Individualisten und Freiheitskämpfer Das Land in Ostmitteleuropa ist mannigfaltiger als es auf den ersten Blick erscheint. Es steckt voller Schismen, Brüche und innerer Spannungen. Nicht zuletzt der Papstbesuch zeigte dies wieder einmal deutlich.

Nach dem Besuch von Papst Franziskus in Ungarn Ende April 2023 herrscht seltene Einigkeit unter den Ungarn im In- und Ausland. Eine große Mehrheit der Befragten, nämlich 77 Prozent sind der Auffassung, die Visite des Pontifex maximus sei positiv zu bewerten, 88 Prozent der bürgerlichen und 69 der linken Wähler. Damit gelang es Franziskus, die Ungarn in Eintracht zu versammeln, eine schwierige Aufgabe, die im Lande selbst nicht immer gelingt. Begründet liegt dies in den vielen Widersprüchen, Gegensätzen, Brüchen, Disparitäten und Schismen, die Ungarn in seiner wechselvollen Geschichte stets begleiteten. Auch heute wirken alte Konfliktlinien und innergesellschaftliche Spannungen nach und bestimmen im Unterbewusstsein viele gesellschaftliche und politische Debatten, Handlungsmuster und Entscheidungen.

Das Land der 10 Millionen Freiheitskämpfer

Ein bekannter Staatsmann pflegte einst zu sagen, es sei eine echte Herausforderung, die Ungarn zu regieren, denn das Land versammle 10 Millionen Freiheitskämpfer, also eben so viele wie es Einwohner zählt. In der Tat sind Liberalität, Freiheitssinn und Individualismus in Ungarn sehr stark ausgeprägt, mehr als in vielen anderen Ländern. Gemeinschaft, Gemeinsinn und Gemeinwohl, gar Kollektivität, konnten sich nur schwer entwickeln, auch aufgrund widerstreitender nationaler Befindlichkeiten im Innern und eines intellektuellen Deutungskonflikts.

In seiner langen Geschichte von Fremdbestimmung, Okkupation und Ausgeliefertsein entwickelten die Menschen zudem ein feines Sensorium für tatsächliche oder vermeintliche Gefahren für ihre Freiheit durch Machthaber von außen oder von oben oder gar von der „anderen Seite“. Die lange Liste von Volksaufständen und Freiheitskämpfen zeugt von dieser Tradition. Im Kommunismus gipfelte diese Attitüde im Abwehrkampf gegen alles Staatliche und von oben Verordnete. Die Menschen entwickelten ihren speziellen persönlichen Freiheitssinn mit Chuzpe, Raffinesse, Mut und Witz. Heute noch wirken diese Handlungsmuster fort und ergeben nur dann ein volles Bild, wenn man sich der gesellschaftlichen Brüche und tradierten Muster gewahr wird.

Pannonien und Hunnien

Im Römischen Reich verlief der Limes mitten durch Ungarn. Die Donau war damals der Grenzfluss zwischen der Provinz Pannonien und dem Barbaricum. Diese Grenzziehung durch das heutige Ungarn versinnbildlicht viele der Differenzen und Brüche, die auch heute noch nachwirken. Die östliche Landeshälfte, Hunnien, konnte sich nur ungleich anders entwickeln als die westliche Hälfte.

Die Tradition der Hunnen wirkte nach, die heidnischen Steppen im Osten waren so ganz anders als die hügeligen Weinanbaugebiete der Römer im Westen. Während der türkischen Besatzung war in etwa der Balaton die Grenze zwischen den Habsburgern und den Osmanen. Im Osten lebte im autonomen Fürstentum Siebenbürgen die eigenständige ungarische Staatlichkeit fort. Es war das Kernland des Ungarntums, hatte aber ganz andere Voraussetzungen, Bezüge und Traditionslinien als der Westen und Norden unter den Habsburgern oder die Mitte unter den Türken.

Das mehrheitlich calvinistische Siebenbürgen musste sowohl an die Kaiserstadt, als auch an die Hohe Pforte Steuern abführen, was die dortigen Ungarn zu einer steten Schaukelpolitik und einem feinen Austarieren von Interessen, Loyalitäten und Realitäten zwang. Diese Tradition wirkt auch heute noch in der Selbstbestimmung und Selbstbehauptung des Landes und seinem ständigen Ringen um die eigene Souveränität nach.

Katholiken und Calvinisten

Durch die Osmanen in der Landesmitte konnte die ansonsten im Norden und Westen schnell verbreitete Gegenreformation kaum nach Siebenbürgen im Osten durchdringen, dort blieb man unter sich. Der Ostteil Ungarns war quasi vollumfänglich reformiert und galt zu jener Zeit als Stammland der Reformation, worauf viele Ungarn bis heute sehr stolz sind.

Die gemeinsame Traditionslinie von Reformierten, Lutheranern und anderen protestantischen Glaubensrichtungen ist eine enge Bande und wird weiterhin kultiviert. Der Calvinismus galt lange Zeit sogar als „der ungarische Glaube“. Dahingegen sind die Landschaften im Westen und Norden (heute Slowakei) fast durchgängig katholisch, ähnlich wie Österreich oder Bayern. Heute bilden die Katholiken mit einem Verhältnis von drei zu eins in Relation zu den Calvinisten eine deutliche Mehrheit.

Doch auch viele Lutheraner, Griechisch-Katholische, Orthodoxe, Unitarier, Baptisten und Juden finden sich im Lande, das neben seiner auch vom Papst bewunderten religiösen Vielfalt auch eine ethnische Mannigfaltigkeit von 13 anerkannten autochthonen Volksgruppen sein eigen nennen kann, unter denen die Ungarndeutschen besonders positiv hervorstechen.

Deutschsprachige und Ungarischsprachige

Der von den Habsburgern dominierte Westen mit seinem Katholizismus, seiner Kaisertreue und der beherrschenden Stellung der deutschen Sprache steht im diametralen Gegensatz zum mehrheitlich calvinistischen Osten, wo eine solide Abneigung gegen Habsburg und die deutsche Sprache bestand. Im Osten war diese auch nicht so verbreitet, was auch heute noch zu beobachten ist.

In dieses Schisma lässt sich auch das Gegensatzpaar einordnen, dessen einen Teil die „Labanzen“, also die Kaisertreuen, die Katholiken, die Deutschaffinen bilden. Die Labanzen waren ursprünglich eine kaiserliche Truppe, doch später entwickelte sich der Begriff zur geflügelten Bezeichnung für all jene, die mit Habsburg sympathisierten.

Das Gegenstück, die „Kuruzen“ waren die antihabsburgischen Aufständischen Ende des 17. Jahrhunderts. Noch heute gilt dieses Wort als Sammelbegriff für eine eigensinnige, aufmüpfige, widerborstige Herangehensweise, mit der sich viele Ungarn identifizieren können. Der ständige Abwehrkampf, das Aufständische sowie auch der permanente Mut, den Machthabern die Stirn zu bieten, gelten als noble Angelegenheit und werden auch heute noch gerne von den vielen „Freiheitskämpfern“ im Lande beharrlich gepflegt.

Széchenyi und Kossuth

Im ungarischen Vormärz rangen zwei Persönlichkeiten um die Deutungshoheit der ungarischen Sache. Der deutschsprachige Stephan (später István) Széchenyi war ein in Wien geborener und deutsch erzogener ungarischer Graf und Staatsreformer, der heute als „größter Ungar“ verehrt wird. Noch heute tragen viele öffentliche Plätze und Bauten seinen Namen, vornehmlich in den westlichen Landesteilen.

Széchenyi, als weitgereister, polyglotter und aufgeschlossener Gelehrter, setzte auf eine Verständigung mit den Habsburgern, um die Stellung der ungarischen Nation im Habsburgerreich kontinuierlich zu verbessern. Mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 entstand die Doppelmonarchie mit einem cisleithanischen (österreichischen) und einem transleithanischen (ungarischen) Reichsteil, beide Seiten waren gleichberechtigt.

Damit obsiegte das Konzept von Széchenyi gegen das seines Widersachers Lajos Kossuth, eines in Ostungarn geborenen Kleinadeligen. Dieser setzte sich für nationale Selbstbestimmung, die Auflösung der Ständegesellschaft und für bürgerliche Freiheitsrechte ein und forderte vehement die Unabhängigkeit von Österreich. Er war federführend bei der Entthronung der Habsburger am 14. April 1849 im ostungarischen Debrecen und war als Angehöriger der ungarischen Revolutionsregierung an entscheidender Stelle für Nation und Unabhängigkeit im Einsatz.

Doch die ungarische Revolution wurde niedergeschlagen, Kossuth ging ins osmanische Exil und starb in Italien. Jedes Kind bereits im Kindergartenalter kennt das Kossuth-Lied aus den Revolutionsjahren von 1848 bis 1849. Bezeichnenderweise finden sich die Kossuth Plätze eher in den östlichen Landesteilen, auch hier ist die Donau immer noch ein veritabler Grenzfluss.

Eine ähnliche Gemengelage gab es dann im 20. Jahrhundert, als der legitime ungarische König Karl IV., ein Habsburger (Karl I. von Österreich), in Sopron eine Gegenregierung bildete und mehrfach erfolglose Restaurationsversuche unternahm. Der calvinistische Reichsverweser Nikolaus von Horthy unterband diese mit dem Verweis auf die Befindlichkeiten der Siegermächte des Ersten Weltkrieges. Viele königstreue Ungarn haben es bis heute nicht verwunden, dass Horthy das Ansinnen des ungarischen Königs abschlug und lieber selber als Reichsverweser das Land regierte. Beide starben übrigens im portugiesischen Exil, Karl IV. im Jahre 1922 an der Spanischen Grippe, Horthy im Jahre 1957.

Sopron und Debrecen

Als sich im Sommer 1989 Teile der sich neuformierenden ungarischen Bürgergesellschaft anschickten, das Paneuropäische Picknick zu organisieren, waren im weiteren Verlauf die beiden Städte Sopron im Westen und Debrecen im Osten die maßgeblichen Schauplätze der Geschichte dieses welthistorischen Ereignisses am 19. August 1989.

Beim symbolbehafteten Besuch von Otto von Habsburg am 20. Juni 1989 in Debrecen wurde die Idee überhaupt erst geboren. Die calvinistische Stadt, in der am 14. April 1849 in der dortigen calvinistischen Großkirche die ungarische Landesversammlung die Habsburger entthronte, Lajos Kossuth als Präsidenten einsetzte und am gleichen Tag die staatliche Unabhängigkeit erklärte, gilt als „calvinistisches Rom“ und als eine der Hochburgen der ungarischen Nationalbewegung.

Umso mehr wurde der Besuch des legitimen Thronfolgers 140 Jahre später als Geste der Versöhnung interpretiert. Die Person von Otto von Habsburg, der fließend Ungarisch beherrschte und immer von „Wir Ungarn“ sprach, galt und gilt in Ungarn als ein Mann des Ausgleichs, den die meisten Ungarn als einen der Ihren akzeptierten und lieb gewannen. Heute liegt sein Herz im westungarischen Pannonhalma begraben und das Land Ungarn verwaltet seine Archivalien.

Dass die Debrecener Organisatoren schließlich Sopron als Austragungsort des Picknicks auserkoren haben, hat nicht nur mit der Geographie zu tun – Sopron liegt an der Westgrenze zu Österreich –, sondern besitzt auch einen ungleich höheren Bedeutungsgehalt. Westungarn und Ostungarn, Katholiken und Calvinisten, Anhänger von Széchenyi und Kossuth, Labanzen und Kuruzen, Deutschsprachige und Nicht-Deutschsprachige, Pannonien und Hunnien: Sie alle vereinte der Gedanke, Ungarn und Europäer zu sein und eine hehre Sache gemeinsam vollenden zu wollen, nämlich etwas nicht geringeres als den Anfang vom Ende der Teilung Europas einzuläuten.

Dabei konnten alle Brüche, Konflikte und Schismen im Dienste eines höheren Ideals erfolgreich überwunden werden. Damit war das Paneuropäische Picknick nicht nur der Auftakt für die deutsche Wiedervereinigung, sondern auch ein Element in der Aussöhnung historisch tradierter innerungarischer Konfliktlagen. Insoweit hat das Paneuropäische Picknick nicht nur für die Einheit von Deutschland, sondern auch für die Einheit von Ungarn eine große Relevanz.

Fazit

Ohne dass dies der breiten Öffentlichkeit klar wird, schlummern diese Brüche, Schismen und Gegensätze im Unterbewusstsein vieler Ungarn und liefern Deutungsmuster für die manchmal etwas robust oder merkwürdig anmutenden öffentlichen Debatten oder auch für Handlungsmaxime der Politik. Jede politische Führung des Landes muss sich dieser Trennlinien bewusst sein und das Land zu vereinen versuchen. Dies kann geschehen mit gemeinsamen Narrativen oder einem Einstehen für gemeinsame Werte und Interessen, oftmals als Antwort auf Bedrohungen oder Gefahren der Staatlichkeit.

Auch aus diesem Grunde ist das Regieren in Ungarn ein Drahtseilakt von widerstreitenden Interessen und inneren Freiheitskämpfen. In diesem Sinne ist es keine Übertreibung, von identitätsstiftenden und die ganze Nation vereinenden Politikansätzen zu sprechen, ohne die keine Regierung auch nur den Bruchteil einer gesamtungarischen Akzeptanz entwickeln würde.

Die Regierung von Viktor Orbán ist auf bestem Wege, solche Ansätze zu entwickeln, erfolgreich umzusetzen und dafür die Unterstützung des gesamten Ungarntums anzustreben. Ungarn ist dabei aber keinesfalls ein monolithischer Block von Parteigängern der Regierungskoalition, sondern vielmehr eine Ansammlung von Individualisten und Freiheitskämpfern. Dies muss die ungarische wie auch europäische Politik stets berücksichtigen.