Zahlreiche globale Umwälzungen haben in letzter Zeit die Rolle von Europa an der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika verändert. Heute geht es um nicht weniger als die Selbstbestimmung unseres Kontinents.

Zwanzig Jahre nach dem Beitritt zur Europäischen Union sorgen sich nicht nur die Ostmitteleuropäer um die globale Zukunftsfähigkeit des alten Kontinents. Inmitten zahlreicher und weitreichender tektonischer Veränderungen der Weltordnung ergeben sich große Verschiebungen in den globalen Machtstrukturen. Bei diesen Umgestaltungsprozessen erscheint Europa ideen-, orientierungs- und führungslos. In dieser Gemengelage ist die „strategische Autonomie“ unseres Kontinents schwieriger denn je zu erreichen, obwohl diese gerade in diesen hochkomplexen Zeiten relevant, aktuell und notwendig wäre.

Die Erfahrung von 1989

Die mittel- und osteuropäischen Nationen warfen das Joch der kommunistischen Unrechtsherrschaft im Jahr 1989 ab, errangen ihre Unabhängigkeit zurück und konnten sich in Frieden und Freiheit selbst verwirklichen. Dabei waren ihnen Staat und Nation, Souveränität und Selbstbestimmung, Freiheit und Demokratie heilige Güter. Ihren Beitritt zu den euroatlantischen Strukturen sahen sie als Unterpfand ihres eigenen Unabhängigkeits- und Freiheitsstrebens gegen die dunklen Erfahrungen aus der Zeit sowjetischer Unterdrückung an. Für sie war Europa auch ein Gegenmodell zur diktatorischen Macht aus der Vergangenheit namens Sowjetunion. Dahingegen erlebten die Gesellschaften Westeuropas den Kommunismus nie aus eigener Anschauung, war doch ihre Schutzmacht Vereinigte Staaten von Amerika das Idealbild von Freiheit und Demokratie. So konnten die Westeuropäer in einer gewinnbringenden Symbiose mit den Vereinigten Staaten ihre eigene – oftmals christlich-demokratisch geprägte – Freiheit verwirklichen. Während die Sowjets ihren Herrschaftsbereich brutal mit militärischen Mitteln usurpierten und unterdrückten, bauten die US-Amerikaner mithilfe ihrer feinsinnigen Instrumentarien der Soft Power viele Bastionen und Positionen in Europa aus – insbesondere in den Bereichen Kultur, politische Entscheidungsfindung, Institutionen und Lobbygruppen. Mit dem Zusammenbruch des Ostimperiums fühlte sich der Westen als Sieger des Kalten Kriegs, die USA blieben zunächst als Führungsmacht allein auf weiter Flur und sie blieben auch kulturell und politisch bei der Gestaltung Europas und der Welt dominant. Vor dem Hintergrund der Diktaturerfahrung und des positiv besetzten westlichen Gegenentwurfs war der amerikanische Hegemon in den Nachwendejahren für alle Länder Europas durchaus wünschenswert und nützlich, die führende Rolle der USA wurde daher auch kaum hinterfragt.

Die Veränderung der gewohnten Welt

In ihrer großen Freiheit und ihrer entscheidenden Dominanz jedoch liefen die USA immer mehr Gefahr, sich zu überdehnen. Das kulturell konservativ eingestellte Amerika verlor politisch immer mehr an Boden, das linksliberal-progressiv eingestellte hingegen wurde immer dominanter. Dies zeigte sich in den Bereichen Universitäten, Medien, Nichtregierungsorganisationen, Verbänden und schließlich auch in der Politik. Diese Machtverschiebungen haben unter anderem zum „Wokeismus“, zur Cancel Culture, zu Diskursverengungen und kultureller Machtanmaßung im Namen der Liberalität geführt, die in Wahrheit immer weniger freiheitlich ist. Auch in Europa wurden diese Bewegungen immer stärker, wie auch die progressiv-linksliberalen Ideen. Die alte kulturelle christlichdemokratische Basis Europas diffundierte in zunehmendem Maße, die Christdemokraten Eine Frage der Selbstbehauptung Zahlreiche globale Umwälzungen haben in letzter Zeit die Rolle von Europa an der Seite der Vereinigten Staaten von Amerika verändert. Heute geht es um nicht weniger als die Selbstbestimmung unseres Kontinents nahmen diesen Verlust erst zu spät zur Kenntnis und suchten nach dem richtigen Umgang mit diesem. Die „progressiven“ Amerikaner verbreiten ihren Hegemonieanspruch jedoch weiter voller Elan und Macht.

Der Aufstieg Asiens

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine brachte im vergangenen Jahr eine neue Frontstellung in der globalen Politik. Der von den Vereinigten Staaten geführte freie Westen mit Europa und den angelsächsischen Ländern des alten Commonwealth stand fest an der Seite der Ukraine, während weltweit viele andere, auch demokratische Länder sich zu dieser Position nicht durchringen wollten oder konnten. Allen voran der globale Süden oder die BRICS-Länder, aber auch Israel stellten sich nicht uneingeschränkt auf die Seite der Ukraine, sondern verfolgen weiterhin eigene Interessen.

Diese Grundeinstellung gilt auch für den Wettstreit der USA mit China, bei dem diese Länder nicht klar Position beziehen wollen und prinzipiell nichts gegen eine enge Bindung zu China einzuwenden haben. Betrachtet man weltweit die größten Handelspartner dieser Staaten, so waren im Jahre 2000 die USA fast überall an erster Stelle – heute ist das in den meisten eindeutig China. Das dynamische Wachstum der früher mit dem wenig schmeichelhaften Begriff Schwellenländer umschriebenen Staaten steht in einem harschen Gegensatz zum verlangsamten Wachstum des alten Westens. Es ist nicht ganz auszuschließen, dass die globale Zukunft in Südostasien oder anderswo geschrieben wird.

Die Ostmitteleuropäer wollen in diesem Zusammenhang den Anschluss an eine weltweite Entwicklung nicht verlieren und suchen ihre Optionen eines handlungsfähigen und auf mehreren Beinen stehenden strategischen Gestaltungsraumes. Sie können mit der sich abzeichnenden Blockbildung „Der Westen gegen den Rest der Welt“ kaum etwas anfangen, haben sie doch schlechte historische Erfahrungen mit einer Blockbildung, aus der meist nichts Gutes für sie heraussprang. Daher versuchen sie, sich neue Handlungsoptionen zu erschließen. Sie stehen ein für globalen Freihandel, Austausch und Vernetzung, haben sie es doch verstanden, mit möglichst vielen Staaten der Welt gute und belastbare Beziehungen in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik anzustreben. Die diesbezügliche Strategie der Konnektivität wurde zunächst in Ungarn formuliert und versinnbildlicht den intensiven Denkprozess, in dem sich das mittelgroße Land in Ostmitteleuropa befindet.

Diese Strategie der Vernetzung und Verbundenheit ist eine Folge aus der immer offensichtlicher werdenden schwindenden Hegemonie der USA. Die Weltordnung wird zusehends multipolarer und in dieser müssen auch die Länder Europas erfolgreich bestehen können. Blockbildung und Abkehr von der Globalisierung gefährden nicht nur den Wohlstand der Europäer, sondern auch deren langfristige Sicherheit.

Werte- und Interessenorientierung

Die Werte des Westens sind umfassend, doch sind sie nicht universal. Sie gelten vielmehr in erster Linie für den Machtbereich der westlichen Welt, werden sogar von vielen anderen Ländern abgelehnt, hinterfragt, oft sogar hintertrieben. Eine wertegeleitete Außenpolitik kann so in einem vielschichtigen globalen Umfeld kaum Wirkung erzielen. Werte sind wenig greifbar, sie sind weder disponibel noch verhandelbar und gelten für den eigenen Kultur- und Machtraum.

Bei der interessengeleiteten Politik hingegen ist ein Ausgleich, eine Verständigung vieler verschiedener Interessen leichter möglich. Ungarn beispielsweise verfolgt eine interessenbasierte Außenpolitik und versucht daher mit vielfältigen globalen Akteuren einen fairen Ausgleich der beiderseitigen Interessen herbeiführen. Im Spiegel der eigenen Erfahrungen ist das Land auch eher in der Lage, die Interessen der anderen zu verstehen. Vor dem Hintergrund der ungarischen Erfahrungen erscheint es dringend angebracht, dass auch Europa seine ureigenen Interessen definiert, sie entsprechend vertritt und umsetzt. Dies geschieht jedoch viel zu selten. Vielmehr werden kaum greifbare „europäische Werte“ genannt und wenn es um globale Handlungsrahmen geht, oftmals nur die Partnerschaft mit den USA angeführt – die zwar notwendig, aber nicht hinreichend ist.

Strategische Autonomie

Vor dem Hintergrund dieser Tendenzen stellt sich die Frage, inwieweit sich Europa seine eigene strategische Ausrichtung geben kann im Sinne einer auch vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron geforderten „strategischen Autonomie“. Voraussetzung hierfür wäre, dass Europa seine eigenen Interessen formulieren kann und auch ohne die Beteiligung der Vereinigten Staaten als globaler Akteur aufzutreten imstande ist. Ebenso ist erforderlich, dass Europa über starke Führungspersönlichkeiten verfügt, um überhaupt in diesen Handlungsrahmen eintreten zu können. In diesem Zusammenhang kann ebenso die Erkenntnis reifen, dass die europäische Politik ihre Entscheidungsmaxime auf lange Sicht unabhängig davon justieren können muss, welcher amerikanische Präsident gerade im Weißen Haus regiert.

Die gegenwärtig unangefochtene Allianz mit den Vereinigten Staaten von Amerika sollte dabei bewahrt werden, jedoch muss sich Europa darauf einstellen, auch ohne die USA auf dem Forum internationaler Politik bestehen zu können, spätestens dann, wenn die Amerikaner eines Tages ihre eigenen Interessen notfalls auch ohne oder vielleicht sogar gegen die Europäer werden durchsetzen wollen. Durch den gegenwärtig immer noch tobenden Krieg Russlands gegen die Ukraine hat sich der Aktionsradius jedoch bedauerlicherweise zuungunsten der Europäer eingeengt. In solch einer konfliktbeladenen Kriegssituation könnten alle weiteren Bemühungen um eine strategische Souveränität Europas zugleich auch als eine Abwendung von den Vereinigten Staaten von Amerika verstanden werden, was sicherlich nicht im Interesse der Europäer ist.

Eine solche denkstrategische Überlegung der strategischen Autonomie erscheint erst mit Abklingen der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine realistisch. Bis dahin kann aber viel Zeit verstreichen, sodass die diesbezüglichen europäischen Bestrebungen erstmal hintangestellt werden. Für die Zukunftsfähigkeit unseres Kontinents sind dies keine guten Zeichen.

Die Europäer sind gefragt

Die sich aus der veränderten Rolle und Stellung der Vereinigten Staaten ergebenden internationalen Umgestaltungen sind auch für die Europäer nicht ohne Folgen. Zugleich stellen sich aufgrund politisch-kultureller Herausforderungen zumindest Fragen bezüglich der Zukunftsfähigkeit des transatlantischen Modells wie wir es heute kennen. Eine interessengeleitete Außenpolitik und eine Strategie der Vernetzung können dabei helfen, im wandelnden globalen Umfeld bestehen zu bleiben. Immer mehr Ostmitteleuropäer setzen sich zunehmend für eine solche Herangehensweise ein.

In diesem Zusammenhang muss der Selbstbehauptung Europas eine tragende Rolle zukommen. Hierfür aber müssen die Europäer ihre Ziele und Interessen erkennen, formulieren und auf internationaler Bühne offensiv vertreten. Die strategische Souveränität des Kontinents ist ein erstrebenswertes mittelfristiges Ziel, das aufgrund des gegenwärtig noch anhaltenden Krieges in der Ukraine nur schwer verwirklicht werden kann, ohne die Grundlagen der transatlantischen Gemeinschaft ernsthaft infrage zu stellen. Auch aus diesem Grund muss schnellstmöglich ein dauerhafter Frieden in der vom Krieg gebeutelten Ukraine bewerkstelligt werden.