Eine Kurzanalyse der Entwicklung und der Besonderheiten des ungarischen Wahlsystems.

In Ungarn wird die Ungarische Nationalversammlung alle vier Jahre in allgemeinen, freien, geheimen, gleichen und unmittelbaren Wahlen bestimmt. Dabei haben die Wähler im Normalfall zwei Stimmen. Mit der Erststimme wird in den Einzelwahlkreisen der Direktkandidat eines Wahlkreises gewählt, mit der Zweitstimme die Parteiliste, wobei das ganze Land einen Wahlkreis darstellt, es gilt die 5%-Hürde. Anders als in Deutschland ist die Gesamtzahl des Parlaments fix: Dort sitzen immer 199 Volksvertreter. Von ihnen sind 106 direkt in den Einzelwahlkreisen gewählte Abgeordnete, 93 werden über die landesweiten Parteilisten entsandt. Somit stellt das ungarische Wahlsystem ein Grabenwahlsystem dar, bei denen die in den Einzelwahlkreisen in einer Runde mit einfacher Mehrheit gewählten Bewerber und die vermittels Parteilisten Gewählten zwei separate, getrennte Blöcke bilden. Anders als in Deutschland gibt es keine Wechselwirkung und Verschränkung der beiden Untersysteme, da der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sich nicht auf alle Abgeordneten bezieht, sondern nur auf die Listenmandate. Bei den Direktabgeordneten kommt das Mehrheitsprinzip zum Tragen. Daher ist das ungarische Wahlrecht ein Mischwahlrecht mit Verhältnismäßigkeits- aber noch stärkeren Mehrheitselementen. Dabei erfährt das Grabenwahlrecht eine minimale Modifizierung durch zwei kleine Brücken, genannt Verliererkompensation sowie Gewinnerkompensation. Zu den Details aber später mehr.

Wahlrecht der Wende

Die Prinzipien des auch heute noch wirksamen Wahlrechts wurden bei den Verhandlungen am Runden Tisch in der Wendezeit 1989 festgelegt. Dabei galt der Grundsatz, dass durch starke Mehrheitselemente ein stabiles Regieren garantiert werden solle. Bei der Ausarbeitung des Zweitstimmenwahlrechts orientierten sich die Väter des Wahlrechts am deutschen Modell. Auch andere Elemente im ungarischen Staatsorganisationsrecht, wie etwa das Konstruktive Misstrauensvotum, sind in Anlehnung an die deutsche Staatsrechtspraxis implementiert worden.

Zunächst galt, dass von den insgesamt 386 Abgeordneten 176 in Einzelwahlkreisen, 210 mittels Liste bestimmt wurden. Hierbei war das Mischsystem also bereits in ähnlichem Verhältnis vorhanden wie auch heute. Das Einzelwahlkreissystem war aber anders als heute nicht an das deutsche oder etwa britische Modell angelehnt, sondern an das französische, sprich das Modell der absoluten Mehrheitserfordernis. Somit musste in Einzelwahlkreisen, in denen keiner der Bewerber die 50%-Mehrheit errang, eine Stichwahl erfolgen, in die alle Kandidaten einzogen, die mindestens 12,5% der Stimmen erhielten. Gab es nicht mindestens drei solche Kandidaten, so zogen die drei Bestplatzierten in die Stichwahl.

Die Wähler konnten mit ihrer Zweitstimme für die Wahlvorschläge der Parteien in insgesamt 20 Territorialwahlbezirken (gleich den Komitaten) votieren, dabei war der größte Territorialwahlbezirk Budapest (28), der kleinste das Komitat Nógrad (4). Hierbei wurden maximal 152 Mandate verteilt, der Rest von mindestens 58 Mandaten wurde durch die Landeswahllisten der Parteien zugeteilt, für diese konnte man aber nicht stimmen, da diese Listen reine Kompensationslisten waren. Wahlkreisverlierer sowie die in den Territoriallisten aufgrund der kleinen Bezugsgröße nicht zuteilbaren Mandate „wanderten“ auf die Landesliste, daher konnten dort unter Umständen mehr Mandate verteilt werden. Dieses System war insgesamt sperrig und kaum zu durchblicken.

Bereits in den Nullerjahren machte das Verfassungsgericht zudem darauf aufmerksam, dass ein Neuzuschnitt der Wahlkreise aufgrund der unterschiedlichen Bevölkerungsentwicklung notwendig sei. Die politische Mehrheit vor 2010 hatte aber nicht den Willen, hieran etwas ändern zu wollen. Erst das weitreichende Mandat der Fidesz-Regierung ab dem Jahre 2010 machte den Weg frei für eine umfassende Reform des Wahlrechts.

Reformen ab 2010

Bevor überhaupt die neue Regierung im Frühjahr 2010 gebildet wurde, setzte die neue Parlamentsmehrheit um Fidesz-KDNP ein wichtiges Wahlversprechen um: Die Verkleinerung des Parlaments. Dieses wurde von 386 Mandaten auf 199 Mandate verkleinert. Wie genau das Wahlrecht hierzu ausgestaltet werden sollte, wurde zu einem späteren Zeitpunkt entschieden. Im Folgenden sollen die einzelnen Wahlreformen dargestellt werden. Diese werden im Wahlrecht und im Wahlverfahrensrecht geregelt.

Abschaffung der Stichwahl

Die zweite Runde der Parlamentswahlen in den Einzelwahlkreisen entfällt. Statt einer absoluten Mehrheit reicht eine einfache Mehrheit für die Wahl des Direktkandidaten in einem Wahlkreis. Damit erübrigt sich auch der politische Kuhhandel, der früher zwischen den beiden Wahlgängen um die Frage der Rücktritte von einzelnen Bewerbern betrieben wurde. Bei einem polarisierten politischen System mit zwei starken Polen wäre eine Stichwahl zudem völlig überflüssig.

Abschaffung der Territoriallisten

Die unausgegorene Verteilung der Mandate im System der Territoriallisten wurde abgeschafft. Sie erzeugte große Ungleichheiten und benachteiligte die kleineren Parteien sehr. Im Territorialwahlbezirk Nógrád etwa wurden vier Mandate vergeben. Es war völlig unmöglich, diese vier proportional auf die antretenden Parteien zu verteilen. Kleine Parteien gingen meist leer aus. Dieses Phänomen lässt sich auch heute noch in anderen Ländern mit Territorialwahlbezirken festmachen, etwa in Polen oder in Tschechien. Oftmals leidet darunter auch die Verhältnismäßigkeit, da sich Ungleichverteilungen ergeben können, siehe Parlamentswahlen in Tschechien im Oktober 2021. Mit der Reform wurden in Ungarn nunmehr die landesweiten Listen der Parteien wählbar, hinsichtlich der Listenmandate bildete das ganze Land einen großen Wahlbezirk. Dadurch ist eine bessere Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gegeben.

Neuzuschnitt der Wahlkreise

Aufgrund der Senkung der Zahl der Wahlkreise von 176 auf 106 war ein Neuzuschnitt erforderlich. Nach den Maßgaben des Verfassungsgerichts muss ein Neuzuschnitt erfolgen, wenn in einem Wahlkreis die Bevölkerungszahl um mehr als 15% von der durchschnittlichen Wählerzahl abweicht. Außerdem dürfen bei diesen Neuzuschnitten die Komitatsgrenzen nicht überschritten werden, die Wahlkreise müssen zudem ein zusammenhängendes Territorium bilden. In Deutschland sind Neuzuschnitte bei einer Abweichung von 25% erforderlich. Bei der Neugestaltung der Wahlkreise konnten Partikularinteressen sicherlich wenig Beachtung finden, die Maßgaben des Verfassungsgerichts sind hierbei bindend. Es gilt zu erwähnen, dass der Gesetzgeber vor 2010 fortlaufende Wahlrechtsverstöße durch Unterlassen begangen hatte.

Stärkung des Mehrheitselements

Bei der Senkung der Abgeordnetenzahl des Parlaments wurde die Zahl der Mandate von 386 auf 199 verkleinert. Dabei wurde die Zahl der Wahlkreise von 176 auf 106, die Zahl der Listenmandate von 210 auf 93 verkleinert. Während früher etwas mehr als die Hälfte der Abgeordneten nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bestimmt wurde, war dies mit der Reform etwas weniger als die Hälfte. Reziprok stellen die direkt in den Wahlkreisen mit der Mehrheitswahl bestimmten Direktkandidaten nunmehr mehr als die Hälfte der Abgeordneten dar, während sie früher weniger als die Hälfte ausmachten. Das Verhältnis 46-54 wurde zu einer Relation 54-46 umgekehrt. Diese Neuerung berührt aber das Wesen des Wahlrechts nicht, da das System auch schon früher als Mehrheitswahlsystem galt.

Stimmrecht für die Auslandsungarn

Seit den Parlamentswahlen 2014 haben auch Ungarn, die über keinen Wohnsitz im Inland verfügen, ein Stimmrecht bei den Wahlen. Entgegen weitverbreiteter Hinsicht betrifft dies nicht nur die Ungarn in den Nachbarländern, sondern viele Ungarn auf der ganzen Welt, die teils schon seit Jahren in der Diaspora und in der Emigration leben, etwa in Israel, in den USA oder in Deutschland. Dabei hat diese Personengruppe allen anderslautenden Stimmen zum Trotz kein Mehrrecht, sondern ein Minderrecht im Vergleich zu den in Ungarn lebenden Landsleuten.

Die Auslandsungarn haben nämlich nur eine einzige Stimme, namentlich für die Parteilisten. Die Erststimme für einen Kandidaten im Einzelwahlkreis bleibt ihnen verwehrt, da sie ja in keinem Wahlkreis wohnen. Entgegen der Praxis anderer Länder werden sie auch nicht etwa der Hauptstadt zugeschlagen (etwa Polen) oder bilden einen eigenen Auslandswahlkreis (etwa Rumänien). Sie müssen sich für die Wahlen eigens registrieren. An den letzten Parlamentswahlen haben etwa 220.000 Auslandsungarn ihre Stimme abgegeben, wahlentscheidend waren sie somit nicht. Die Auslandsungarn stimmen per Briefwahl ab, während die sich nur zeitweise im Ausland aufhaltenden Wahlbürger (etwa Geschäftsreisende, Touristen oder Studenten) zum ungarischen Konsulat müssen. Die sich in der Emigration Befindlichen müssten nach dem ungarischen Meldegesetz ihren Wohnsitz (und somit ihre sog. Wohnsitzkarte) abgeben, was die meisten aber nicht tun. Dann wären sie Auslandsungarn und hätten keine Erststimme mehr, sehr wohl aber die Möglichkeit der Briefwahl. Aus diesem Grund bilden sich vor den Konsulaten am Wahltag immer lange Schlangen. Das Wählen an den Konsulaten ist im Normalfall ja eben nur für die relativ kleine und überschaubare Gruppe der sich nur vorläufig im Ausland Aufhaltenden vorgesehen, permanent sich dort Befindliche müssten per Briefwahl wählen – hierfür müssen sie sich aber von ihrem Wohnsitz im Inland abmelden, was nur die wenigsten tun.

Parlamentarische Vertretung der autochthonen Minderheiten

Ungarn hat im europaweiten Vergleich sehr weitreichende Mitbestimmungsrechte der gesetzlich anerkannten autochthonen nationalen Minderheiten, derer es 13 im Land gibt (Roma, Deutsche, Polen, Slowaken, Slowenen, Kroaten, Serben, Rumänen, Ukrainer, Bulgaren, Griechen, Armenier und Ruthenen). Im Gegensatz zum privilegierten Mandatserwerb durch Nichtanwendung der 5%-Hürde folgt das Modell der Minderheitenvertretung in Ungarn einem anderen Muster.

Die Angehörigen der Minderheit müssen sich als solche registrieren und können dann ihre Stimme für den Wahlvorschlag ihrer Volksgruppe abgeben, die Zweitstimme für die Parteilisten entfällt. Etwa 37.000 Personen haben von dieser Möglichkeit bei den letzten Wahlen Gebrauch gemacht. Auch wenn nur eine einzige Stimme abgegeben wird, entsendet die Gemeinschaft einen sog. Fürsprecher mit Rederecht, aber ohne Stimmrecht. Erreicht der Wahlvorschlag ein Viertel der Stimmenzahl der für den Mandatserwerb benötigten Stimmen der Parteilistenbewerber (etwa ¼ von ca. 90.000), so erwirbt die Volksgruppe ein vollwertiges Mandat mit Rede-, Antrags- und Stimmrecht. Dies ist bisher nur der deutschen Volksgruppe gelungen, die als Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen mit Emmerich Ritter einen Abgeordneten in der Ungarischen Nationalversammlung stellt.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die als „politische Stimme“ geltende Listenstimme für die Parteien bei den autochthonen Minderheiten entfällt, sie also nicht vollwertiger Teil der politischen Stimmgemeinschaft sind. Minderheitenangehörige haben nur eine Erststimme für den Einzelwahlkreisbewerber, sind also Teil der lokalen Gemeinschaft. Auf der anderen Seite verhält es sich bei den Auslandsungarn genau reziprok. Sie sind Teil der politischen Stimmgemeinschaft mit ihrer Listenstimme, aber nicht Teil der lokalen Gemeinschaft, da sie keinem Wahlkreis zugeordnet werden können.

Verliererkompensation

Auch im alten Wahlsystem gab es Kompensationselemente. So waren die alten landesweiten Listen der Parteien stets nur Kompensationslisten. Hierbei wanderten die bei den Territoriallisten nicht zuteilbaren Mandate auf die Landesliste und wurden dort vergeben. Die Stimmen für die Parteien, die keine Mandate erringen konnten, sowohl was die Erststimmen der Einzelwahlkreisbewerber als auch die Zweitstimmen für die Territoriallisten betrifft, wurden bei den Landeslisten vergeben. Damit war das System eine reine Verliererkompensation. Auch heute gibt es eine Verliererkompensation. Nach den Regeln dieser gehen alle Stimmen der Wahlkreisverlierer auf die (nunmehr auch unmittelbar wählbaren) Landeslisten der jeweiligen Parteien. Damit ist sichergestellt, dass keine Stimme verlorengeht und unmittelbar in die demokratische Repräsentation miteinfließt.

Gewinnerkompensation

Das Prinzip, das keine einzige Stimme verlorengehen darf, kommt auch beim Grundsatz der sogenannten Gewinnerkompensation zum Tragen. Dies besagt, dass die zum Gewinn des Mandats nicht mehr benötigten Stimmen der Wahlgewinner ebenso der Landesliste zugeschlagen werden. Dies bedeutet, dass ein Wahlkreissieger, der beispielsweise 25.000 Stimmen im Einzelwahlkreis auf sich vereinen kann, während der Zweitplatzierte mit 20.000 Stimmen das Mandat verfehlt, den „Überschuss“ von 4.999 Stimmen der Landesliste seiner Partei beisteuert. Gerade in Hochburgen war zu beobachten, dass der sichere Mandatserwerb des Favoriten für die Wähler eine demotivierende Wirkung hatte. Mit der Gewinnerkompensation bestehet wieder eine Motivation, denn es ist nicht egal, mit welcher Proportion der Gewinner gewinnt. Die zum Sieg nicht mehr benötigten Stimmen gehen nicht verloren. Gäbe es dieses Prinzip in einer wie auch immer gearteten Form in den USA, wären die vielen Stimmen der Demokraten im Jahre 2016 im großen Flächenstaat Kalifornien, die für den Sieg der Elektoren gar nicht mehr gebraucht wurden, nicht verloren gewesen, sondern hätten gar das Pendel umschlagen können.

Weitere Besonderheiten

Für den ausländischen Beobachter nicht leicht zu verstehen ist das System der An-, Um- und Abmeldungen. Wähler, die sich am Wahltag nicht in ihrem Heimatwahlkreis aufhalten, können sich entweder für die Wahl im Konsulat im Ausland (Anmeldung) oder aber für einen anderen Wahlkreis im Inland melden (Ummeldung). Dabei geben sie ihre Stimme stets dem Wahlkreisbewerber ihres Heimatwahlkreises. Um die Anonymität der Stimmabgabe sicherzustellen, werden am Wahltag in jeden Wahlkreis Wahlzettel eines bestimmten Wahllokals nicht ausgezählt. Sie werden mit den aus den anderen Wahlkreisen und aus den Konsulaten eintreffenden Wahlzetteln vermengt und erst dann ausgezählt. So können keine Rückschlüsse auf das Wahlverhalten der einzelnen Wähler gezogen werden. Da Ungarn über 100 Auslandsvertretungen und 106 Wahlkreise hat, ergibt sich eine große Fülle an Kombinationen, wie die Stimmabgabe möglich ist. Um die Wahlfreiheit zu gewährleisten, müssen die Wähler bei einer Wahl im Ausland bis 9 Tagen vor dem Wahltag den Antrag eingereicht haben. Bis dahin haben sie aber unbeschränkt die Möglichkeit, diesen abzuändern – ohne Gebühren. Bei einer Stimmabgabe in einem anderen Wahlkreis im Inland besteht diese Möglichkeit bis Freitag 16.00 Uhr vor der Wahl, auch onlinebasiert. Die rein theoretisch endlose Möglichkeit der An- und Abmeldungen sowie der Ummeldungen kostet den Staat viel Geld, insbesondere die Verschickung der Wahlkreisstimmzettel quer durch das Land und die Welt. Die Angehörigen der autochthonen Minderheiten müssen sich ebenso registrieren, die Angabe der Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe beruht auf Selbstauskunft, darf staatlicherseits nicht überprüft werden und kann beliebig geändert werden, sei es von Wahl zu Wahl oder innerhalb der Frist für dieselbe Wahl.