Im Oktober 2020 erschien das Buch des außenpolitischen Korrespondenten der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“, Michael Thumann, mit dem Titel „Der neue Nationalismus: Wiederkehr einer totgeglaubten Ideologie“ auf 280 Seiten. Grund genug, die Aussagen dieser Neuerscheinung genauer unter die Lupe zu nehmen sowie Vorurteilen und Arroganz gegenüber Ost- und Mitteleuropa zu entkräften.
So langsam sind wir es gewohnt, dass in einigen Medien über demokratische gewählte Staatsmänner vorwurfsvoll ein moralischer Mistkübel ausgeleert wird und es verwundert nicht wirklich, wenn der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán als Bösewicht Europas dargestellt und völlig kontextlos in einem Atemzug mit Vladimir Putin oder Recep Tayyip Erdoğan genannt wird. Auch überrascht kaum mehr, dass über Ungarn und seine Politik gerade in den deutschen Medien viel Unwahres verbreitet wird, da ja auch die Beschäftigung mit der ungarischen Politik von Oberflächlichkeit nur so wimmelt - siehe auch die Literatur, die der Autor verwendet.
Doch stellt das Machwerk des Zeit-Journalisten Michael Thumann alles bisher Dagewesene in den Schatten und ist ein Paradebeispiel für Ignoranz, Arroganz und unbegründete Vorurteile gegenüber Ungarn. In diesem Zusammenhang äußerte sich kürzlich auch der Vizevorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Arnold Vaatz, der wie folgt resümierte: „Ungarn ist für unseren Mainstream eine schwere narzisstische Kränkung. Fidesz bezieht in wesentlichen Fragen jene Positionen, welche die CDU vor zwanzig Jahren einnahm. Bleiben Sie wie Sie sind.“
Die Grundaussage des Bandes ist, dass ein ewig gestriger Nationalismus in Europa tobe und dies unseren Kontinent bedrohe. Er will die These widerlegen, dass es einen „guten Nationalismus“ gebe und er schiebt den von ihm als „Gelegenheitsnationalisten“ bezeichneten Personen nur taktische Absichten unter. Außerdem betont der Autor, dass der Nationalismus ein „Verfallsdatum“ habe. Er schließt das Eingangskapitel mit drei Aussagen seiner vormaligen Interviewpartner aus Serbien, Russland und aus der Türkei sowie seines Bestrebens, das Denken der von ihm als Nationalisten abgestempelten Menschen verstehen zu wollen.
Nun denn, es ist ihm nicht gelungen.
Thumann verwechselt Nationalismus mit Patriotismus, autoritäre Herrschaftsformen mit Demokratie und Demagogie mit Volkswillen. Dass Geschichte, Nationalstaat und Vaterlandsliebe in Mittel- und Osteuropa einen völlig anderen Stellenwert haben als beispielsweise in Deutschland, kommt in der Gedankenwelt des Zeit-Redakteurs gar nicht vor. Auch macht sich Thumann nicht einmal die Mühe eines Versuchs, Geschichte, Mentalität, politische Kultur, Befindlichkeiten und Besonderheiten der von ihm so sehr kritisierten Länder zu durchdringen. Wieder einmal zeigt sich, dass es notwendig wäre, ein Land oder ein Thema wirklich verstehen zu wollen, tiefer zu durchdringen und sich auf die Besonderheiten und Vorkommnisse vor Ort ehrlicher, umfassender und besser einzulassen. Nichts dergleichen geschieht hier. Vielmehr wird viel Ignoranz zelebriert und der einstudierte Reflex einer weltverbessernden Arroganz seitenweise gepflegt. Der erhobene Zeigefinger schwingt immer mit und wehe dem, der eine andere Weltsicht hat.
Noch schlimmer ist aber, dass er bereits auf der zweiten Seite gleich drei schreiende Unwahrheiten völlig substanzlos als Beweis seiner Theorien präsentiert. Dass diese überhaupt offenbar anstandslos durch das Lektorat des Verlages gegangen sind, ist erschreckend wie blamabel. Dort behauptet der Autor nämlich, Viktor Orbán hätte a) das Parlament aufgelöst, b) freie Wahlen abgeschafft und c) die Meinungsfreiheit eliminiert. Nichts dergleichen ist wahr und die Vorwürfe sind dermaßen unhaltbar und lächerlich, dass der geneigte Leser bereits nach diesen zündenden Eingangsstatements beruhigt das Buch aus der Hand legen könnte, nach dem Motto, es bringe doch eh nichts.
Ich habe mir aber die Mühe gemacht, mich vorzukämpfen und mir das Kapitel, das sich explizit auch mit Viktor Orbán beschäftigt, vorgeknüpft. Hier begegnet uns ein wahres Schreckensszenario. Aber nicht etwa, weil der ungarische Ministerpräsident so schlimm wäre wie von Thumann gebetsmühlenartig wiederholt, sondern weil die einseitige Betrachtungsweise nunmehr unerwartete Kapriolen schlägt. So etwa werden wenig schmeichelhafte Aussagen eines ungarischen Journalisten über Bundeskanzlerin Angela Merkel aus dem Jahre 2016 fälschlicherweise dem ungarischen Ministerpräsidenten untergeschoben, also Zitate, die gar nicht von ihm stammen.
Entweder ist der Autor schlampig und hat schlecht recherchiert oder aber er schreibt dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán diese Aussprüche wider besseren Wissens zu, wohlweislich in der Absicht, diesen erfolgreichen Ministerpräsidenten in einem schlechten Licht darzustellen und seine Reputation zu schädigen. Was schlimmer ist, mag der Leser selbst entscheiden. Beide Möglichkeiten sind kaum schmeichelhaft für einen sich zumindest an die Grundregeln journalistischen und publizistischen Anstands halten wollenden Verfasser.
Die Wahrheit ist meist dort, was ausgelassen wird. Ministerpräsident Viktor Orbán sagte über Angela Merkel etwa, dass er sie bis zuletzt habe überreden wollen, als Bundeskanzlerin zu bleiben. In seiner Festansprache beim 30. Jahrestag des Paneuropäischen Picknicks 2019 richtete er an Angela Merkel folgende Worte: „Ich bekunde unsere Wertschätzung Ihnen gegenüber, die Sie nunmehr seit vierzehn Jahren, bei vier aufeinander folgenden Wahlen zur Spitzenpolitikerin des bevölkerungsreichsten und stärksten Staates von Europa gewählt worden sind. Ich bekunde unsere Wertschätzung Ihnen gegenüber, die Sie seit langen Jahren über ihre eigene Heimat, Deutschland, hinaus für Europa, für die Zusammenarbeit der europäischen Nationen und die Wiedervereinigung von ganz Europa arbeiten. […] Hier bei uns, in Ungarn, wird den Damen gemäß den Regeln der Ritterlichkeit von Vornherein eine besondere Beachtung und Anerkennung zuteil – und vor hart arbeitenden und erfolgreichen Damen ziehen wir schon von weitem unseren Hut. Ich gratuliere Ihnen! Möge Ihre Arbeit auch weiterhin von lautem Erfolg, der Hochachtung des deutschen Volkes und der Anerkennung ganz Europas begleitet werden. Für Ihre Familie und Ihr persönliches Leben wünschen wir Ihnen Gottes Segen.“
Dies bedarf eigentlich keines Kommentars mehr. Wenn Journalisten einer vermeintlich hehren Mission hinterhereilend nicht nur Unwahrheiten verbreiten, sondern auch noch Zwietracht säen, dann muss der Leser entscheiden. Es ist nämlich weit mehr als nur unredlich, was Thumann an dieser Stelle tut. Er versucht einen Keil zwischen den beiden Dienstältesten des Europäischen Rates zu treiben, zwischen zwei in ihren Ländern tief verwurzelten und erfolgreichen Politikern, der deutschen Bundeskanzlern und dem ungarischen Ministerpräsidenten. Dieser unterhielt ja auch beste Beziehungen mit vielen deutschen Staatsmännern, auch mit Bundeskanzler Helmut Kohl, bis zu dessen Tod im Jahre 2017. Mit dieser Volte zementiert der Autor seine Missgunst und seinen Widerwillen gegen die gute und solide Kooperation der politischen Führungen der beiden Länder. Lassen wir nicht zu, die bilateralen Beziehungen durch solche Versuche zu beschädigen.