In den europäischen Debatten wird viel zu häufig übersehen, dass Ungarn mit seiner manchmal eigenwilligen und für viele westeuropäische Beobachter gewöhnungsbedürftigen Politik gerade nicht für Unfreiheit und Unterdrückung, sondern für Freiheit und Freiheitswillen steht. Die Hintergründe für den besonderen ungarischen Freiheitsbegriff und den ausgeprägten Hang zum Individualismus lassen sich ohne ideengeschichtliche, politische und kulturhistorische Vorkenntnisse des Landes sowie der Mentalität, den eingespielten Mustern und Verhaltensweisen seiner Bewohner kaum verstehen.

Das Fremdbild von Ungarn

In der breiten medialen Öffentlichkeit in Deutschland wird Ungarn als eine defekte Demokratie, als halbautoritärer Staat mit eingeschränkten Grundrechten dargestellt und von einem immer größeren Teil der deutschen Bevölkerung auch so wahrgenommen. Als Beleg wird die Reformpolitik der letzten drei Legislaturperioden seit Amtsantritt von Ministerpräsident Viktor Orbán angeführt, die Freiheiten angeblich einschränke und von den Ungarn – so das Narrativ westlicher Medien – stoisch und gleichgütig hingenommen wird. Dies ist schon deshalb besonders beirrend, da die Ungarn ganz im Gegenteil große Anhänger der Freiheit und treue Kämpfer gegen jede Art von tatsächlicher oder vermeintlicher Unterdrückung sind. Die Politik kann nur sehr behutsam Reformen durchsetzen, da die Bevölkerung jede mögliche Einschränkung der von ihnen wahrgenommenen Freiheiten kritisch beäugt. Das in vielen deutschen Medien vermittelte Bild verkennt aber diese Tatsachen und erzeugt mit fehlendem Wissen und falschen Unterstellungen nach und nach eine schlechte Reputation von Ungarn, die ausländische Beobachter dazu verleitet, immer skeptischer und abweisender, ja feindseliger dem Land gegenüber zu werden. Diese mediale Wahrnehmung und teils auch Irreführung wurde bereits in vielen Monographien nachgezeichnet und beurteilt[1]. In der Tat erzeugt die negative Wahrnehmung von Ungarn gerade in der deutschen Öffentlichkeit viele Friktionen und Nachwirkungen, die bis zum heutigen Tage nicht hinreichend aufgearbeitet wurden.

Das Land der 10 Millionen Freiheitskämpfer

Ein bekannter Staatsmann pflegte einst zu sagen, es sei schwer, Ungarn zu regieren, denn das Land habe zehn Millionen Freiheitskämpfer. An dieser Aussage ist kaum zu rütteln, sie beschreibt ein Grundverständnis der Ungarn, das tief in ihrer Volksseele und im nationalen Bewusstsein verankert ist. Der ständige Kampf, das permanente Rebellieren und das nicht enden wollende Hinterfragen gerade von Entscheidungen der Obrigkeit und des Staates reichen weit zurück in die wechselvolle Geschichte des Landes und fanden ihre Ausprägungen während diverser Fremdherrschaften. Perfektioniert wurde diese Attitüde in den Jahrzehnten des Kommunismus und in den darauffolgenden wirren und unsteten Neunzigerjahren. Seine Höhepunkte fand der ungarische Freiheitsdrang in der Geschichte immer wieder in Revolten, Aufständen und Revolutionen gegen Osmanen, Habsburger und Sowjets. Während es in Zeiten der Fremdherrschaft und Besatzung immer wieder galt, sich gegen die von außen kommenden Einflüsse zu stemmen, gipfelte im Kommunismus diese Herangehensweise mit der Herstellung der zweiten Öffentlichkeit, eines klug austarierten Systems der Wechselwirkung zwischen öffentlichen und privaten Meinungsäußerungen sowie auch offiziellen und inoffiziellen Verfahrensweisen. Es galt als besonders clever und feinsinnig, dem autoritären Staat etwa dadurch passiv Widerstand zu leisten, dass man sich an bestimmte Regeln nicht hielt und mit Chuzpe, List und Geschick den Machthabern kleine und große Schnippchen schlug. Diese Einstellung lebt auch heute noch, weshalb es keinesfalls absonderlich ist, sich seine eigenen persönlichen Freiheiten selbst zu definieren und auszuleben – oft ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl.

Freiheitskampf auch in der Politik

Auf der Ebene der Politik sind diese Prägungen, Erfahrungen und daraus resultierende Mentalitäten nicht immer leicht zu erkennen. Oftmals werden Entscheidungen aus Brüssel oder anderswo durch die Brille der eigenen nationalen Souveränität betrachtet und bewertet. Nach den Wirrungen und Irrungen der ungarischen Geschichte erlangte das Land mit der demokratischen Wende seine volle Souveränität. Als Wiederherstellung dieses wichtigen Merkmals eigener Staatlichkeit gilt der 2. Mai 1990, der Tag der konstituierenden Sitzung der ersten nach der Wende frei gewählten Ungarischen Nationalversammlung. Dass man nach langer Zeit diverser Abhängigkeitsverhältnisse als freier und souveräner Staat nunmehr für sich selbst zuständig ist und frei und selbstbestimmt entscheiden kann, bildet eine Grunderkenntnis, die viele in Westeuropa gar nicht mehr teilen. Für die Ungarn sind dies die schönsten da freiesten Jahre, gelang es ihnen doch nunmehr, zu sich selbst zu finden. Die ungarische Politik muss sich an der eigenen Bevölkerung ausrichten und ihnen Ideen, Orientierung und Entscheidungen angedeihen lassen, die dem Wohl des Landes zugutekommen. Anhand dieser Denkweise sind, viele Aspekte der Kommunikation und der Politik der ungarischen Regierung zu erklären. Nur von diesem Standpunkt her ist zu verstehen, worauf die politische Führung des Landes hinauswill und welchen Herausforderungen sie sich gerade auch im feinfühligen Umgang mit der eigenen Bevölkerung zu stellen hat. Dies findet seine Entsprechung im Freiheitswillen der ungarischen Politik mit internationalen Akteuren, oftmals mit den Verantwortlichen der Europäischen Union.

Individualismus und Freiheitsverständnis

Die Ungarn gelten als große Individualisten[2] und Freiheitskämpfer. Neben den geschichtlichen und politischen Aspekten sind diese Befindlichkeiten und Einstellungen im tagtäglichen Leben der Menschen auszumachen. Die Postdiktaturgesellschaft erlebte in den Neunzigerjahren  einen in Deutschland kaum erklär- oder begreifbaren Boom an individuellen Freiheitsrechten, der darin gipfelte, staatliche Maßnahmen immer skeptisch zu begegnen, fast rundweg abzulehnen und sie nur dann zu befolgen, wenn man selbst den Nutzen eingesehen hat. Diese Mentalität lebt auch heute noch fort, weshalb es für staatliche Vertreter bis hin zur höchsten Führung des Landes so mühselig ist, das Land zu regieren. Seit 2010 gibt es indes eine geistig-moralische Wende, die zumindest in einigen Teilbereichen der Gesellschaft einen fairen Ausgleich zwischen Individualinteressen und Gemeinwohl herzustellen bestrebt ist. Für die freiheitsverliebten Ungarn sind die oftmals notwendigen und nützlichen Maßnahmen ein erstes Zeichen einer Einengung ihrer Freiheit. Denn das, was in Europa als Regierungshandeln gilt, wird in Ungarn zunächst einmal als Einschränkung wahrgenommen. Sie machen dann ihrem Unbehagen und ihrem Ärger lautstark Luft – für nichtsahnende Beobachter aus dem Ausland kann es sich bei den kritisierten Maßnahmen in ihren Augen wohl nur um Schritte Richtung Freiheitsentzug und Diktatur handeln, sonst würden die Leute ja nicht so massiv aufbegehren.

Freiheitskämpfe im Alltagsleben – warum Regieren mühsam ist

Beitragszahlungen

In Ungarn kann jeder, der keiner sozialversicherungspflichten Tätigkeit nachgeht, für etwa 20 Euro im Monat an der staatlichen Krankenkasse teilhaben. Von dieser Möglichkeit haben in den letzten Jahren mehrere Zehntausend Menschen Gebrauch gemacht und ein Großteil von ihnen entrichtete dennoch jahrzehntelang kein Entgelt. Außer mit einem Gebührenbescheid, dem keine weiteren Mahnungen oder gar Sanktionen folgten, wurde der Betroffene auch nicht weiter belangt. Die Betroffenen fanden es auch besser, einfach nichts zu zahlen. Finanzämter und staatliche Gesundheitsträger sahen es auch nicht als ihre Aufgabe an, einigen Zehntausenden hinterherzurennen, da die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ja sowieso einzahlten und die anderen mitfinanzierten. Also konnten einige wenige auf Kosten der Solidargemeinschaft Leistungen beziehen, für die sie nicht berechtigt waren. Dieser Zustand hielt jahrelang an und störte wohl die wenigsten. Die ungarische Regierung schickte sich aber an, hier eine Bereinigung durchzuführen. Wer eine Leistung nutzt, solle auch dafür aufkommen. Dies gelte aber nur für die Zukunft, d.h. jahrelang angehäufte Schulden waren null und nichtig und wurden (selbstverständlich) nicht beigetrieben. Nur in Zukunft sollte gelten: Wer bestellt, der bezahlt auch. Was folgte, war ein Sturm der öffentlichen Empörung und Entrüstung. Die Regierung gefährde Leib und Leben der Menschen, so noch die harmloseren Vorwürfe. Ein zur Opposition gehörender Bezirksbürgermeister kündigte sogar an, den in seinem Stadtbezirk Wohnenden aus der kommunalen Kasse bis zu vier Monatsbeiträge pro Jahr zu bezahlen. Aus den ursprünglich geplanten drei Monaten Karenzzeit bis zur Sperrung des Krankenversicherungsstatus bei Nichtbezahlen wurden aufgrund des öffentlichen Drucks sechs Monate. Die neue Regelung wurde Mitte 2020 eingeführt und nach den großen Entrüstungen und lautstarken Protesten passierte etwas, mit dem keiner gerechnet hatte, nämlich: nichts. Die Leute zahlten von nun an die Abgabe und begnügten sich damit, dass es nichts umsonst gibt. Was umso mehr die Erkenntnis reifen lässt, dass die Reform schon viel früher und eher hätte implementiert werden müssen. Wohl aus Angst vor dem Wähler oder Nachlässigkeit wagte sich aber lange Zeit keine Regierung an diese Frage.

Derartige Gemengelagen gibt es aber noch viele weitere, etwa die kostenfreie Nutzung des ÖPNV und Fernverkehrs für Senioren ab 65 Jahren – diese Regelung gilt übrigens aufgrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes für alle Bürger der Europäischen Union. Anders hingegen verhielt es sich aber bei der 2014 eingeführten sogenannten Internetsteuer. Diese sollte Datenvolumina mit einem sehr niedrigen Steuersatz belegen, um etwa über das Internet geführte Telefonate im Sinne der Steuergerechtigkeit ähnlich hoch zu besteuern wie die SMS-Umsätze. Nach großen Protesten und Kundgebungen vieler vor allem junger Menschen, etwa 100.000 Personen gingen im Oktober 2014 auf die Straße, wurde die Steuer wieder abgeschafft. Seitdem wird die Internetnutzung sogar mit einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz belegt. Ebenso verhielt es sich mit der im Jahre darauf eingeführten Sonntagsruhe, auch hier entlud sich ein großer gesellschaftlicher Unmut, der dazu führte, dass die Regelung nach nur einem Jahr wieder gestrichen wurde. So können die Ungarn also am Sonntag unbegrenzt einkaufen, in die Waschstraße fahren oder sonstige Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Gesetzliche Ladenschlusszeiten oder ähnliches gibt es nicht. Ebenso ist es in Ungarn völlig unvorstellbar, dass es etwa gesetzliche Einschränkungen für Freizeitaktivitäten geben könnte, etwa das in Deutschland bekannte Tanzverbot oder das noch lange Zeit geltende Residenzverbot bei Spielhallen und Casinos.

Meldewesen

Schätzungen nach leben hunderttausende Ungarn an einer anderen Wohnadresse als offiziell gemeldet. Als Grund für die Diskrepanz wird meist Nachlässigkeit oder Desinteresse genannt, aber auch die Zeitnot für den Behördengang, der Schutz der Privatsphäre oder auch die verblüffende Mitteilung, der Wohnungsvermieter würde schwarz vermieten und eine Wohnsitzanmeldung zwecks Vertuschung der Steuerpflicht nicht genehmigen. Diese Gründe würde man in Deutschland einfach nicht nachvollziehen können – zu Recht. Aber in Ungarn ist es Gemeingut, dass die Menschen sich gar nicht die Mühe machen, sich ordentlich umzumelden, sondern über Jahrzehnte dort gemeldet bleiben, wo sie hineingeboren wurden. Immer wieder gibt es öffentliche Empörung, wenn einige Kommunen den Erwerb eines Einwohnerparkausweises, mit dem für sage und schreibe 2,50 EUR jährlich in Parkzonen dauerhaft geparkt werden darf (in denen der Stundenpreis ansonsten etwa 1,00 EUR beträgt), an eine Wohnadresse im Bezirk koppeln wollen. Für viele schlicht ein Affront!

Wählen an jedem beliebigen Ort möglich

Diese Begebenheit rund um die Anmeldefaulheit vieler Ungarn führt zur skurrilen Situation, dass bei den Parlamentswahlen eine rege Reisetätigkeit einsetzt. Leute fahren kreuz und quer durch das Land, um ihre Stimme abzugeben. Sie können natürlich auch an jedem anderen Ort für ihren Heimatwahlkreiskandidaten abstimmen, hiervon machen aber vergleichsweise wenig Gebrauch (eine Briefwahl für Inlandswähler gibt es nicht). Noch bemerkenswerter ist, dass im Ausland lebende Ungarn oftmals ihren ungarischen Wohnsitz gar nicht aufgeben, was mit praktischen Gründen zusammenhängt. Sie gelten dann aber auch nicht als Auslandsungarn, können also keine Briefwahl machen und müssen persönlich zum Konsulat fahren. Diese Möglichkeit der Stimmabgabe ist eigentlich nur für sich dort vorläufig Aufhaltende vorgesehen, also etwa Urlauber, Geschäftsreisende oder Erasmus-Studenten. Dennoch hört man alle vier Jahre, wie ungerecht dieses System sei, würden ja diese Wähler persönlich anreisen müssen und würden dadurch benachteiligt. Oppositionspolitiker argumentieren allen Ernstes, dass sich das „Regime von Ministerpräsident Viktor Orbán“ ganz bewusst an den vor der Diktatur Geflohenen (sic!) rächen wolle. Dass dieses Wahlverfahren schon immer so funktionierte, wird verschwiegen. Ebenso wird verschwiegen, dass sich die Betroffenen ja nur ordnungsgemäß aus Ungarn abmelden müssten, und schon wäre die Sache mit der Wahl viel einfacher.

Aus jenen Gründen ist es in Ungarn möglich, in jedem beliebigen Wahlkreis wählen zu können, allerdings selbstredend für den Kandidaten des Heimatwahlkreises. Dafür muss sich der Wähler nur spätestens neun Tage vor der Wahl beim Wahlamt anmelden, was auch online möglich ist. Er kann vorher seinen Antrag bis zum Stichtag beliebig oft ändern, kostenfrei und ohne Angabe von Gründen. Ebenso verhält es sich bei der Anmeldung für die Stimmabgabe an einer ungarischen Auslandsvertretung. Die Verschickung von Wahlunterlagen landauf, landab ist mit einem immensen materiellen und organisatorischen Aufwand verbunden, wird aber als ganz selbstverständlich hingenommen. Etwaige Überlegungen, diesem System Einhalt zu gebieten und zumindest einige Elemente restriktiver zu handhaben, würden wohl im Keime erstickt werden. Das ungarische Wesen hat ein seismographisches Gespür für tatsächliche oder vermeintliche Gefahren für die individuelle Freiheit. Eine Festlegung, tatsächlich im eigenen Wahlkreis wählen zu müssen, frühere Fristen wahrzunehmen oder mit dieser kostbaren Ressource der Wahl- und Handlungsfreiheit an jedem Ort zu jeder Zeit pfleglicher umzugehen, wäre für die Ungarn eine ungehörige Freiheitsbeschränkung.

Termine und feste Vereinbarungen als Einengung der Freiheit

Mit der Corona-Impfkampagne kam es im Herbst 2021 nicht mehr richtig voran, Grund war nicht etwa mangelnder Impfstoff, die Schließung der Impfzentren oder schlechte Organisation, sondern die Ermüdungserscheinungen in der Bevölkerung sowie ihr Hang, sich terminlich nicht festlegen zu wollen. Anders als in Deutschland wurden Impfzentren nicht geschlossen, sondern empfingen die Menschen mit Terminvoranmeldung. Dabei konnte man frei auswählen, wo und wann man geimpft werden möchte und mit welchem Impfstoff. Ungarn bietet als einziges Land in der EU alle sechs handelsüblichen Impfstoffe an. Nachdem sich die wöchentlichen Impfungen bei einigen Tausend eingependelt hatten, entschied sich die Regierung, den Freiheitsdrang der Ungarn im positiven Sinne urbar zu machen. Ab November 2021 war es nämlich möglich, an drei Tagen in der Woche, auch am Wochenende, ohne Voranmeldung in jedem beliebigen Impfzentrum jedes beliebige Vakzin entgegenzunehmen. Im Rahmen der ersten sog. „Impfaktionswoche“ nahmen fast 800.000 Menschen teil. Dieser rasante Anstieg ist maßgeblich dem Umstand zuzuschreiben, dass die Ungarn sich terminlich nicht gerne binden. Sich einige Tage vorher festzulegen, an welchem Ort man wann zu sein hätte, wird als Einengung der persönlichen Freiheitssphäre wahrgenommen, was es unbedingt zu vermeiden gilt.

Ebenso waren im Juni 2022 alle Bürgerämter auch am Wochenende durchgehend geöffnet. Viele Menschen schafften es schlichtweg nicht, die abgelaufenen Ausweisdokumente rechtzeitig mittels Termin zu verlängern. Grund war, dass die Gültigkeit der in der Pandemie abgelaufenen Ausweisdokumente bis zum 30. Juni 2022 verlängert wurde. Für viele Ungarn ist aber ein Erscheinen auf dem Amt (und übrigens beim Arzt) ohne Termin eine Selbstverständlichkeit und praktisch gelebte Freiheit. Zum ganzen Bild sollte erwähnt werden, dass es seit Jahren eingespielte Praxis ist, die Bürgerämter am Tag einer landesweiten Wahl oder Volksabstimmung geöffnet zu halten. Jeder Bürger, der kurz vor dem Gang zum Wahllokal die Feststellung macht, dass sein Ausweis abgelaufen ist, soll unmittelbar und natürlich kostenfrei sofort in den Besitz eines neuen Ausweisdokuments kommen.

Corona-Politik

Während Deutschland in der zweiten Corona-Welle im Herbst 2020 in einen langanhaltenden Lockdown verfiel, wurde dieser in Ungarn bis zum spätestmöglichen Zeitpunkt hinausgezögert. Noch im November 2020 konnte man unbeschränkt ins Restaurant und Theater. Der nicht mehr vermeidbare Lockdown kam dann über die Winterzeit und hielt bis April/Mai 2021. Seitdem gab es abgesehen von einer mittlerweile aufgehobenen Maskenpflicht praktisch keinerlei Einschränkungen mehr. Die Politik eines immer wieder betriebenen und drohenden Lockdowns, Schulschließungen oder tiefgreifende Einschränkungen des öffentlichen Lebens hätte es in Ungarn ab Frühjahr 2021 überhaupt nicht mehr geben können. Zu groß war die Ermüdung der Bevölkerung, zu stark der Drang, wieder seine eigene Freiheit leben zu können. Die Ungarn beobachteten immer wieder mit Fassungslosigkeit, wie lange und nachhaltend etwa in Deutschland Corona-Maßnahmen bewerkstelligt wurden. Sie konnten ihr Glück gar nicht fassen, in einem Land zu leben, das den Menschen wieder ihr normales Leben ermöglichte.

Fazit

Die Ungarn sind größere Freiheitskämpfer als vom Ausland betrachtet zu vermuten wäre. Sie erkennen in allen Entscheidungen und Maßnahmen des eigenen Staates und auch anderer Instanzen zunächst einmal abzuwehrende und zu vereitelnde Angriffe gegen ihre Rechte und Interessen. Auch die Vertreter der politischen Führung erkennen im Gebaren ausländischer Organe in erster Linie immer die Einschränkung der ungarischen Freiheit. Die sich aus dem Kommunismus tradierten Muster und Grundannahmen setzen sich heute noch fort. Sie finden Ausdruck in einer strikten Abwehrhaltung gegen Maßnahmen von oben oder von draußen. In der Tat zeigte sich die ungarische Regierung in den letzten Jahren langsam und behutsam bestrebt, einen fairen Ausgleich zwischen Individualinteressen und Gemeinwohl zu bewerkstelligen, oftmals aber mit einem hohen Frustrationspotential und nicht immer von Erfolg gekrönt. Die auch aus dem Ausland wahrgenommenen Zwistigkeiten, gepaart mit der temperamentvollen Vehemenz der Ungarn, wurden fälschlicherweise als Beleg einer autoritären Politikgestaltung bewertet und kommentiert. Aus diesem Grunde erscheint es angebracht, die Tiefenschichten der politischen Kultur des Landes, die Mentalitätsunterschiede und die anders gelagerten historischen Erfahrungen zu würdigen und aus diesem Kontext heraus das Grundbedürfnis des Freiheitsverlangens der Menschen in Ungarn zu verstehen. Hand in Hand mit diesem Freiheitsdrang gehen die Vorstellungen der ungarischen politischen Klasse von Staat und Nation im Sinne der Souveränität des Landes. Freiheit gilt immer wieder verteidigt zu werden, so die Maxime der freiheitsbewussten und kämpferischen Ungarn.

(Der Artikel ist ursprünglich in einer gekürzten Version in der deutschen Wochenzeitung „Die Tagespost“ am 7. Juli 2022 erschienen.)