„Die Mitte liegt ostwärts“ - so lautete das vielbeachtete Werk des deutschen Osteuropahistorikers Karl Schlögel. Doch noch viel interessanter ist der Untertitel seines großvolumigen Essays: „Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteleuropa“. Das 1998 erschienene Grundwerk eines jeden Mitteleuropaforschers streift nicht nur durch die Vergangenheit, sondern antizipierte in hellseherischer Weise den Bedeutungszuwachs, den Mitteleuropa in den kommenden Jahrzehnten widerfahren sollte. Für die Leser der Budapester Zeitung ist dies ein guter Anlass und Ausgangspunkt, die Chancen und Perspektiven Mitteleuropas mit einem deutschen Auge zu betrachten.
Mitteleuropa – gut in Europa angekommen?
Nächstes Jahr werden in Ungarn Erstwähler an den Wahlen zur Ungarischen Nationalversammlung teilnehmen, die unmittelbar vor dem Beitritt zur Europäischen Union auf die Welt gekommen sind. Mit anderen Worten: Es wächst eine Generation heran, die nichts Anderes gekannt hat, als die Zugehörigkeit zur Union, eine Generation also, für die es selbstverständlich ist, auch formaljuristisch in einer Liga mit ihren Altersgenossen aus Deutschland, Spanien, Schweden oder Polen, Tschechien und Österreich zu spielen. Doch sind die Ungarn und die anderen Völker Mittel- und Osteuropas auch seelisch und mentalitätsmäßig angekommen? Und vor allem: Werden sie gehört, ihre Geschichte, ihre Narrativen und ihre Denkweise wahrgenommen und erkannt, dass auch sie Europa prägen und bestimmen? Ist den Vertretern der alten Mitgliedsländer überhaupt klargeworden, dass sich Europa verändert hat und die EU eine andere werden wird als in den eingespielten Jahren zuvor? Und kann vor allem Deutschland einen Beitrag leisten, um Mitteleuropa ein Forum und somit Gehör zu geben? Was kann Deutschland mit einer offenen und beherzten Mitteleuropapolitik gewinnen? Diesen Fragen werden wir nachgehen.
Das Narrativ von Mittel- und Osteuropa
Lange Zeit von Fremdherrschaft bestimmt, haben die Völker Ost- und Mitteleuropas ein feines Gespür für Gefahren und Bedrohungen von außen entwickelt, sie räsonieren anders auf Entwicklungen, denen ein Gefährdungspotential immanent ist und die für sie zum Nachteil gereichen können. In diesem Zusammenhang ist die Abwehrhaltung der Menschen gegenüber der illegalen Migration ein auf jahrhundertealte Erfahrungen zurückreichender Reflex, der von sich als aufgeklärt gebenden, in Wahrheit aber als arrogant wahrgenommenen Vertretern des alten, westlich verankerten Europa nicht geringgeschätzt, sondern als Erfahrungsschatz eines vielfältigen und traditionsreichen Kontinents verstanden werden sollte. Wenn dies nämlich verkannt wird, potenzieren sich die als von außen kommend eingestuften Gefahren in den Augen der Mitteleuropäer und die vermeintlich gutgemeinten Ideen und Vorschläge gerade aus Brüssel werden als weitere Einmischung und Bedrohung, wenn nicht gar als Bevormundung und Besserwisserei verstanden. Daher ist Maß und Mitte angezeigt!
Um andere Länder hinreichend verstehen zu können und die dortigen Entwicklungen überhaupt richtig einordnen zu können, bedarf es einer tiefen Auseinandersetzung mit der Herkunft, der Geschichte, der Kultur, der andersgelagerten politischen Landschaft und der öffentlichen Debatte sowie des Denkens und Wähnens der dort lebenden Menschen. Es ist notwendig, die tiefe Bedeutung und Geschichte, Herkunft, von Nation und Nationalstaat, Identität und Tradition gerade der Länder der mittel- und osteuropäischen Region in ihrer ganzen Bandbreite zu durchdringen. Hierbei haben vor allem die deutschsprachigen Länder Deutschland und Österreich einen Heimvorteil. Ihre Geschichte ist durchwoben von einer Wechselwirkung mit Ost- und Mitteleuropa, ihre Sprache wird öfter gesprochen als etwa in Westeuropa und ihre kulturelle Nähe mit uns Mitteleuropäern ist größer. Zu den Deutschen hegen speziell wir Ungarn mehr als nur eine Grundsympathie, uns verbindet eine jahrtausendalte Freundschaft und eine Seelenverwandtschaft. Ministerpräsident Orbán brachte dies schon 2012 so zum Ausdruck: „Ungarn respektiert Deutschland nicht nur, sondern mag das Land auch.“ Aus dieser Ausgangsposition lässt sich Zukunft gestalten, so meine ich.
Die Erfolge von Mitteleuropa
In den letzten Jahren kann man die Erfolge von Mitteleuropa glasklar erkennen. Während noch 2010 Ungarn zusammen mit Griechenland genannt wurde, entwickelte sich das Land seitdem wirtschaftlich bestens. Nicht nur hat Ungarn einen beachtlichen Aufholprozess in der Wirtschaft betrieben, sondern auch an politischer Stabilität und Verlässlichkeit ein Musterbeispiel vorgelebt, gepaart mit Rechtssicherheit und guten Lebens- und Arbeitsbedingungen. Die spiegelt sich in einer zunehmend zufriedenen und selbstbewussten Bevölkerung wider und dies macht das Leben und Arbeiten in Ungarn zu einem attraktiven Lebensentwurf - auch für viele Deutsche und Ausländer, die hier mehr als willkommen sind. Auch die anderen Länder Mittel- und Osteuropas konnten im letzten Jahrzehnt eine beeindruckende Verbesserung in Wohlstand, Fortschritt und Lebensweise erzielen und damit Europa insgesamt zu einem besseren Ort machen.
Ungarn ist also mitten drin in einer dynamischen Wachstumsregion, die auch in Lebensweisen und Lebensverhältnissen ein Beispiel für viele andere sein kann. Bewahrung der christlichen Werte Europas und der europäischen Identität gehen Hand in Hand mit einer Bewahrung von nationaler Identität in Europa und in der Region, denn der Kontinent ist ein Europa der Vaterländer. Dabei stehen gutnachbarschaftliche Beziehungen im Mittelpunkt der ungarischen Politik. „100 Jahre ungarische Einsamkeit sind vorbei“ – so drückte sich Ministerpräsident Viktor Orbán anlässlich des 100. Jahrestages der ungarischen Teilung von 1920 aus. Damit ist auch besiegelt, dass die Zukunft der Zusammenarbeit, nicht der Isolation, dem Mut, nicht der Angst und der Hoffnung, nicht der Verzagtheit gehört. An dieser Entwicklung sollen auch andere partizipieren können, mit Zuversicht und frischen Ideen. Dies ist auch als eine Einladung zu verstehen, Europa aus seiner lebendigen Mitte heraus neu beleben zu wollen. Wir Ungarn sind dazu bereit und reichen anderen die Hand.
Deutschland und Mitteleuropa
In einem sich erneuernden Europa sollte die Politik und das Leben der Länder in Mittel- und Osteuropa denkbar gut unter die Lupe genommen werden. Diese Region steht für Wachstum und Beschäftigung, für niedrige Steuern und für einen hohen Stellenwert von Leistung, Eigentum und Eigenheim, von Familie, natürlichen Gemeinschaften und Werten. Den Ländern Ost- und Mitteleuropas ist gemein, dass sie zunächst nicht bei anderen um Lösungen erfragen, sondern selbst ihr Schicksal in die Hand nehmen und aus eigener Kraft Solidität und Verlässlichkeit, Vertrauen und Substanz statuieren wollen. In Fragen der geistig-seelischen Herkunft Europas und den Traditionen stehen sie für das jüdisch-christliche Erbe des Abendlandes und die Bewahrung unseres „European way of life“. Deutschland wäre gut beraten, sich in Zukunft noch mehr mit Mitteleuropa zu beschäftigen, die hiesigen Muster und Verfahrensweisen, vor allem aber die Mentalität seiner Menschen zu studieren, zu verstehen und in die konkrete Politikgestaltung einzubauen. Ungarn als das Land, das mit Deutschland die meisten Bindungen sprachlicher, geschichtlicher, kultureller und seelischer Prägung hat, kann dabei als Moderator und Trendsetter zugleich wirken. Mittel- und Osteuropa wird die Zukunft Europas maßgeblich prägen, bestimmen und in einem positiven Sinn erneuen. Machen wir uns bereit für diese Reise, sie wird gelingen!
Bence Bauer, Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium (MCC). Der Verfasser des Essays hat ungarndeutsche Wurzeln, lebte aber über 20 Jahre lang in Deutschland. Ihm ist die Kooperation von Deutschland und Ungarn immer schon wichtig gewesen, mit besonderer Betonung der gemeinsamen Zukunft Europa. Er ist sich auch sicher, dass Deutschland und Mitteleuropa gemeinsam mehr erreichen können und diese Chance nutzen sollten.