Die Kritik aus dem Ausland an den innen- und außenpolitischen Entscheidungen Ungarns ebbt nicht ab. Umso mehr ist es angebracht, die hinter der markanten Politik des Landes stehenden tieferen Beweggründe nachzuzeichnen, sie zu verstehen und in einem breiteren europäischen und internationalen Kontext zu interpretieren. Eine Hilfestellung hierzu kann das Werk Selbstbehauptung: Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen“ des renommierten Politikwissenschaftlers Prof. Dr. Heinz Theisen liefern, welches mit dem Autor am 9. November 2022 beim Deutsch-Ungarischen Institut für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium besprochen wurde.

 

Ungarn im Kreuzfeuer der Kritik

Ungarn ist seit dem Amtsantritt von Ministerpräsident Viktor Orbán (Fidesz) vor nunmehr zwölfeinhalb Jahren zur permanenten Zielscheibe europäischer Kritik geworden. Der politischen Führung des Landes wird vorgeworfen, mit ihrer eigensinnigen Politik angeblich antieuropäisch und unsolidarisch zu handeln. Oftmals gipfeln die Anschuldigungen im Vorwurf, Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte würden systematisch unterwandert. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich die Vorwürfe als meist parteipolitisch motivierte Aktionen gegen eine dezidiert konservative Politik der Regierungskoalition. Anders als vermutet ist Ungarn ein Hort vieler Individualisten und Freiheitskämpfer, die Demokratie funktioniert, die Debatten und öffentlichen Diskurse sind lebendig, das Land verfügt über eine große Breite bürgerschaftlichen Engagements und gesellschaftlicher Organisationen jedweder Ausrichtung. Phänomene wie Kontaktschuld, Diskursverengung, Cancel Culture, Genderideologie und Bedrohungen der Wissenschaftsfreiheit sind in Ungarn unbekannt. Wer das Land, dessen Geschichte, Mentalität, politische Kultur und die andersgelagerten Debatten aber nachzuvollziehen bereit ist und sich auf Land und Leute offenherzig einlässt, vermag auf die gegen Ungarn vorgebrachten Kritikpunkte ganz anders einzugehen. Viele Beobachter erkennen im Gebaren des Landes auch einen bewussten Gegenentwurf zu den in Westeuropa und auch Deutschland um sich greifenden Tendenzen der Identitätspolitik und der Einengung der Debattenräume. Insbesondere tut es not, die ungarische Regierungspolitik auch eingedenk großer globaler Entwicklungslinien zu würdigen und diese Sachzusammenhänge aufzuzeigen.

Markante Politik als Erkennungszeichen

Neben den auch von Anhängern der Opposition goutierten, erfolgreichen Politikfeldern wie beispielsweise Migration, Familie, Sicherheit und Wirtschaftsentwicklung kann die ungarische Regierungspolitik als eine Hinwendung zu Freiheit und Souveränität verstanden werden. Sie besinnt sich auf die natürlichen Stärken des Landes sowie seiner Bevölkerung und wehrt sich gegen eine von internationalen Eliten vorangetriebene Universalisierung der Welt. Sie steht ein für das Land, dessen Traditionen, Glauben, Kultur, Volksgruppen und Mentalitäten. Sie erkennt die nationalen Interessen und sieht Außenpolitik als Realpolitik, in der die Abgrenzung der Interessensphären der Staaten einen weit höheren Stellenwert einnimmt als die sich oftmals moralisierend gerierende Politik diffus vorgebrachter angeblich universaler Werte.

Auch verteidigt sie Ungarn gegen eine Einmischung in die eigenen inneren Angelegenheiten und das Konzept, von außen oder von oben vorzuschreiben, wie die Ungarn ihr Leben führen sollten. In diesem Zusammenhang bilden die historischen Erfahrungen der Ungarn eine wichtige Erfahrungsgrundlage, hat das Land doch ein seismographisches Gespür für Bedrohungen der eigenen Freiheit und Unabhängigkeit entwickelt. Hierbei handelt die Regierungskoalition im Interesse der überwiegenden Mehrheit der Landesbevölkerung, was sich ganz massiv im Zuge der europäischen Migrationskrise und der Bewältigung der darauf folgenden anderen, weitreichenden Krisen wie Coronakrise und Ukrainekrise manifestierte. Dabei rekurriert sie immer wieder auf die Interessen der eigenen Bevölkerung, stellt sich schützend vor diese und wagt hierbei ganz nebenher auch eine neue Balance zwischen Individualinteressen und Gemeinwohl ganz im Sinne bürgerlich-freiheitlich verantworteter Lebensweise. Auch das ist die Neuerfindung der Sozialen Marktwirtschaft, die in Ungarn viele Nachahmer und Unterstützter hat. Vieles in der ungarischen Regierungspolitik kann auch gut und gerne als gelebte liberal-konservative Reformagenda verstanden werden, aber wie immer gilt: Auf den Inhalt, nicht auf die Verpackung kommt es an.

Diese Herangehensweise ist schlussendlich nichts anderes als die von Theisen geforderte Selbstbehauptung des Landes. Dass diese einhergeht mit einer christdemokratisch-konservativen Politik, die markante Wegmarken setzt, mutet in linksliberalen Zirkeln freilich kritikwürdig an, was den Betrachter aber keineswegs überraschen sollte. Vielmehr darf nicht verwundern, wenn viele linksliberale Meinungseliten in Brüssel und anderen Hauptstädten ganz unverhohlen schräg auf die Politikgestaltung dieses mitteleuropäischen Landes blicken, erkennen sie doch in dieser eine Gefahr für die von ihnen geführte Agenda. Dass dabei diese Politik robust konservativ daherkommt und vom ungarischen Wähler immer wieder aufs Neue eindrucksvoll bestätigt wird, sorgt für umso mehr Befremden. Konservative Politik kann erfolgreich sein, so das Kalkül der Ungarn. Ministerpräsident Viktor Orbán drückte es jüngst wie folgt aus: „Stellen Sie sich Helmut Kohl mit einer Zweidrittelmehrheit vor.“

Warum Selbstbehauptung?

Die Selbstbehauptung Ungarns, die Selbstbehauptung Europas und die Selbstbehauptung des Westens gehen miteinander einher, denn sie bauen gedanklich aufeinander auf. In weiten Teilen Westeuropas wurde das Konzept der Selbstbehauptung sträflich vernachlässigt. Insbesondere aus dem akademischen, medialen und politischen Leben wurden immer mehr Thesen der angeblichen Universalität der Werte verkündet, Demokratieexport in Theorie und Praxis betrieben und das Global Village gefeiert. Dies resultiert in Entgrenzungen, Überdehnungen und Verstrickungen der westlichen Welt in andere Hemisphären, die diese kaum tolerieren. Die Negativliste aus den letzten Jahren ist dabei hinlänglich bekannt. Hingegen wäre ein Selbstvergewissern auf die eigenen Stärken und das Bewahren dieser in einer Selbstbehauptung des Eigenen wünschenswert, wie dies auch relevante historische Vorgänge rund um Staaten, Nationen, Gesellschaften, Kulturen und Glaubensgemeinschaften eindrucksvoll belegen und uns eigentlich eine Lehre für die Gestaltung unserer eigenen Zukunft sein sollten.

In der Geschichte wurde oftmals gerade um diese Selbstbehauptung gerungen und auch heute ist eine solche zeitgemäß. Dabei kann eine erfolgreiche Selbstbehauptung – so Theisen – nur durch Selbstbegrenzung erfolgen, also die Hinwendung auf die Begrenzung unserer Lebenswirklichkeit auf unsere eigene Wertegemeinschaft. Dabei spielen Grenzziehung, Schutz dieser Grenzen, Respekt vor andersgelagerten Gesellschaftsentwürfen und Kulturen sowie die Anerkennung einer multipolaren Welt eine Schlüsselrolle. Nach Theisen können verschiedene Interessen, Ideologien und Identitäten in einer neuartigen „Doppelstrategie der Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung“ auf einer höheren Ebene aufgehoben werden und so in einer neuen Bürgerlichkeit münden. Dieses neue bürgerliche Bewusstsein resultiert ganz im Sinne des Wortes „Burg“ in einen Kontinent, das seine Bevölkerung effektiv zu schützen imstande ist. Hierfür seien aber auch die Überwindung der inneren Spaltung Europas und die Wiedergewinnung über die Grenzen des Kontinentes unerlässlich. In der vom Autor befürworteten multipolaren Welt stünde die Koexistenz der Kulturen im Mittelpunkt, statt einer „Weltoffenheit“ das Wort zu reden.

Ungarns Selbstbehauptung im Lichte globaler Krisen

Ungarn hat gute Chancen, sich mit seiner eigenen Politik der Selbstbehauptung gut durch die globalen Krisen und Herausforderungen zu manövrieren. Das Land besinnt sich auf eigene Stärken und konzentriert sich auf die nationalen Interessen. Es hat einen realistischen Blick sowie Möglichkeiten und Wirkungsradien eigener Politikgestaltung. Dabei wird weder die Illusion hochgesteckter Erwartungen angeblich universell gültiger Werte hochgehalten, noch das Land einem moralischen Imperialismus ausgeliefert. Vielmehr stellt sich die politische Führung des Landes ganz besonnen und bewusst auf die Seite der eigenen Bevölkerung. Im Kontext der neuen Weltunordnung heißt dies: Nicht mehr, sondern weniger Einwanderung. Nicht weniger, sondern mehr Kinder. Nicht Universalismus, sondern eigene Werte. Nicht Global Village, sondern Heimat und Identität. Nicht Umverteilung und Bevormundung, sondern Hilfe zur Selbsthilfe. Nicht Interventionismus, sondern Respekt vor anderen Gesellschaftsentwürfen. Nicht Selbstaufgabe, sondern Selbstbehauptung. Diese Erfahrungen kann Ungarn in die Waagschale einbringen, wenn es darum geht, eine Nachkriegsordnung für Europa zu entwerfen.

Fazit

Die Perspektiven, die Ungarn mit seinem reichhaltigen Erfahrungsschatz und seinem Verständnis für Geschichte, Wirkungszusammenhänge und Geopolitik bieten kann, machen es auch für viele aus anderen Ländern attraktiv und beispielhaft. Es geht zuweilen aber in erster Linie darum, die Folgen des Krieges im Nachbarland abzufedern, die eigene Wirtschaft und Bevölkerung gut durch den Winter zu bekommen und alles daran zu setzen, dass so schnell wie möglich wieder Frieden einkehrt. Es gilt heute, sich die eigene nationale Souveränität, die Selbstbehauptung der Länder Europas zu vergegenwärtigen und gemeinsam die strategische Souveränität Europas und damit auch die Selbstbehauptung des alten Kontinents sicherzustellen.