Budapest ist eine der ganz wenigen Großstädte Europas, in der mehr Juden als Muslime leben.
Die Stadt zählt dutzende Synagogen, von denen ein beträchtlicher Teil jeden Schabbat zum Gebet einlädt, vielerorts ohne die in Westeuropa gängige wie lästige Pflicht, zwecks Kontrolle durch einen Metalldetektor gehen zu müssen.
Lebendige jüdische Traditionen
Mehrere koschere Restaurants, Läden mit Judaika, bärtige Männer in Anzügen, die mit einem hohen Hut oder mit der Kippa durch die Budapester Straßen spazieren und auf Jiddisch sprechen – all dies zeugt für jedermann sichtbar von einem lebendigen jüdischen Leben in Ungarns Hauptstadt.
Leider endet der Horizont vieler Beobachter bei den Türmen der weltbekannten Synagoge in der Dohány utca, sodass ein tieferer Einblick in die jüdische Seele der Stadt nicht jedem widerfährt. Aber auch die breite Masse in Deutschland weiß wenig über das gegenwärtige Leben der Israeliten im eigenen Lande, schließlich ist in der Schule beinahe nur vom Holocaust die Rede, wenn das Thema Judentum im Geschichtsunterricht angesprochen wird.
Bagatellisierung des muslimischen Antisemitismus in Deutschland
Die Deutschen denken das Judentum immer im Präteritum und werden hin und wieder wachgerüttelt, wenn sich antisemitische Attacken gegenüber der ansonsten recht unsichtbaren Minderheit im Lande ereignen. Hingegen wird aber, neben der „traditionellen“ Gefahr für die Juden, die von den Rechtsextremen kommt, in Deutschland vor allem der muslimische Antisemitismus bagatellisiert.
Offensichtlichster Beleg hierfür ist die missverstandene Polizeistatistik. Im Jahre 2018 hatten ihr zufolge weit über die Hälfte der antisemitischen Übergriffe einen rechtsextremistischen Hintergrund, womit diesen Wert zitierend sich dann auch eine Handvoll linker Politiker etwa für den Kampf gegen die AfD aufrüstete. Dabei war es nur eine Randnotiz in den Medien, dass die islamistisch motivierten Angriffe keine eigene Kategorie darstellen und grundsätzlich unter „rechtsextrem“ gelistet sind. Befragungen unter der jüdischen Bevölkerung Deutschlands ergaben hingegen, dass der Einschätzung der Opfer nach mehr als 80 Prozent der gewalttätigen Angriffe von muslimischen Tätern ausgingen.
Antisemitische Übergriffe in Ungarn sind die absolute Ausnahme
Während nicht auszuschließen ist, dass in Deutschland in absehbarer Zeit französische Verhältnisse herrschen könnten, was zu einem ähnlichen bedauernswerten Exodus der jüdischen Bevölkerung führen würde, sind antisemitische, meist nur verbale, Übergriffe in Ungarn die absolute Ausnahme. Vielmehr fühlen sich die ungarischen Juden sicherer vor antijüdischen Angriffen als Juden in jedem Land Westeuropas, so eine Studie der EU-Grundrechteagentur aus dem Jahre 2018.
Trotzdem: Gerade das über den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán in einigen deutschen Medien gezeichnete Bild lässt ihn in erster Linie wegen der Anti-Soros-Kampagne als vermeintlichen Antisemiten dastehen. Jedoch gibt es nicht wenige Stimmen, ob vom israelischen Premier Netanjahu bis zu ranghohen Persönlichkeiten jüdischer Gemeinden in Ungarn und auch von anderswo, die den Kurs der ungarischen Regierung unterstützen und die rigide Null-Toleranz-Politik von Staat und Verwaltung gegenüber dem Antisemitismus anerkennen.
Wenn man will, mag man in die Anti-Soros-Parolen Antisemitismus hineininterpretieren, aber selbst zu diesem fragwürdigen Ergebnis gelangend, müsste man sich in der Folge selbst vorwerfen, den linksliberalen Meinungsmachern zum Opfer gefallen zu sein. Zudem ist Soros als Begründer der Open Society Foundations, nach der Bill & Melinda Gates Foundation die weltweit vermögendste Stiftung, selbst ein Paradebeispiel für einen sehr einseitigen politischen Aktivismus. Es ist zur Debatte stehend, ob nicht gerade die von Soros unterstützten Ideen wie etwa die massenhafte Einwanderung auch aus muslimischen Ländern erst eine Gefahr für jüdische Bürger heraufbeschwören und einem neuartigen Antisemitismus den Weg ebnen.
Orbán-Regierung als Förderin des jüdischen Lebens
Im Folgenden stellt sich daher eine in den deutschen Medien selten aufgeworfene Frage. Ist die ungarische Regierung nicht eher als ein Förderer denn Schädiger des jüdischen Lebens in Ungarn zu sehen? Von der deutschen Presse fast gänzlich unbeachtet blieb etwa die finanziell großzügige Unterstützung des ungarischen Staates bei der Renovierung der Synagoge im serbischen Subotica, bei deren Einweihung Ministerpräsident Viktor Orbán neben seinem serbischen Amtskollegen Aleksandar Vučič zugegen war. Beide betonten die Wichtigkeit des Nebeneinanders der christlichen und jüdischen Glaubensgemeinschaften, erinnerten an das „christlich-jüdische“ in der Geschichte und Gegenwart Europas.
Auch bei der Synagogenrestaurierung im siebenbürgischen Klausenburg wollte die ungarische Regierungskoalition den Großteil der Mittel stemmen, was letztendlich aber an der rumänischen Regierung scheiterte, die nicht zulassen wollte, dass ein ungarischer Ministerpräsident medienwirksam als Patron der Juden in Siebenbürgen betrachtet werden könnte.
In Ungarn wiederum unterstützt die Regierung von Viktor Orbán eine Fülle von Bildungs- und Kulturprojekten und Gebäudeinstandsetzungen der drei jüdischen Glaubensvereinigungen. Hierbei fiel in den vergangenen Jahren die verstärkte Zuwendung zur orthodoxen Glaubensgemeinschaft rund um den Chabad-Rabbiner und Vorsitzenden der Vereinigten Israelitischen Glaubensgemeinschaft Ungarn (EMIH), Slomó Köves auf.
Mehrere Gebäude in öffentlicher Hand wurden der EMIH überlassen, einige Synagogen sowie jüdische Schulen konnten wieder geöffnet werden. Im Gegenzug munkeln Kritiker, dass dies zu einer Regierungsnähe der orthodoxen Juden führten könnte; die neologe und zugleich größte Organisation der ungarischen Juden, die Mazsihisz, pflegt anders als die EMIH einen eher regierungskritischen Ton.
„Größter Friedhof Ungarns“
Diesen Stimmen zum Trotze trägt das Kabinett Orbán aber nicht nur mit hohen finanziellen Zuwendungen zur Renaissance des jüdischen Lebens in Ungarn bei. Nicht zuletzt ist Ministerpräsident Orbán der erste ungarische Regierungschef, der die Schuld der Ungarn am Holocaust offen bekannte. Präsident János Áder sprach wiederum von Auschwitz als dem „größten Friedhof Ungarns“ – mehrere hunderttausende ungarische Juden wurden allein in Auschwitz ermordet.
Ungarn war eines der wenigen Länder, welches das EuGH-Urteil zur Rechtfertigung des Verbotes des koscheren Schächtens kritisierte. Auch sonst äußerte sich Viktor Orbán in den Medien nie antisemitisch, sondern wenn, dann wohlwollend gegenüber der jüdischen Minderheit als bedeutendem Teil der ungarischen und europäischen Gesellschaft. „Aus einer jüdischen Sicht kommt die Orbán-Regierung einem Ideal nahe“, meint der orthodoxe Chabad-Rabbi Sámuel Glitzenstein anerkennend.
98 Prozent der ungarischen Juden halten die Jobbik für antisemitisch
Auf diesem Auge ist die öffentliche Meinung in Deutschland jedoch bisweilen blind. Ebenso von Blindheit geprägt scheint ihr sturer Beistand zur vereinigten ungarischen Opposition, deren stärkstes Glied derzeit die Rechtsaußenpartei Jobbik bildet. Eine Studie aus dem Jahre 2017 ergab, dass 98 Prozent der ungarischen Juden die Jobbik als antisemitisch einstufen.
Obwohl die Partei von einem offenen Antisemitismus abrücken möchte, ist sie von Politikern durchsetzt, die zumindest bis in die jüngste Vergangenheit rechtsextremes Gedankengut vertreten haben. Zudem gab es eine Vielzahl von Skandalen rund um judenfeindliche Äußerungen von Jobbik-Parlamentariern und Bürgermeistern, bei denen die Partei nur in einigen ganz wenigen Fällen Konsequenzen wie Parteiausschlüsse lancierte.
Beim Fidesz hingegen ist deren patriotische, die ungarische Geschichte romantisierende Programmatik für westeuropäische Ohren zwar manchmal gewöhnungsbedürftig, doch wird er von einer breiten Mehrheitsmeinung der Bevölkerung getragen. Gleichzeitig fördert die Regierung die in Ungarn lebenden Minderheiten, von den Ungarndeutschen über die Juden bis hin zu den Roma, in einem hohen Maße.
Dass bei der geballten Rhetorik des „Ungarn zuerst“ und konservativen Werten die ohnehin traditionell politisch eher links angesiedelte jüdische Minderheit verständlicherweise sensibel reagiert, ist die tragische wie zu erwartende Konsequenz. Nur ein Prozent der ungarischen Juden steht daher einer Studie aus dem Jahre 2017 zufolge dem Fidesz nahe.
Patriotismus und Minderheitenschutz
Nicht besonders überraschend ruft der ungarische Patriotismus und die Politik des Minderheitenschutzes, allen voran das wohlwollende Auftreten gegenüber den Auslandsungarn, allerlei Gegenreaktionen hervor. Wenngleich viele dieses Nebeneinander von Patriotismus und Minderheitenschutz als merkwürdiges Doppel betrachten, sollte der deutschen Sicht vielleicht einmal anheimgestellt werden, die ungarische Gesellschaft nicht mit derselben Brille zu betrachten, mit der man im eigenen Lande Zustände einzuschätzen pflegt.
Ob die konsequente Null-Toleranz-Politik in Sachen Antisemitismus und die nicht nur rhetorische Unterstützung der jüdischen Glaubensgemeinschaften in Ungarn oder aber ein Multikulturalismus nach westeuropäischem Vorbild einen größeren Beitrag zum Erhalt des jüdischen Lebens auf dem Kontinent leistet, bleibt abzuwarten.
Schon heute würde ich aber auf offener Straße sicherlich eher in Budapest als in Berlin eine Kippa tragen.