Oberflächlich betrachtet mag der Kontinent zwar reich und somit mächtig wirken, darunter breitet sich jedoch eine tiefe Identitätskrise aus, die Europa zunehmend schwächt.

Es ist unbestreitbar, dass wir zurzeit einen Werteverfall beobachten. Dieser beruht auf einer kulturellen Entwurzelung und der Abstoßung von all jenem, was einmal war. Symptome dessen sind ein immer größer werdender Relativismus, ein um sich greifender Individualismus, Beliebigkeit, Wokeismus sowie Genderismus – alles in allem ein ausufernder Liberalismus, welcher in Libertinage umschlägt. Ideologische Trends, wie das Ablehnen der abendländisch-christlichen Kultur als Leitkultur, sowie faktische Tatsachen, wie die Massenzuwanderung von Menschen aus fremden Kulturkreisen, tragen zu einem Verlust des Selbstbildes bei. In dieser vermeintlich inklusiven, vollends toleranten Gesellschaft verschwimmen die Grenzen der Gruppen, das „Ihr und Wir“ wird immer komplexer und unverständlicher, man sucht sich, anstelle der alten, neue Feindbilder als Bindeglieder der Gemeinschaft. Dabei handelt es sich dann meist um abstrakte Konzepte, wie strukturelle Gewalt oder die Erderwärmung, deren Bekämpfung meist in einen überzogenen, teils kulthaften Irrglauben wie die Identitätspolitik oder den „Klimawahn“ ausartet.

Durch Rückbesinnung in die Zukunft

Ungarn fährt dabei einen abweichenden Kurs und beschreitet nun einen Weg der Rückbesinnung auf seinen christlich-jüdischen Ursprung. Damit eckt das Land häufig bei anderen westlichen Staaten an – allen voran bei Deutschland –, was sich in einem überwiegend negativen Ungarnbild in den Medien manifestiert.

Wenn man sich jedoch nicht von dem Fremdbild der medialen Ferndiagnostiker aus Berlin und Hamburg beeindrucken lässt, dann stellt man bei neutralerer Betrachtung fest, dass die Debatten um Ungarn doch häufig mehr über Deutschland offenbaren als andersherum. Dass es in der heutigen Zeit zu politischen Reibungen zwischen den beiden Ländern kommt, ist kaum verwunderlich, wenn man sich einmal die Lage der Konservativen in Deutschland vor Augen führt.

Ungarn verbindet die ursprüngliche christliche Kultur mit den Grundprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft. Möglich ist das nur, da es in Ungarn tatsächlich eine durchsetzungsfähige Führung mit starkem Wählerauftrag gibt. Zentrales Element ist dabei die christlich-jüdische Kultur, welche der heutigen ungarischen Nation als Wertefundament dienen soll. Schon Otto von Habsburg, der sich selbst als Ungar bezeichnete, war davon überzeugt, Europa werde entweder christlich oder gar nicht sein. Damit einhergehend besinnt man sich auf die natürliche menschliche Gemeinschaft der Familie als Fundament der Gesellschaft und achtet die Rolle von Kirchen, Kommunen, Regionen sowie Nationen innerhalb Europas.

Dieses Wertefundament zieht sich wie ein roter Faden durch das öffentliche Leben des Landes und die Politik. Man besinnt sich ebenso auf die natürliche Vielfalt des Landes, gegeben durch die breitgefächerte religiös-kulturelle Landschaft aus Calvinisten, Lutheranern, Juden und zahlreichen anderen Glaubensgemeinschaften sowie die 13 anerkannten autochthonen Minderheiten, welche alle durch diverse Minderheitenrechte geschützt werden. Dabei ist Budapest die einzige Hauptstadt Europas, in der es mehr Juden als Muslime gibt. Die jüdische Kultur ist ein besonders wichtiger Teil Ungarns, weswegen es politisch auch eine Null-Toleranz-Haltung gegenüber Antisemitismus gibt.

 Die Familienpolitik der Ungarn

Die Familie ist die Keimzelle der Gesellschaft, das ist auch in der Verfassung festgehalten. Genauso verfassungsrechtlich verankert ist der Gottesbezug sowie eine Festlegung der Geschlechter von Vater und Mutter auf Mann und Frau. Was jedoch noch vor 30 Jahren Konsens war, wird nun kontrovers diskutiert. Auch hier lässt sich vielleicht mehr über die deutsche Gesellschaft erschließen als über Ungarn.

In eine ähnliche Kategorie passt auch das Kinderschutzgesetz, welches sich gegen die Frühsexualisierung von Kindern richtet. Es wird auch kein Geheimnis daraus gemacht, dass es dabei darum geht, Minderjährige vor der Genderideologie zu schützen und die Sexualaufklärung ausschließlich qualifiziertem Schulpersonal sowie den Eltern zu überlassen. Besonders in Deutschland ist dies wegen des Selbstbestimmungsgesetzes ein brandaktuelles Thema, auch hier lässt sich die Frage nach den Beweggründen Ungarns zum Kinderschutzgesetz umdrehen und man sollte sich auch einmal fragen, ob man die problematischen Aspekte, die etwa mit der Frühsexualisierung von Minderjährigen einhergehen, in Deutschland denn nicht wahrnehme.

Ungarns Familienpolitik ist zweifelsfrei konservativ und sie trägt Früchte. Durch Steuererlässe werden Anreize für mehr Kinder in der Familie gesetzt. So zahlen Frauen unter 30, die Kinder haben, keine Einkommenssteuer. Frauen mit vier oder mehr Kindern zahlen sogar ihr Leben lang keine Steuern mehr. Gleichzeitig wird der Wohnungsbau sowie die Kinderversorgung staatlich subventioniert. Eine Familie mit drei Kindern kann mit bis zu 80.000 Euro Unterstützung beim Wohnungsbau rechnen. Zeitgleich kann das Elterngeld der Mütter teils höher ausfallen als das zuvor bezogene Gehalt. Die Resultate sprechen für sich. Die Geburtenrate hat sich in den vergangenen Jahren von einem historischen Tief von 1,2 auf 1,6 erhöht. Gleichzeitig haben sich die Eheschließungen knapp verdoppelt, Scheidungen sind rückläufig und die Zahl der Abtreibungen wurde halbiert, ohne dass das Strafrecht verschärft wurde.

Der ungarische Sozialstaat

Das alles basiert auf einem Workfare-System, dessen Fokus auf dem Erwirtschaften seines Einkommens durch eigenständige Arbeitstätigkeit liegt. Es gibt eine Flat-Tax von 15%, von welcher man auf freiwilliger Basis ein Prozent an eine Kirche und ein weiteres Prozent an eine NGO freier Wahl spenden kann, die Unternehmenssteuer liegt bei 9%. Die Erbschaftssteuer wurde abgeschafft. Durch all die Maßnahmen entstanden seit 2010 etwa eine Million neue Arbeitsplätze. Alle Sozialmaßnahmen sind in der Regel an eine Erwerbstätigkeit geknüpft, was häufig auch mittels Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen umgesetzt wird.

Der Sozialpakt wird somit durch den Erhalt der Leistungskultur auch bei Sozialhilfeempfängern legitimiert. All dies kombiniert mit den breitgefächerten Modernisierungsmaßnahmen Ungarns, wie der Digitalisierung mit 5G und dem Breitbandnetzausbau und diversen Infrastrukturprojekten, hat zu einem starken Ausgleich von Gemeinwohl und Individualinteressen geführt. Gleichzeitig ist der Anteil an Wohneigentum in Ungarn europaweit mit am höchsten – eine ganz andere Art der sozialen Absicherung, welche dazu beitragen soll, den European Way of Life zu erhalten.

Migration und Solidarität in Ungarn

Der Erhalt eben dieser christlich-abendländischen Lebensweise ist auch einer der Gründe für Ungarns Migrationspolitik. Es geht dabei nicht um eine vollständige Abschottung aus purer Fremdenfeindlichkeit heraus, sondern um den Erhalt der christlich-jüdischen Identität Ungarns. Diese christlich-abendländische Leitkultur ist das historische Erbe Ungarns. Jede Nation muss in eigener Verantwortung festlegen, wie sie mit diesem umgeht. Gleichzeitig ist für Ungarn die Hilfe für verfolgte Christen umso mehr Staatsräson und moralische Pflicht. So setzt sich die staatliche Organisation Hungary Helps für verfolgte Christen auf der ganzen Welt ein.

Aber dies gilt selbstverständlich nicht nur für Christen allein: Mit dem Stipendium Hungaricum werden über 3.000 ausländische, vorwiegend nichtchristliche Stipendiaten innerhalb Ungarns unterstützt. Mit Solidarität geht auch Subsidiarität einher und so glaubt Ungarn auch an das Europa der Nationen. Es gilt das Toleranzangebot, wonach jeder Staat seine eigene Gesellschaft so gestalten dürfen sollte, wie die Bevölkerung das für richtig empfindet.

Ungarn ist dabei von einer ganz eigenen geschichtlichen Erfahrung geprägt, nicht zuletzt durch die doppelte Diktaturerfahrung unter dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus, welche dazu geführt hat, dass sich eine besonders starke Ablehnung gegen jegliche Art von Totalitarismus und allem, was sich auch nur in diese Richtung zu entwickeln scheint, verfestigt hat.

Dieser Dreiklang aus Familien-, Sozial- und Migrationspolitik hat maßgeblich zu einem starken und weiter anhaltenden Rückgang der Kriminalität beigetragen. Noch vor 30 Jahren waren Autodiebstähle und Einbrüche alltägliche Begleiterscheinungen. Ungarn hat sich inzwischen zu einem äußerst lebenswerten Land gewandelt, was sich auch in einem wachsenden Zuzug von Deutschen nach Ungarn zeigt.

Das christliche Ungarn

Was das Christentum in Ungarn betrifft, so ist es dank der rebellischen Kultur der Ablehnung jeglicher Volksbefragungen schwer festzustellen, wie groß die jeweilige Glaubensgemeinschaft noch ist, geschweige denn wie sie sich entwickelt. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass etwa 40-50% der Ungarn katholisch sind und bis zu 20% reformiert.

In jüngster Zeit übernimmt die Kirche wieder mehr und mehr ihren Bildungsauftrag. So ist der Anteil an kirchlichen Gymnasien in Ungarn in den letzten zehn Jahren von 10% auf 25% gestiegen, insgesamt werden 12% aller Bildungs- und Betreuungseinrichtungen von der Kirche geleitet. Alles in allem geht es mit dem Christentum aufwärts. Das ist der Weg, für den sich Ungarn entschieden hat, und selbst der Papst lobte Ungarns Bestrebungen mehrfach, bezeichnete das Land gar als „Brückenbauer mit besonderem ökumenischen Charakter“ und begeisterte während seines neuerlichen Ungarnbesuches im letzten Sommer alle Christen des Landes, auch viele reformierte.

Die außenpolitische Zukunft von Ungarn

Was die Zukunftsstrategien Ungarns betrifft, möchte Ungarn am liebsten eine erneute Blockbildung vermeiden, da man bislang hauptsächlich schlechte Erfahrungen mit Blöcken gemacht hat. Stattdessen stellt man sich auf eine multipolare Weltordnung ein und strebt möglichst eine friedliche Koexistenz mit allen Ländern und Kulturen der Welt an. Mit großer Hoffnung blickt man gleichwohl auf die strategischen Souveränitätsbestrebungen Europas, man fürchtet jedoch auch, sich diese teuer erkämpfen zu müssen.

Jedoch ist Ungarn durchaus dazu bereit, für Europa zu kämpfen und sich einzubringen und möchte als ungarische Nation Teil Europas sein. Gleichzeitig braucht es trotz dessen eine Strategie der Konnektivität und des Aufeinander-Zugehens. Dafür ist es zwingend notwendig, weiterhin eine globalisierte Welt beizubehalten und jegliche Abschottung zu vermeiden.

Dieser Text basiert auf einer Rede, die der Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit, Bence Bauer, auf der Weihnachtsveranstaltung des Bundes Katholischer Unternehmer (BKU) am 11. Dezember 2023 in Berlin gehalten hat.