Vergleicht man die politische Landschaft und die öffentlichen Debatten in Deutschland und Ungarn, dann kommt man nicht umhin festzustellen, dass sich viele aktuelle Diskurse, Meinungsverschiedenheiten und Konflikte sowohl im europäischen, aber auch im bilateralen Miteinander auf die unterschiedlichen Prämissen und Voraussetzungen bürgerlicher Politikgestaltung zurückführen lassen. Insbesondere die freiheitlich-konservative Reformagenda in Ungarn lässt sich erst dann in voller Breite erschließen, wenn man sich die entsprechenden Ansätze der Bürgerlichen in Deutschland vergegenwärtigt.

Zur Lage der CDU

In den letzten Wochen und Monaten schrieben die Zeitungen viel über die Schwäche der Ampelkoalition, das Erstarken der AfD und vor allem über die wechselhafte Lage der Christdemokraten. Es scheint so, als wäre die CDU noch immer auf der Suche nach ihrer Oppositionsrolle. Noch immer muss sie den Verlust der Macht verarbeiten und die richtigen Schlüsse für die Zeit in der Opposition ziehen.

Das Selbstverständnis der CDU als „staatstragende“ Partei erschwert diesen Prozess natürlich, denn gerade in geopolitisch turbulenten Zeiten kann es angebracht sein, die Regierung zu unterstützen. Dies macht sich etwa in Fragen der Ukrainepolitik bemerkbar. Die CDU hat in der Frage ihrer Oppositionsfähigkeit aber auch ein strukturelles, inhaltliches und personelles Problem.

Strukturell ist sie in vielen Angelegenheiten mit der Bundesregierung in einem Boot, denn sie regiert in der Hälfte der Länder und zwar ausschließlich mit den Parteien der Ampelkoalition, noch dazu mit allen. In sechs Ländern stellt sie den Ministerpräsidenten, in zwei ist sie der Juniorpartner. Dazu kommt, dass die CDU in Thüringen den postkommunistischen Ministerpräsidenten von der Linkspartei unterstützt, der ohne Mehrheit regiert.

Der einzige Ministerpräsident der Union, der sich auf eine bürgerliche Mehrheit im Landtag verlassen kann, ist der CSU-Vorsitzende Markus Söder. Von dieser Position aus kann er energisch und authentisch die Bundesregierung attackieren und tut dies auch. Die CDU ist da viel vorsichtiger. Das sagt viel aus über das Machtgefüge innerhalb von CDU/CSU. Aber selbst in dem einzigen Fall außerhalb Bayerns, in dem es eine bürgerliche Mehrheit – sogar ohne die AfD – gäbe, nämlich in Schleswig-Holstein, wird sie nicht genutzt und wird stattdessen mit den Grünen regiert.

Inhaltlich betrachtet sind viele Kernanliegen bürgerlicher Politik bei der CDU nur noch schwach ausgeprägt und diffus vorhanden. Sofern sie doch noch vorhanden sind, werden sie kaum vertreten. In den Jahren der Merkel-Regierungen war man meist mit den Sozialdemokraten am Ruder, viele sozialdemokratische Forderungen in Sachen Inhalt und Personal wurden befriedigt. Die Union wollte hingegen tatsächlichen oder vermeintlichen gesellschaftlichen Erwartungen vor allem mit Blick auf die Grünen entsprechen und ist kräftig  nach links gerückt. Besonders deutlich ist das in den Bereichen Migrationspolitik, Gesellschaftspolitik, Energiepolitik und Verteidigungspolitik zu erkennen.

Die Führungsmannschaft der CDU besteht zu großen Teilen aus Merkel-Anhängern bzw. aus Politikern der Merkel-Ära. Daher fällt es besonders schwer, aus der strukturell-inhaltlichen Falle herauszukommen und damalige Fehler auch ganz klar als solche zu benennen, die Konsequenzen daraus zu ziehen und nunmehr beherzt einen Politikwechsel anzustrengen. Statt inhaltlich und personell einen Neuanfang zu wagen, verliert sich die Union daher in Grabenkämpfen zwischen den Anhängern von Angela Merkel und denen von Friedrich Merz.

Bürgerliche Mehrheiten?

In der Hälfte der Landtage gibt es bereits heute bürgerliche Mehrheiten - und auch im Bundestag. Doch werden diese außerhalb Bayerns nicht genutzt. Ein besonders eklatantes Beispiel ist – wie oben erwähnt – Schleswig-Holstein. Theoretisch könnte die CDU in vier Ländern die linken Koalitionspartner auswechseln, in weiteren zwei sogar an die Regierung kommen. Doch dies geschieht nicht.

Die AfD ist zwar mit zwei Ausnahmen in allen Landtagen vertreten, wird aber systematisch von den Entscheidungsfindungen ausgeschlossen. So wird ihr etwa der ihr zustehende Posten des Bundestagsvizepräsidenten verwehrt und musste sich ihre politische Stiftung die staatliche Finanzierung erst auf dem Klageweg erstreiten. Eine Kooperation mit der AfD lehnen alle anderen Parteien ab. Schon allein ein Nachdenken über eine Zusammenarbeit mit der AfD auf der eigentlich als unkompliziert geltenden Kommunalebene führt schon zu einem politischen Gewitter – wie u.a. das Echo auf die Äußerungen des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz in seinem kürzlichen ZDF-Sommerinterview bewies.

Vielmehr erscheint es aus Gründen der politischen Opportunität geboten, sich möglichst lautstark von der AfD abzugrenzen und die „Brandmauer“ aufrechtzuerhalten. Dabei verweist die CDU auf ihre Grundsatzentscheidung, weder mit der AfD noch mit der Linkspartei zusammenzuarbeiten. Merkwürdigerweise verstößt sie in Thüringen gegen dieses Prinzip und hält einen Ministerpräsidenten der Linken an der Macht.

Wo ist die Opposition?

Aufgrund der strukturellen, inhaltlichen wie personellen Verfestigung bestehender Verbindungen zu den linken Parteien tritt die CDU auf der Stelle und kann letztlich keine kraftvolle Oppositionsarbeit betreiben. Von den rekordniedrigen Zustimmungswerten der Ampelparteien, momentan kämen sie zusammen auf kaum 40 Prozent, müsste eigentlich die Opposition profitieren.

Die CDU wird jedoch kaum als solche wahrgenommen. Stattdessen geht die AfD auf Konfrontationskurs zur Regierung und gefällt sich in ihrer Rolle als Underdog. Je mehr sie verteufelt wird, umso selbstbewusster tritt sie auf. Die jüngsten Erfolge geben ihr Recht. Sie kann nun vollends auf starke Botschaften setzen, siehe auch die Wahl von Maximilian Krah zum EP-Spitzenkandidaten.

Für die politischen Beobachter erscheint es wie aus der Zeit gefallen, dass die stärkste Oppositionskraft, also die CDU, sich so gar nicht als prägende und bestimmende politische Kraft positioniert und sich stattdessen in Konflikten mit der anderen Oppositionspartei rechts der Mitte verheddert. Dass das bürgerliche Lager gespalten ist und wegen der permanenten „Brandmaueritis“ kaum an bürgerliche Mehrheiten zu denken ist, frustriert die eigenen Wähler und treibt sie scharenweise zur AfD, die inzwischen nur noch vier Prozentpunkte von der Union entfernt ist.

Botschaften des bürgerlichen Lagers

Dabei könnten viele Botschaften des bürgerlichen Lagers, spräche man sie einmal aus, für Klarheit und Entschiedenheit sorgen. Neben den relevanten Themen Migration, Gesellschaft, Wirtschaft, Energie und Sicherheit gibt es noch viele weitere, die den Wählern unter den Nägeln brennen und bei denen sie klare Gegenentwürfe zur Ampelpolitik erwarten. Diese könnten zugleich als verbindende Elemente im bürgerlichen Lager fungieren. Viele Wähler von CDU, CSU, FDP, AfD und den Freien Wählern denken nämlich ganz ähnlich.

Diese Fragen zu benennen und beherzt zu vertreten, könnte sich als einigendes Band in einem ansonsten strukturell nicht-linken Deutschland erweisen. Dass die Mehrzahl der Medien, der öffentlichen Diskurse und der Politik eher das Bild eines Hippie-Landes vermitteln, entspricht nicht der Lebensrealität der meisten Deutschen. In der breiten Mitte der Gesellschaft wollen die Bürger in einem sicheren Land mit guter Zukunftsperspektive leben, solide wirtschaften, Eigentum, Eigenheim und bleibende Werte schaffen, ihren Kindern gute Bildung, Gesundheit und Chancen garantieren und nicht etwa von verblendeten Ideologen regiert werden – diesbezüglich ticken die Deutschen übrigens genauso wie die Ungarn.

Ungarische Politikansätze

Wenn in Deutschland über Ungarn diskutiert wird, dann sind diese Debatten eher auf Deutschland bezogen und verraten viel mehr über die innerdeutschen Befindlichkeiten als viele wahrhaben wollen. In Ungarn wird insbesondere in den Bereichen Familie, Gesellschaft, Migration, Wirtschaft, Energie und Sicherheit eine bürgerliche Politik betrieben, die gut und gerne als freiheitlich-konservative Agenda verstanden werden kann.

Dabei haben die Konservativen im Lande eine breite Mehrheit, ein Wunschtraum für das zersplitterte bürgerliche Lager in Deutschland. Dass die Linken, Linksliberalen und Grünen umso heftiger auf Ungarn schießen, je erfolgreicher das Land ist, ist eine klarer Beweis für die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges. Die konservative Seite kann in Ungarn in den Bereichen Migration, Familie und Wirtschaft zudem auch auf weite Teile der linken Wähler zählen, da diese inzwischen vom Erfolg und der Vernünftigkeit der Regierungspolitik auf diesen Gebieten überzeugt sind. Auch die bewiesene Kompetenz beim Bewältigen von Krisen kommt bei diesen Wählern gut an.

All das ist nicht zuletzt die Grundlage für die viermalige Zweidrittelmehrheit der Regierungsparteien. Wenn man aus Deutschland auf diese Situation blickt, vermag sich bei den Bürgerlichen Wehmut einstellen, schließlich hat das ungarische bürgerliche Lager Voraussetzungen, von denen das deutsche nur träumen kann. Dennoch gilt: Deutsche Fragen müssen in Deutschland beantwortet werden.

Finden die Bürgerlichen beider Länder zueinander?

Für die Ungarn ist absolut klar, dass es prinzipielle Gegensätze zu den linksliberalen, woken, grünen und linken Ideologien gibt, die sich vor allem auf den oben erwähnten Politikfeldern zeigen und sich aus grundsätzlichen Erwägungen ergeben. Die Ungarn wollen einen Ausgleich zwischen Individualinteresse und Gemeinwohl erreichen und sorgen daher für die Einbindung des Einzelnen in Gemeinschaften, ein zutiefst christdemokratischer Gedanke.

Balázs Orbán, der Politische Direktor des Ministerpräsidenten, bemerkte kürzlich in einem Interview: „Nach unserem Dafürhalten muss die Verfassungsordnung dafür sorgen, diese Bindungen zu stärken. Es ist sicher nicht Aufgabe einer Verfassung, die rechtlichen Grundlagen für eine fortschreitende Vereinsamung der Menschen zu legen“ – siehe dieses BZ Magazin, Seite 8 bis 13. Zugleich betonte er, dass der ungarische Staat niemanden hineinreden wolle, wie er zu leben hätte. Dies würde in Ungarn wegen des großen Freiheitsdranges der Menschen auch gar nicht funktionieren.

Während das gut aufgestellte bürgerliche Lager in Ungarn über Mittel und Möglichkeiten, Kraft und Entschlossenheit sowie über Ausdauer und Sendungsbewusstsein verfügt, tun sich die deutschen Konservativen eher schwer und agieren äußerst vorsichtig. Dabei war es Altkanzler Helmut Kohl selbst, der macht- und kraftvoll regierte. Das „Regieren als Kunst des Machterhalts“ (Karl-Rudolf Korte) war seine Stärke, er war aber auch ein virulenter Parteipolitiker, der zwar polarisierte, aber auch erfolgreich gegen den Mainstream ankämpfte. Die CDU verfügt durchaus über ein Werteverständnis sowie die Tradition und die Erfahrung, um wieder eine erfolgreiche konservative Partei zu werden. Man sollte sie also keinesfalls abschreiben!

Eine Betrachtung von Beispielen erfolgreicher internationaler konservativer Politik wäre hier sicher angebracht, sei es nun ein Blick nach Spanien, Italien, Polen, Schweden oder auch  Tschechien. Doch die erfolgreichste bürgerliche Partei ist der ungarische Fidesz. Somit sollte auch die CDU nicht umhinkönnen, sich zumindest einmal gründlich anzuschauen, wie in Ungarn Politikgestaltung funktioniert und was die Basis für den Erfolg der Regierungsparteien ist.

Diese hat sicher etwas mit einer guten, soliden und erfolgreichen Regierungsarbeit zu tun, aber auch mit der Führungspersönlichkeit von Ministerpräsident Viktor Orbán. Meist unterschlagen wird in den internationalen Debatten jedoch, dass Fidesz mehr als zwanzig Jahre lang systematisch den vorpolitischen Raum, das bürgerliche Lager und die gesamte ungarische Gesellschaft beackerte, Verbündete und Unterstützer sammelte, den Diskurs beeinflusste, Initiativen übernahm, Kontakt zum Wähler suchte und auch beständig an sich selbst arbeitete.

Herausforderungen der Zusammenarbeit

Die Bürgerlichen in Ungarn haben wiederholt klargemacht, dass sie eine Kooperation mit der CDU/CSU suchen und nicht auf eine Zusammenarbeit mit der AfD aus sind. Seinen Grund hat dies nicht zuletzt in der derzeitigen Ferne der AfD von der Übernahme von Regierungsverantwortung. Aber auch hier gilt: Deutsche Fragen sind in Deutschland zu beantworten. Ob und wie sich die AfD in Zukunft eventuell wandelt und eines Tages gar in Regierungsverantwortung kommt, ist eine völlig offene, und in erster Linie innerdeutsche Frage, in die sich die Ungarn tunlichst nicht einmischen sollten.

Sie betonen vielmehr, dass sie die ungarischen innenpolitischen Fragen in Ungarn lösen wollen und diese nicht etwa in Brüssel oder Berlin gelöst werden sollten. Ebenso muss der deutsche Wähler eine Entscheidung für seine Zukunft treffen. Und über allem steht ein beim Fidesz häufig zitierter Spruch: „Der Wähler hat immer Recht“.

Gegenwärtig hofft man in Ungarn, dass die CDU/CSU eine wahre Alternative zur Ampelregierung darstellen kann und bürgerliche Politikansätze wieder zum Tragen kommen. Dabei ist eine große Offenheit zur Zusammenarbeit auszumachen. Gerne würden die Ungarn ihre Erfahrungen an andere weitergeben. Dazu braucht es jedoch nicht zuletzt die Bereitschaft des deutschen bürgerlichen Lagers.

Eine andere Frage ist immer gewesen, dass die Ungarn die Politik der Merkel-Union wenig verstanden haben. Für sie ist vor allem die Zusammenarbeit mit den Grünen und Sozialdemokraten kaum nachvollziehbar. Natürlich weiß man um die schwierigen Mehrheitsfindungen und das bundesrepublikanische Konsensmodell, doch sieht man zugleich, dass es während der Merkel-Jahre ohne Not in vielen Politikbereichen zu einer Selbstaufgabe konservativer Positionen gekommen ist. Dieser Ansatz wird auch unter der jetzigen Parteiführung weiter betrieben. Große Hoffnungen richten sich jedoch noch immer auf den neuen Generalsekretär, der ja für eine konservative Politik stehen soll. Sollte dies tatsächlich zutreffen, dann käme seine Partei nicht umhin, den Dialog mit den erfolgreichen Bürgerlichen in Ungarn wieder zu suchen.

Nicht vergessen sollte man in diesem Zusammenhang, dass Ministerpräsident Viktor Orbán in Deutschland ein unumgänglicher Teil der politischen Debatte geworden ist. Von vielen verteufelt, von vielen geliebt, bleibt niemand unberührt, wenn von ihm die Rede ist. Dabei wäre eine ausgewogene Betrachtung der ungarischen Politik sicherlich hilfreich. Zumeist sind die Hintergründe, Umstände und Voraussetzungen der ungarischen Politik und des hiesigen öffentlichen Lebens in Deutschland kaum bekannt. Die Kommunikationskanäle offenzuhalten und permanent die deutsche Öffentlichkeit mit Informationen zu versorgen, ist daher ein zweckdienliches und zugleich auch sehr anspruchsvolles Unterfangen.

Fazit

Bürgerliche Politikansätze in Deutschland und Ungarn haben andere Voraussetzungen. Die strukturellen und inhaltlichen Einlassungen der Union mit den politischen Wettbewerbern von links und die Spaltung des bürgerlichen Lagers bleiben die größten Herausforderungen. Dennoch denken die meisten Wähler in beiden Ländern sehr ähnlich und ist die Mitte der Gesellschaft eher bürgerlich. Sollten die Spannungen in Deutschland überwunden werden und die Bürgerlichen ihre Rolle als Sachwalter der breiten Mitte der Gesellschaft wieder annehmen, erschiene eine stärkere Zuwendung zu erfolgreichen internationalen Beispielen konservativer Politikgestaltung durchaus sinnvoll. Dabei führt an Ungarn kein Weg vorbei. Die ungarischen Bürgerlichen sind die erfolgreichsten in ganz Europa. Sie regieren mit Viktor Orbán ununterbrochen seit 13 Jahren und insgesamt sogar 17 Jahre, also länger als Konrad Adenauer, Helmut Kohl oder Angela Merkel. Damit und mit ihrer erfolgreichen und selbstbestimmten Politik werden sie auch international als Vorbild angesehen und können sich immer besser vernetzen. Es liegt an den Deutschen, die Zusammenarbeit mit den ungarischen Bürgerlichen wieder zu intensivieren – die Ungarn sind dazu ganz sicher bereit.