Der ungarische Experte Bence Bauer im Interview über Viktor Orbán, seine neue EP-Fraktion ohne die AfD und die Beziehungen zwischen Berlin und Budapest. Am Montag wurde im Europäischen Parlament offiziell die rechtskonservative Fraktion „Patrioten für Europa“ gegründet. Mit 84 Abgeordneten stellt sie die drittgrößte Fraktion in der europäischen Volksvertretung. Das Bündnis tritt die Nachfolge der inzwischen aufgelösten Fraktion Identität und Demokratie (ID) an. Auch aus den Fraktionen EKR und EVP sind Abgeordnete dazu gestoßen. Die deutsche AfD wird der neuen Fraktion nicht angehören.

Binnen einer Woche hat Viktor Orbán eine neue Fraktion im europäischen Parlament aus dem Boden gestampft: Patrioten für Europa. Praktisch tritt sie die Nachfolge der alten ID an, Identität und Demokratie. Warum ist die ungarische Fidesz nicht gleich in die ID-Fraktion eingetreten?

Seit ihrem Austritt aus der Europäischen Volkspartei 2021 war lange die Frage, welcher Fraktion die Fidesz angehören soll. Bezeichnend für Viktor Orbán ist das Überraschungsmoment. Es entspricht nicht seiner Art, irgendwo anzuklopfen und zu fragen. Er macht stattdessen etwas Eigenes. Wie sehr er damit Erfolg hat, zeigt ja, dass er innerhalb von acht Tagen 84 Abgeordnete aus 14 Parteien und zwölf Ländern vereinen konnte. Das ist die drittgrößte Fraktion. Die Fraktionsgründung entspricht jedenfalls Orbáns politischem Charakter. Er ist seit 1988 in der Politik, er sammelt Verbündete um sich, eine Führungsgestalt. Hinzu kommt, dass die alte ID-Fraktion, auch weil dort lange Zeit die AfD mit tätig war, in vielen Kreisen als nicht salonfähig und nicht anschlussfähig galt. Die neue Fraktion, in der ehemalige Angehörige aus vier Fraktionen vertreten sind – der ID, der EKR (Europäische Konservative und Reformer, Anm.d.Red.), der Liberalen und der Europäischen Volkspartei –, unterscheidet sich auch in der Substanz. Damit kann Viktor Orbán Politik machen. Es wurde immer gesagt, wenn die Kommission sich als politische Kommission sieht und eine parteipolitische Mehrheit im Europäischen Parlament sucht und findet – es gibt ja die Koalition aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen –, dann muss es in einer Demokratie auch eine Opposition geben. Meine Einschätzung ist, dass die neue Fraktion zusammen mit der EKR und Frau Meloni diese Opposition darstellen wird.

Ist also die Ablehnung der AfD-Mitgliedschaft in der neuen Fraktion nicht ausschließlich auf den Widerstand von Marine Le Pen zurückzuführen?

Nein, es gibt dort mehrere Parteien, die mit der AfD fremdeln, das muss man offen sagen. Die AfD bereitet ja auch mit anderen stark rechtsgerichteten, eigentlich schon rechtsextremen Parteien eine kleinere Fraktion vor, mit 26 oder 27 Abgeordneten. Dort beansprucht die AfD mit ihren 15 Parlamentariern den ersten Platz. Da sind auch Leute dabei, mit denen man nicht unbedingt etwas zu tun haben will. Es zeigt sich also deutlich, dass die AfD bei den Patrioten für Europa nichts verloren hat. Denn darum geht es bei Orbáns Formation: Patrioten sind Menschen, die ihr Land lieben, aber keine Verachtung haben für andere Länder. Und Patrioten für Europa bedeutet auch, gemeinsam für Europa eintreten zu wollen. Man ist pro-europäisch, das ist ein wichtiger Unterschied.

Warum bleiben die rechtskonservativen Parteien Fratelli d'Italia und die polnische PiS weiter in ihrer eigenen Fraktion, der EKR? Gibt es dafür ideologische Erklärungen oder sind es persönliche?

Ich denke, da spielen auch persönliche Motive eine Rolle. Frau Meloni ist eindeutig die Führungsgestalt beim EKR und vertritt ein großes europäisches Land. Sicher spielt auch eine Rolle, dass Frau Meloni bei der Auswahl des europäischen Spitzenpersonals in den letzten Wochen eindeutig übergangen wurde. Frau Meloni hat nicht den Stellenwert zuerkannt bekommen seitens der europäischen Politik, der ihr eigentlich zusteht. Große ideologische Differenzen zwischen Frau Meloni und der PiS auf der einen und Orbán und den Patrioten für Europa auf der anderen Seite sehe ich nicht. Es wurde auch lange darüber diskutiert, ob die Polen zu den Patrioten für Europa kommen. Im Wesentlichen hat Frau Meloni sie mit guten Angeboten geködert. Bisher waren die Polen in der EKR die stärkste Gruppe. Jetzt sind die Fratelli d'Italia die stärkste Einzelpartei. Dennoch wird es eine strategische Zusammenarbeit der Fraktionen Patrioten für Europa und EKR geben. Ich würde mich auch nicht wundern, wenn die Zusammenarbeit noch vertieft wird. Wie gesagt, große ideologische Unterschiede gibt es nicht. Frau Meloni arbeitet in ihrer Koalition ja auch mit Lega und Forza Italia zusammen. Die Lega ist bei den Patrioten für Europa und Forza Italia, die ehemalige Berlusconi-Partei, gehört zur Europäischen Volkspartei. In den Vorjahren gab es die Idee einer umfassenderen, breiteren Zusammenarbeit des bürgerlichen Lagers. Die Europäische Volkspartei, so lautet die ungarische Lesart, hat sich davon entfernt und sucht eher den Anschluss an linke Parteien. Daher jetzt auch die neue Fraktion, die sich wie selbstverständlich als Opposition zur geltenden europäischen Mehrheitsmeinung etabliert.

Wie ist Ihre Sicht auf die deutsche Politik? Auf der Rechten ist Deutschland international kaltgestellt. In der Mitte und weiter links wird es wahrgenommen als Erfüllungsgehilfin amerikanischer Geostrategie. Fehlt Ihnen Deutschland als eigenständige Stimme oder haben Sie das Gefühl, naja, Europa kann auch ohne?

Nein, ich bin absolut für Deutschland. In Ungarn gibt es sehr, sehr viele Menschen, die an Deutschland glauben. Ungarn war mittelbar immer ein Teil des deutschen Sprach-, Kultur- und Zivilisationsraums. Und Deutschland ist den Ungarn wichtig. Es ist aber so, wenn man Deutschlands Rolle in den letzten Jahren beobachtet, dann ist sie im Abnehmen begriffen. Das gilt auch für die Zusammenarbeit der bürgerlichen und konservativen Kräfte. Ende April fand die große CPAC-Konferenz in Budapest statt (Conservative Political Action Conference, Anm.d.Red.). Da gab es Übersetzungen in acht oder neun Sprachen. Raten Sie mal, welche nicht dabei war: Deutsch. Deutschland ist in einer schwierigen Lage. Über die CDU könnte man lange reden, über die AfD haben wir gerade gesprochen. Deutschland nimmt an solchen Beratungen einfach nicht teil. Natürlich ist die CDU ein Gründungsmitglied der Europäischen Volkspartei und fühlt sich da auch ganz wohl. Insgesamt aber ist die Wahrnehmung von Deutschland, wenn ich mal von der Parteipolitik weggehe, dass es seiner Führungsverantwortung, auch der Rolle, die Deutschland eigentlich zukommt, nicht unbedingt gerecht wird. Man erwartet mehr von Deutschland. Es gehen von dort wenig Impulse aus. Und wenn, dann sind es nicht unbedingt solche, die man in Ostmitteleuropa gern aufgreift. Es wäre auch völlig falsch zu sagen, dass die Ungarn gegen Europa sind. Die Ungarn sind für Europa. Die EU hat hohe Zustimmungswerte im Land, und die 60 Prozent Wahlbeteiligung bei den EP-Wahlen in Ungarn waren ein Rekord. Die Ungarn sind begeisterte Europäer. Sie sind auch für „Make Europe Great Again“. Für mich ist das ein schönes Motto. Europa soll zu seiner alten Größe zurückfinden. Glauben Sie auch nicht, was alle möglichen Leute über die Ungarn sagen. Meist ist das Gegenteil wahr.