„Deutschland. Aber normal.“ – verlautbart der Leitsatz der AfD-Bundestagswahlkampagne. Den Satz, dass das vergangene Jahr alles andere als normal war, hat jedermann schon allzu Genüge vernommen, aber auch Sätze wie „nach Corona wird es nie mehr so sein wie vorher“, also nie mehr normal, nie mehr bewährt, möchte man am liebsten mit einem Glas Schnaps schlichtweg aus der Seele spülen. Da verspricht ein „normal“ einem gar ein Paradies, welches vor der schon mehr als einjährigen Krise bestand. Nun, dieses Paradies wünscht sich beinahe jeder zurück. Die AfD hat aber den Erwartungen entsprechend aus dem „normal“ kein „bewährt“ abgeleitet; ihr „normal“ ist nicht konservativ, sondern möchte über die scheinbar konservativen Elemente in ihrem Programm hinaus eine radikale Wende herbeiführen.
Wer den Bundesparteitag der AfD in Dresden am 10. und 11. April mitverfolgt hat, wird sich bestätigt fühlen. Vor allem der im dort verabschiedeten Wahlprogramm für die Bundestagswahl im September 2021 propagierte EU-Austritt wird dem Durchschnittsdeutschen nicht als nicht-rechtsradikal verkauft werden können. Auch ansonsten: Wer auf eine programmatische Zähmung der AfD hoffte, wird enttäuscht sein, da sich der gemäßigtere Flügel um den Bundessprecher Jörg Meuthen in wesentlichen Fragen nicht durchsetzen konnte. Wenn Meuthens „Wir wollen verdammt nochmal unser normales Deutschland wiederhaben!“ schon ein drohendes Echo im Hinterkopf hinterlässt, wie steht es dann um das radikalere Auftreten Björn Höckes, des vom Verfassungsschutz beobachteten Thüringer Landeschefs der AfD?
Ungeachtet der reißerischen Rhetorik der Rechten sollte man deren Wahlergebnisse nicht ignorieren und nicht vergessen, dass tatsächlich der Großteil ihrer Wähler „normale Leute“ und keine Neonazis sind. Für viele von der CDU frustrierte Konservative, für viele von der in Identitätsfragen gefangenen, abgehobenen Linken abgestoßenen Arbeiter, die neben Meuthen oder Höcke mit größter Wahrscheinlichkeit der Linken Sahra Wagenknecht die Führung des Landes anvertrauen würden, ist die AfD die neue politische Heimat. Denen zufolge ist eine Stimme für die AfD eine Stimme gegen die postmoderne Elite und deren Themen rund um das Gendern oder die Klimarettung. Die Wähler der AfD wünschen sich weniger Globalisierung, wozu die Begrenzung der Zuwanderung zählt, sowie andere Themen, welche von einigen nationalkonservativen Parteien in Europa scheinbar ähnlich vertreten werden. Wenngleich solche Gesellschaftsbilder in anderen Staaten bestehen, verkennt die AfD, dass das Deutschland des 21. Jahrhunderts nicht mehr eines der 80-er Jahre ist. In Deutschland wurzelt dieses Gesellschaftsverständnis daher mitnichten in der Mitte der Gesellschaft.
Dass die AfD wohl keine Möglichkeit haben wird, diese Ansichten auf Bundesebene durchzusetzen, ist mehr als sicher, schließlich möchte keine der Parteien mit ihr koalieren. Trotzdem lohnt ein Blick ins Wahlprogramm, allein um der rechtspopulistischen Fantasie des „Deutschland. Aber normal.“ auf die Spuren zu gehen, nachzusehen, wohin die Partei und damit ein nicht zu vernachlässigender Prozentsatz der deutschen Bevölkerung steuert. Wie radikal geht die AfD tatsächlich ins Superwahljahr?
Deutschland zuerst
Ein paar populär klingende Maßnahmen lassen sich auf dem ersten Blick finden: die Verkleinerung des Bundestages, die Einschränkung des Lobbyismus oder der Abbau der Bürokratie. Daneben reihen sich einige nicht als ausgesprochen extrem zu bezeichnende Absichten ein, wie etwa das Fordern von Volksentscheiden nach dem Schweizer Modell oder weniger Steuerbelastung. Besonders die Wirtschaftspolitik scheint zunächst ein Gemisch aus liberalem und konservativem Denken zu sein: „Wir wollen die soziale Marktwirtschaft von Ludwig Erhard wiederbeleben und Wohlstand für alle schaffen.“, heißt es. Statt eines „Green Deals“ („Die Menschheitsgeschichte belegt, dass Warmzeiten immer zu einer Blüte des Lebens und der Kulturen führten, während Kaltzeiten mit Not, Hunger und Kriegen verbunden waren.“) soll der „Blue Deal“ durch die Abschaffung der Energiewende, der Stärkung des Mittelstandes gegenüber Großkonzernen und der Priorisierung der MINT-Fächer in der Bildung einen Wirtschaftsaufschwung herbeiführen.
Marktliberale würden zunächst zustimmen, aber schnell diesen Plänen widerstreben: „Wir halten einen Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union und die Gründung einer neuen europäischen Wirtschafts- und Interessengemeinschaft für notwendig.“ Da schüttelte sogar Jörg Meuthen seinen Kopf, als dieser Änderungsantrag auf dem Parteitag angenommen wurde. Kein Euro, keine GASP, die Renationalisierung der EU-Agrarpolitik, die Wiedereinführung der Binnengrenzen. Stattdessen eine verstärkte Unterstützung bei Chinas Projekt der Neuen Seidenstraße, mehr Nähe zu Russland, mehr Abstand von den Vereinigten Staaten. Auch das Versprechen, sich den deutschen Minderheiten im Ausland verstärkt zu widmen, könnte zwar Früchte tragen, aber ebenso für außenpolitische Spannungen sorgen. Zumindest der forcierte Beistand zu den Visegrád-Staaten bei deren „Bemühungen zur Bewahrung der europäischen Identität“ ließe auf einen längst überfälligen, verständnisvolleren Blick gen Mitteleuropa hoffen. Trotzdem würde ein Austritt Deutschlands aus der EU in solch einem Europa münden, welches sicherlich nicht „normal“ ist und auch nicht aus der Sicht eines Konservativen als solches bezeichnet werden möchte.
Der starke Korpsgeist
Nicht nur die Bundeswehr müsse wieder „die besten Traditionen der deutschen Militärgeschichte leben“, auch vielen Menschen mit Migrationshintergrund würde eine bisher ungeahnte Strenge widerfahren. Kleinste Delikte als ausreichender Tatbestand für eine Abschiebung selbst nach Syrien oder Afghanistan, pauschal kein Familiennachzug und der Ausstieg aus der Genfer Flüchtlingskonvention – asylrechtliche Neuerungen, welche mit dem christlichen Wertekanon wenig gemein haben. Wenngleich der konservative Islam und der muslimische religiöse Extremismus eine entsprechende aufgeklärte Antwort der deutschen christlich-jüdisch geprägten Gesellschaft erfordern, stellten die diesbezüglichen Programmpunkte der AfD unverhältnismäßige Eingriffe in die Religionsfreiheit dar: Dass der AfD zufolge in den Moscheen nur noch Deutsch gepredigt werden solle, erinnert an ähnliche Maßnahmen aus vorherigen Jahrhunderten gegenüber anderen religiösen Gruppen. Doch der Kulturkampf sollte auf breiter Schiene geführt werden – sodass selbst die Einwanderung von Fachkräften streng zu reglementieren wäre, nach japanischem Vorbild etwa. Ebenso müssten in Zukunft Mediziner und Krankenpfleger Deutsch mindestens auf dem Niveau C1 beherrschen. Da kann ich als Sohn der Stadt Freiberg, in der dem Ärztemangel vor allem aus der Ukraine, Aserbaidschan und Syrien entgegengesetzt wird, nur verraten, dass dies dem Gesundheitssystem mehr als jede Pandemie den Todesstoß versetzen würde.
Allgemein bekommt man aber den Eindruck, dass die AfD versuche, nicht die konservativen Wähler für sich zu gewinnen, sondern eher in Gewässern der NPD zu angeln. Nicht auszuschließen ist dennoch ein zweistelliges Ergebnis bei der Bundestagswahl Ende September, auch weil die AfD die einzige Partei ist, die sich gänzlich gegen die Corona-Politik der Regierung stellt und hiermit viele Enttäuschte auffangen wird.
Die AfD geht also radikal in den Wahlkampf, jedoch wird wahrscheinlich gerade diese Radikalität ihr den Schwung nehmen. Denn das Deutschland einen Schwung braucht, ist nicht abzustreiten – aber wer möchte schon von einem Rammbock angeschubst werden?