einiger europäischer Politiker aufgenommen. So hatten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, Orbán scharf kritisert. Doch seien diese, so die Ungarn, lediglich politische Beamte der in der EU verbündeten Nationen, die Staats- und Regierungschefs die eigentlichen Entscheider. Schon aus diesem Grunde müsse sich Orbán keine Erlaubnis für seine Verhandlungen einholen.