Der ungarische Politik-Experte Bence Bauer sagt, Orbán sieht die „Verantwortung, dass Europa nur eine führende Rolle spielen kann, wenn es die Initiative ergreift“. In der Woche vor Beginn des Nato-Gipfels in den USA hat der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán einen Reisemarathon zu den Schlüsselfiguren im Ukrainekrieg absolviert. Außer in Kiew und Moskau war Orbán in der Türkei und in China, zuletzt in Washington. Westeuropäische Politiker zeigten sich überrascht, die Medien kritisierten. Orbán auf „selbsternannter Friedensmission“? Aber wussten die Westeuropäer wirklich von nichts? War es überhaupt eine Vermittlerreise? Die Berliner Zeitung hat mit Bence Bauer gesprochen, Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium in Budapest.

 

Mit seiner Reiseinitiative nach Kiew, Moskau und Peking provoziert Viktor Orbán scharfe Kritik der europäischen Verbündeten. Ist es das wert?

Das Motto der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft (im zweiten Halbjahr 2024, Anm.d.Red.) ist ja „Make Europe Great Again“. Und Viktor Orbán sieht es als seine Verantwortung, dass Europa nur dann eine führende Rolle spielen kann, wenn es die Initiative ergreift. Zum Beispiel für den Frieden in Europa. Seine Idee ist: Wenn Donald Trump im November bei den US-Präsidentschaftswahlen siegen wird, wird er sich nicht groß um die Belange der Europäer und Ukrainer kümmern, sondern über deren Köpfe hinweg mit Wladimir Putin verhandeln. Das Zeitfenster ist eng, deshalb dieser fulminante Auftakt der EU-Ratspräsidentschaft. Im Übrigen kümmert ihn die viele Kritik nicht besonders. Das kennt er schon. Er ist seit 14 Jahren ungarischer Ministerpräsident, und Kritik hat es immer wieder gegeben. Meist hat sie sich als unberechtigt herausgestellt.

Sieht er seine Reise mehr als Friedensmission oder als Faktenfindungstrip im Vorfeld des Nato-Gipfels, um dort die Kollegen zu informieren?

Er hat mehrfach gesagt, dass es jetzt darum geht, den Sachstand zu klären, die Fakten auf den Tisch zu bringen, auch die Standpunkte der Kriegsparteien kennenzulernen. Vieles geht im persönlichen Gespräch einfach besser. Am 2. Juli war Orbán bei Selenskyj, am 5. bei Putin, am 6. hat er Erdogan getroffen, am 8. Xi Jinping, und heute, am 9. Juli, wird er dem Nato-Gipfel berichten, was er mit den Beteiligten besprochen hat. Wenige europäische Staatenlenker können eine solche Bilanz vorweisen. Es ist sicherlich so, dass morgen kein Frieden einkehren wird, aber die Parteien sind bereit, über Vermittler miteinander zu reden. Ich denke, das ist ein großer Fortschritt.

Vor seiner Abreise hat Orbán mit Emmanuel Macron und Olaf Scholz gesprochen. Wahrscheinlich hat er für ein europäisches Mandat für seine Reise geworben. Ist er dort wirklich auf granitharten Widerstand gestoßen?

Das glaube ich so nicht. Verlautbarungen sind das eine und was dann unter vier Augen besprochen wird, ist ja das andere. Der Zweck der Gespräche mit Scholz, Macron und auch Meloni war ja, den europäischen Standpunkt auszuloten und ihn Präsident Putin zu übermitteln. Ich glaube, Orbán hofft darauf, in Selenskyj einen Verbündeten zu finden, der sich ebenfalls dafür einsetzt, Russland an Friedensgesprächen teilnehmen zu lassen. In der Schweiz war Russland nicht anwesend. Nach dem Orbán-Besuch hat Selenskyj sich schon in der Richtung ausgedrückt. Auch Putin hat sich dem nicht verschlossen. Es gibt also einen Gesprächskanal, den man ja lange abgelehnt hat.

Viele Menschen fragen sich, inwieweit man mit jemandem wie Putin überhaupt reden darf.

Die Dämonisierung Putins in vielen europäischen Ländern, gerade auch in der Öffentlichkeit, ist falsch. Sicherlich ist er ein Aggressor, und sicherlich führt er einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Das muss man verurteilen, und das haben alle Nato-Länder gemacht, auch Ungarn. Nichtsdestotrotz muss man auch mit Autokraten verhandeln und irgendwann eine Lösung finden, um das Sterben zu beenden. In dieser Lage hat Orbán die Initiative ergriffen, die europäischen Partner informiert und auch der Nato angekündigt, dass er zu Putin fahren wird. Für die Nato war es jedenfalls keine Überraschung. Auf dem Nato-Gipfel in Washington wird man besprechen, wie es weitergehen soll. Orban sagt selbst immer, dass der große Frieden durch die großen Staaten ermöglicht wird. Da müssen Deutschland, Frankreich oder Italien eine wichtige Rolle spielen. Ungarn kann nur einen ersten Impuls geben. Wir sind ein mittelgroßes Land. Schuster, bleib bei deinen Leisten.

Viktor Orbán hat eine scharfe Formulierung gewählt, als er gesagt hat, die USA betrieben Kriegspolitik und die Europäer kopierten diese Kriegspolitik. Die europäischen Politiker werden das mehrheitlich anders sehen. Was will Orbán mit einem solchen Satz erreichen?

Es ist richtig, dass die europäischen Regierungen das mehrheitlich anders sehen. Aber wenn sie sich die Meinungsbilder ihrer Bevölkerungen einholen, ist die Sache schon ein bisschen differenzierter. Auch in Deutschland. Da gibt es Westdeutsche und Ostdeutsche, die sehen das ziemlich unterschiedlich. Oder letzte Woche die Umfrage des European Councils on Foreign Relations. Sehr viele Europäer sind der Auffassung, die Ukraine kann den Krieg nicht gewinnen und man muss auf Verhandlungen und Frieden setzen. Ostentativ klingende Äußerungen würde ich da nicht überbewerten. Orbán hat schon vor Jahren gesagt: Wichtig ist, was ich mache und nicht, was ich sage. Nur so Simon Hallo

Auch „Make Europe Great Again“ provoziert in manchen Kreisen …

Orbán ist jemand, der mit prägnanten Aussagen des Pudels Kern treffen kann. Manche Weltmächte üben ein hohes Maß an Dominanz im internationalen Diskurs und auch den europäischen Verbündeten gegenüber aus. Die Idee „Make Europe Great Again“ dient auch dazu, dass die Europäer sich aufrappeln und wieder selbst zum Akteur werden. Es geht darum, dass Europa seine strategische Souveränität zurückerlangt, seine strategische und geopolitische Handlungsfähigkeit. Orbán glaubt, in Selenskyj einen Verbündeten gefunden zu haben, der vielleicht den entscheidenden Anstoß gibt, damit Europa als Vermittlerin und Friedensmacht wieder in Erscheinung treten kann. Die Europäische Union, der Ungarn vor 20 Jahren beigetreten ist, ist ein Friedensprojekt. Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis. Schaut man sich die Äußerungen führender Politiker an, stellt sich allerdings die Frage, ob das wirklich noch so ist. In Ungarn fragt man sich oft, ob Westeuropa eine Strategie hat, aus dieser Abwehr- oder Kriegsspirale herauszukommen. Natürlich ist es für viele notwendig, der Ukraine Waffen zu schicken. Genauso ist es richtig, sich solidarisch zu erklären. Aber irgendwann muss der Krieg beendet werden. Nach zweieinhalb Jahren wird die Lage immer schlimmer. Die Kriegsparteien haben sich ineinander verhakt, trotz allem, was die europäischen Mächte und die USA an Munition und Geld geliefert haben. Und je länger der Krieg dauert, desto schwerer wird es auszusteigen. Irgendwann muss jemand diese Spirale durchbrechen. Dem dient Orbáns Initiative.