Je tiefer Europa in die Abwärtsspirale von Krieg und ökonomischer Krise hineinrutscht, desto unversöhnlicher werden die Positionen und größer die Spannungen. Was bleibt, wenn wir von den tagespolitischen Querelen zurücktreten und unseren Blickwinkel erweitern?

Nicht erst seitdem das ungarische Parlament Anfang dieses Monats den Kriegsnotstand bis in den Herbst hinein, genauer bis zum 1. November, verlängerte, dürfte in Ungarn klar sein, dass die wirtschaftliche und politische Lage Europas akut ist. Der Krieg in der Ukraine und seine wirtschaftspolitischen Folgen in Gestalt von Sanktionen und Energieembargos kommen zunehmend bei den Bürgern an. So kletterte die hiesige Inflationsrate erstmals über die 10-Prozent-Marke und macht zudem keine Anstalten, nicht dort zu verweilen.

Sanktionen, Ölembargo und Preisobergrenzen

Am 3. Juni legte die EU das sechste Sanktionspaket gegen Russland vor. Das Paket sieht ein vollständiges Verbot der Einfuhr von russischem Rohöl und russischen Erdölerzeugnissen auf dem Seeweg vor (mit einigen Ausnahmen für Bulgarien und Kroatien). Dies betrifft – mit dem Verzicht Deutschlands und Polens auf Öl aus dem Nordstrang der Druschba-Pipeline – 90 Prozent der derzeitigen Ölimporte aus Russland, ein beachtliches Ergebnis. Mitgliedstaaten, die in besonderem Maße von russischem Pipeline-Öl abhängen, können gleichzeitig eine vorübergehende Ausnahmeregelung in Anspruch nehmen und für den eigenen Bedarf weiterhin Rohöl über Pipelines aus Russland beziehen.

Die großen Energiesicherheitsbedenken der mitteleuropäischen Binnenstaaten am Südarm der Druschba-Pipeline, Ungarn, Tschechien und die Slowakei, wurden so berücksichtigt und vorerst beschwichtigt. Ihre Bedenken sind nicht unbegründet. MOL-CEO Zsolt Hernádi zufolge – siehe dazu auch das Interview mit ihm auf den Seiten 13 bis 17 – beläuft sich die Abhängigkeit Tschechiens vom russischen Öl auf etwa 50 Prozent, Ungarns auf etwa 60 Prozent (andere Quellen sprechen sogar von 65 Prozent) und der Slowakei auf 98 Prozent. Auf die mitteleuropäischen Länder kommen aber auch mit dieser Ausnahmeregelung schwere Zeiten zu. Bereits jetzt ist zu beobachten, dass aufgrund der Sanktionen alle Energieträger teurer werden, und das nicht nur für eine kurze Zeit. Die Regierung versucht, den als Konsequenz der Energiesanktionen steigenden Preisen mit Preisobergrenzen Herr zu werden.

Umstrittener Preisstopp

Sie geht davon aus, dass diese Preisobergrenzen die Inflation um 5 bis 6 Prozentpunkte abfedern, die derzeit bei über 10 Prozent liegt. Auch deswegen wurden sie kürzlich über den 1. Juli hinaus verlängert. Wirtschaftswissenschaftler warnen aber auch, dass ein solcher Preiseingriff nur kurzfristig durchzuhalten sei. Der Preisstopp solle lieber schrittweise auslaufen, da er sonst die langfristige Versorgungssicherheit in Ungarn gefährde.  

Orbán verteidigt sich wiederum gegen den Vorwurf der EU-Kommission „diskriminierender Kraftstoffpreise“ für Autos ohne inländische Kennzeichen. Das Konzept der Einheitlichkeit sei zwar in Friedenszeiten richtig. Da jedoch die Inflation in den Teilen Europas, die geographisch näher an der Ukraine liegen, höher ausfalle, bestehe Orbán auf „außergewöhnlichen Maßnahmen in außergewöhnlichen Zeiten“. Die Inflation sei vor allem eine Kriegsinflation. Zugleich warnt er vor einem Gasembargo, das die gesamte europäische Wirtschaft zerstören würde.

Die ukrainische Position in dieser Frage ist, dass Embargos den vermeintlich unvermeidlichen Countdown bis zum Zusammenbruch der russischen Wirtschaft und des Militärs beschleunigen. So nahm das ukrainische Außenministerium mit ausdrücklicher Enttäuschung zur Kenntnis, dass Ungarns Widerstand gegen das Ölembargo das Sanktionspaket zu lange verzögert habe und Ausnahmen gemacht wurden. Gleichzeitig wurde die EU aufgefordert, unverzüglich mit der Ausarbeitung eines siebten Sanktionspakets gegen Russland zu beginnen, wozu sogleich Vorschläge unterbreitet wurden.

In der Auslandspresse unterdessen ist vielen die abhängige Lage der Ungarn und anderen Mitteleuropäer sehr wohl bewusst. So griff die New York Times ein Bild von Orbán auf und schrieb von einer „Atombombe“ für die Wirtschaft. Gleichzeitig kritisierte sie aber auch ein ungarisches Hinauszögern wichtiger europäischer Entscheidungen. Viele kritische Stimmen sprechen gar von einer Geiselnahme der EU durch und einer Kapitulation der europäischen Politik vor Ungarn.

Die historischen Gegebenheiten

Und doch, wie immer, lohnt es sich, einen Schritt von dieser Vorwurfsspirale zurückzutreten und auch den historischen Kontext in den Blick zu nehmen. Mit dem Untergang des Sowjetblockes haben die Ost- und Mittelosteuropäer ein Versorgungssystem geerbt, in dem die Pipelines nur von Ost nach West verlaufen, nämlich so wie die gesamte kommunistische Energieversorgungsstruktur damals aufgebaut war. Das politische Ziel lag auf der Hand, nämlich die damaligen Satellitenstaaten abhängig von der Sowjetunion und ihren Rohstoffen zu machen und gleichzeitig eine Verbindung dieser Staaten untereinander zu verhindern.

Organisiert war dieses Zwangssystem im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW, auch COMECON), dessen sehr enge Wirtschaftsbeziehungen langfristige und nachhaltige Abhängigkeitsverhältnisse im mittelosteuropäischen Raum schufen. So gingen im ungarischen Fall teils über 50 Prozent der Exporte in die UdSSR. Gleichfalls gingen über 60 Prozent der sowjetischen Ölexporte in die RGW-Staaten, was sich bei diesen in Importanteilen von 90 Prozent bei Rohstoffen und Energiequellen widerspiegelte. Die Öl- und Gaslieferungen waren in stabilen Langzeitverträgen verankert.

So entstand ein System, in dem die stärksten Wirtschaftsakteure des Ostblocks gleichzeitig am abhängigsten von Rohstoffen aus der Sowjetunion wurden. Nord-Süd-Pipelines konnten im Prinzip nicht gebaut werden. Andere Bezugsquellen für Öl und Gas außer der Sowjetunion gab es erst recht nicht. Von dieser imperialen Wirtschaftspolitik und der daraus resultierenden Transportinfrastruktur profitiert die Russische Föderation bis heute.

Bundesstaat oder nicht?

Außerdem schwelt weiterhin ein Konflikt um die Zukunft der EU. Dubravka Suica, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, erklärte jüngst in Straßburg die Bereitschaft, die Gründungsverträge der EU zu ändern. Es wurde vorgeschlagen, dem Europäischen Parlament auch ein legislatives Initiativrecht einzuräumen und das Prinzip der Einstimmigkeit im Rat abzuschaffen. Die Zeichen in der EU stehen schon lange auf mehr Integration in einen gesamteuropäischen Bundesstaat – eine Position, die die ungarische Seite nicht teilt.

Kritisiert wird die Beschneidung der Befugnisse von Mitgliedsstaaten. Noch liegt die Souveränität aber bei diesen. Ohne deren Willen gibt es keine Europäische Union. Ungarns ehemaliger Justizminister László Trócsányi betonte: „Wir bauen nicht etwas von oben, sondern von unten.“ Gemäß diesem Prinzip sei es ein falscher Schritt, das Vetorecht der Mitgliedsstaaten abzuschaffen. Denn nicht zuletzt das Einstimmigkeitsprinzip sei es, das die Länder zu einem ständigen Dialog zwingt. Eine erfolgreiche europäische Politik könne nur mit den Staaten und nicht an ihnen vorbei gemacht werden

In den angespannten Zeiten will die EU Ungarn auch weiterhin wichtige Wiederaufbaugelder entziehen, die auch für die wirtschaftliche Loslösung von Russland dringend vonnöten wären. In diesem Kontext wirkt das Rechtsstaatsverfahren für manche beinahe wie ein politisches Erpressungsinstrument. Ihrer Meinung nach sollte Brüssel endlich von ideologischen Positionen abrücken und mehr Realpolitik machen. Auch die Umwelt können man schließlich nur konkret und real und nicht mittels Ideologien schützen. Inzwischen verlauten aus Budapest auch Vorwürfe an die europäischen Entscheidungsträger, sie hätten die Politik des Friedens aufgegeben und würden stattdessen die Krise mit immer mehr Sanktionen nur vertiefen und sich obendrein noch ins eigene Fleisch schneiden.

Solide Grundfesten

Was bleibt? Ein Strudel ökonomischer und politischer Natur, der sich seit 2008 als permanenter Krisenmodus etabliert hat und immer weiter abwärts dreht. Ein Strudel, der nicht zuletzt auch Risse zwischen den europäischen Gesellschaften und ihrer Meinung voneinander verursacht. Ein Strudel, der zunehmend das gemeinsame europäische Haus bedroht.

Und doch ist das europäische Haus auf soliden Grundfesten gebaut, die nicht so schnell erschüttert werden können. Spannungen hält es aus – in der Theorie; vorausgesetzt, dass die Staaten, Nationen und Politiker Europas gemeinsam handeln. Hier haben alle Seiten ihre Bringschuld zu leisten. Immerhin konnte auch beim sechsten Sanktionspaket wieder ein Kompromiss gefunden werden. Brüssel muss aber auch weiterhin ein offenes Ohr für die Belange seiner östlichen Mitglieder haben. Gleichzeitig gilt es nun aber auch für Budapest, notwendige Umstrukturierungen nicht hinauszuzögern und die gewonnene Zeit sinnvoll zu nutzen.