Analyse: Deutsch-Ungarische Kommunikation

Warum nur persönliche Begegnungen am Ungarnbild etwas ändern können Anlässlich der Reise des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán vergangene Woche nach Berlin gilt es, eine Bestandsaufnahme im aktuellen Beziehungsgeflecht der beiden Länder Deutschland und Ungarn zu wagen. Ein Plädoyer dafür, warum es sich lohnt, mehr miteinander, statt übereinander zu reden.

Die vielfältigen und auf einer festen historischen Substanz gründenden deutsch-ungarischen Beziehungen sind mannigfaltig wie das Leben selbst. In ihrer politischen Ausgestaltung können sie allerdings wechselhaft wie das Aprilwetter sein. So gesehen gilt es immer wieder, eine Unterscheidung zu treffen zwischen politischen, parteipolitischen oder gar ideologischen Verlautbarungen und der Tiefensubstanz des bilateralen Miteinanders. Dieses ist in seinen historischen, engmaschigen und kulturellen Bezügen oftmals Quelle eines breiteren Interpretationsansatzes.

Ungarn und Deutschland verbindet eine gemeinsame tausendjährige Geschichte. Seit der Schlacht auf dem Lechfeld im Jahre 955 waren die beiden Länder in keinerlei gegnerische kriegerische Auseinandersetzungen mehr verwickelt und waren in ihrer Geschichte miteinander aufs Engste verflochten. Mit keinem anderen Land – wenn vielleicht, dann mit Polen – war und ist der politische, wirtschaftliche, kulturelle, sprachliche, seelisch-mentale Austausch so intensiv wie mit der deutschsprachigen Welt. Schließlich war Ungarn vermittels seiner Stellung in der Habsburger-Monarchie zudem jahrhundertelang organisch mit den „deutschen Ländern“ verbunden, seine Gesellschaft, seine Politik und sein Geistesleben waren eng mit der deutschen Welt verwoben. Antideutsche Stimmungen gibt es in Ungarn nur marginal, Deutschland wird geachtet und geschätzt.

Für deutsche Beobachter mutet es geradezu verwunderlich an, dass Ungarn während des Zweiten Weltkrieges selbst als Verbündeter von Nazideutschland enge Beziehungen mit Polen aufrechterhielt. Nach dem deutschen Angriffskrieg gegen dessen östlichen Nachbarn nahm Ungarn polnische Offiziere und deren Familien in großer Zahl auf, gründete eine polnische Schule und untersagte der deutschen Wehrmacht auch noch, durch ungarisches Gebiet zu marschieren und so Polen von Südosten her anzugreifen. Immer wieder bemühte sich jede politische Führung des Landes, es nicht zu einer Entscheidung zwischen dem westlichen Deutschland und dem nördlichen Polen kommen zu lassen, sondern fein balancierend mit beiden Mächten ein gedeihliches Miteinander sicherzustellen. Diese Überlegung erklärt einiges am ungarischen politischen Denken. Das vorsichtige Austarieren geopolitischer Machverhältnisse offenbart zugleich die Tiefenstrukturen im Denken und Wähnen der Ungarn. Ungarn will sich als Brückenbauer und Vermittler, als ehrlicher Makler und verlässlicher Stabilitätsanker in der Region sehen.

Die deutsch-ungarischen Beziehungen selbst gründen auf diesen Tiefenschichten und können auf eine breite wie tiefe gemeinsame Vergangenheit blicken. Sie leben auch im Alltagsleben der Menschen fort und erstrecken sich auf Beziehungen der Bürgergesellschaft, der Wissenschaft, des Geisteslebens, der Kultur, der Kommunen, der Jugend und auch auf die Kontakte zwischen einst vertriebenen und gebliebenen Ungarndeutschen. Gegenseitige Besuche, Projekte und ein gemeinsames Denken kennzeichnen die verschiedenen Ebenen dieses engmaschigen Beziehungsgeflechts. Sie durchstehen auch schwere Zeiten und ermöglichen, offen und vorurteilsfrei über das jeweils andere Land zu denken und anschließend dementsprechend zu handeln.

Politische Beziehungen

Zu diesen weit verzweigten Bereichen der deutsch-ungarischen Zusammenarbeit gesellt sich wie natürlich auch die Ebene der hohen Politik. Lange von einer gegenseitigen Sympathie und einem enormen Vertrauensvorschuss getragen, war es für die Politik der Nachwendejahre ein Leichtes, stabile, verlässliche und nachhaltige Anknüpfungspunkte zu finden und entsprechend für die beiderseitigen Beziehungen urbar zu machen.

Dass in der Euphorie der Nachwendezeit auch viele Missverständnisse und Fehlannahmen im Umlauf waren (beispielsweise der Kult um Gyula Horn in Deutschland), trübte das Bild so lange nicht, wie beide Seiten daüber wohlfeil hinwegsahen. Spätestens mit der geistig-moralischen Wende von 2010 in Ungarn und der hieraus folgenden stärkeren Darstellung Ungarns in den europäischen Wertedebatten und internationalen Grundsatzentscheidungen wurde die deutsche Seite jedoch immer nachdenklicher.

Die Ungarn betonten die Frage von Recht und Ordnung, Souveränität und Nation, Wertschöpfung und Arbeitsgesellschaft, Heimat und Familie sowie Identität und Selbstachtung in einem viel stärkeren Maße, als man das in Deutschland gewohnt war. Die politische Führung des Landes trat selbstbewusst und voller Tatendrang auf und hinterfragte immer mehr vieles, was in Europa bis dato als selbstverständlich hingenommen wurde. In etlichen Bereichen war die Politik der Ungarn ein bewusster Gegenentwurf zur identitätspolitischen Linken.

Die deutsche Politik hingegen trug immer mehr Zeichen der Identitätspolitik an sich, die gesellschaftlichen Debatten und die veröffentlichte Meinung in weiten Teilen der Medien untermauerten diese Richtung. Zwangsläufig mussten diese verschiedenen Muster auch in der Politik beider Länder ihren Niederschlag finden. Doch viel relevanter als die gelegentlichen Vorwürfe in den offiziellen Beziehungen waren die von grünen und linken politischen Akteuren vorgebrachten Attacken an die ungarische Adresse.

Wer die Geschichte der Ungarn kennt, kann darüber nicht verwundert sein, dass Einmischungen und Belehrungen sehr schnell als Anmaßung empfunden werden, und dies noch viel mehr, wenn diese aus dem Ausland und von größeren Ländern kommen. Noch schwerwiegender wiegen diese Anschuldigungen, wenn sie klar von einer grün-linksliberalen Seite kommen und nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Scheitern der ungarischen Linken und den sich daraus ergebenden Frustrationen stehen. Insoweit müssen solche Vorwürfe aus diesem Kontext heraus interpretiert werden.

Von Kohl über Schröder und Merkel zu Scholz

Mit Helmut Kohl verband Viktor Orbán eine tiefe, fast schon väterliche Freundschaft. So mentorierte der Kanzler der Einheit den 1998 ins Amt gekommenen jungen ungarischen Ministerpräsidenten immer wieder und pflegte auch noch nach dem Ausscheiden aus dem Amt enge und vertrauensvolle Beziehungen zu Orbán. Der ungarische Ministerpräsident schrieb 2016 das Vorwort zu Kohls Buch „Aus Sorge um Europa“ und besuchte den Altkanzler am 19. April 2016 in Ludwigshafen. Auf die Frage, wer ihm unter seinen Gesprächspartnern Scholz, Merkel und Laschet am nächsten stünde, antwortete Orbán mit entwaffnender Offenheit: Helmut Kohl. Auch mit Gerhard Schröder, dessen Amtszeit überwiegend in die Zeit der ersten Regierung von Viktor Orbán (1998-2002) fiel, unterhielt der Ungar gute und stabile Beziehungen.

Mit Bundeskanzlerin Angela Merkel waren die Kontakte ebenfalls nachhaltig und belastbar, die beiden verstanden es regelrecht perfekt, ein gedeihliches Miteinander zu finden, auch wenn die Grundsatzfrage der europäischen Migrations- und Flüchtlingskrise von beiden Seiten diametral entgegengesetzt beantwortet wurde. Schon 2018 wurde die „positive Agenda“ aus der Taufe gehoben, um die bilateralen Fragen auf die vielen Erfolgsgeschichten in der Zusammenarbeit der Länder zu lenken.

Anlässlich des Besuches von Angela Merkel beim Paneuropäischen Picknick 2019 lobte Ministerpräsident Viktor Orbán sie mit hehren Worten und machte auch danach keinen Hehl aus seinem Wunsch, der Kanzlerin möge noch eine weitere Amtszeit zur Verfügung stehen. Mit in der deutschen Öffentlichkeit verblüffenden Worten erklärte Orbán letzte Woche in Berlin, dass mit Merkel an der Spitze Deutschlands es mit Sicherheit keinen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gegeben hätte.

Olaf Scholz empfing letzte Woche den ungarischen Ministerpräsidenten in Berlin und nahm sich viel Zeit für ihn, nämlich zwei Stunden. Die Unterredung war insoweit ein Meilenstein, als dass sich die beiden in ihrer Eigenschaft an der Spitze ihrer Länder noch nicht kannten. Der Antrittsbesuch war also mehr als nur eine diplomatische Geste. Es herrscht in Deutschland großes Interesse an Ungarn, und mit Olaf Scholz könnten sich die Beziehungen jenseits der Parteipolitik in eine vertrauensvolle Richtung entwickeln.

Öffentlichkeit und persönliche Begegnungen

Bei diesem dreitägigen Besuch war ebenso relevant, dass es auch zu Gesprächen mit Armin Laschet und Angela Merkel kam. Die Zusammenkunft mit der Altkanzlerin offenbart die auch persönlichen Bindungen zwischen den Politikern. Nur persönliche Begegnungen vermögen Missverständnisse auszuräumen, Vorurteile abzubauen und Trugschlüssen und Fehlannahmen zuvorzukommen. Dabei war die ungarische Seite voller Offenheit und Toleranz.

Auf Einladung der Monatszeitschrift Cicero und der Berliner Zeitung stellte sich der Ministerpräsident den nachdenklichen Fragen der Herausgeber dieser beiden Medien. Die entwaffnende, ehrliche und offenherzige Art, die Inhalte seiner Ausführungen und der Umstand, sich einem interessierten, aber auch kritischen Berliner Publikum zu stellen, entpuppte sich als wahre Goldgrube und Fundus möglicher gemeinsamer Ansätze in der bilateralen, europäischen und internationalen Politikgestaltung.

Die erfolgreiche Diskussion mit über 200 Teilnehmern zeigte wieder einmal mehr, dass die persönliche Begegnung, der persönliche Austausch und die persönliche Ansprache die einzigen Möglichkeiten sind, dem immer dominanteren negativen Ungarnbild wirkungsvoll zu begegnen. Die meisten der dort Versammelten trafen das erste Mal auf den Ministerpräsidenten, oftmals kannten sie seine Politik und seine Thesen nur aus den deutschen Medien.

Eine Begegnung ungarischer Spitzenpolitiker mit dem Berliner Publikum aus Medien, Verbänden, Politik, Bürgergesellschaft und Diplomatie tut aber auch in anderen Bereichen dringend not. Nur so kann das Ungarnbild relativiert sowie Offenheit und Toleranz auch praktisch gepflegt werden.

Ein sehr ähnliches Muster lässt sich aus vielen anderen persönlichen Begegnungen herauslesen. Oftmals haben die Gesprächspartner nicht einmal die entfernteste Vorstellung von dem, was in Ungarn eigentlich abläuft. Sie informieren sich zumeist aus Medien, die der ungarischen Regierungspolitik nicht wohlgesonnen sind. Selbst ausgewiesenen Experten von Sachthemen verschlägt es beinahe die Sprache, wenn sie über die ungarische Politik Informationen aus erster Hand erfahren, jenseits parteipolitischer, medialer oder öffentlichkeitswirksamer Färbung. Typische Reaktionen lauten dann etwa: „Das habe ich noch nie gehört – das wusste ich nicht – warum schreibt das niemand – hätte ich das mal früher gewusst.“

Fazit

Ein hehres Ziel für alle echten Fans der deutsch-ungarischen Freundschaft wäre es, immer wieder mit den Fakten zu operieren, die Sachlage korrekt darzustellen und den Austausch zu suchen. Die noch zu leistende Arbeit ist gewaltig: Wenn man der Grundannahme folgt, dass bezüglich Ungarn acht von zehn Deutschen wohl noch nie mit faktenbasierten Informationen, aber eher mit Gefühlen, Annahmen und Meinungen konfrontiert waren, dann bleibt noch viel zu tun. Ein guter Ansatz liegt in der bewussten Suche nach Offenheit und Öffentlichkeit, der aktiven Kommunikation und einem freien Diskurs über wichtige europäische Sach- und Wertefragen. Die Position der Ungarn verdient es, gehört und auch verstanden zu werden. Lassen Sie sich also darauf ein!