Ein Beitrag von Bence Bauer in der Zeitschrift Die Tagespost. Der französische Staatspräsident besucht Ungarn und die Visegrád-Gruppe, die deutsche Außenpolitik ist zusehends ohne Handlungsspielraum – eine Analyse aus ungarischer Perspektive.
Mit der Aufstellung der neuen Bundesregierung fanden die ersten Auslandsreisen von Bundeskanzler und Außenministerin großen medialen Widerhall. Weit weniger im Rampenlicht, aber ungleich bedeutender, war der Staatsbesuch von Emmanuel Macron am 13. Dezember in Ungarn und seine Teilnahme auf dem Budapester Gipfel der Visegrád-Gruppe (V4: Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn). Dieses Ereignis steht nicht nur im Zusammenhang mit der anstehenden EU-Präsidentschaft Frankreichs in der ersten Jahreshälfte 2022 und den zeitgleich dort stattfindenden Präsidentschaftswahlen, sondern wirft das Licht auf neue Allianzen und Partnerschaften in Europa. Das Timing von Macron ist umso bemerkenswerter, als dass die Visite gerade fünf Tage nach der Vereidigung der neuen Bundesregierung erfolgte.
Seit dem Amtsantritt der konservativ-christdemokratischen Regierung von Fidesz unter Ministerpräsident Viktor Orbán vor nunmehr fast 12 Jahren steht das Land unter Dauerbeschuss. Das Land mit seiner eigenwilligen und markanten Migrations-, Familien- und Wirtschaftspolitik fährt eine Politik, die gut und gerne als Kontrapunkt der westeuropäischen identitätspolitischen Linken gelten könnte. In all diesen Bereichen haben sich innerhalb weniger Jahre nachhaltige Erfolge eingestellt, aus der Corona-Krise ist Ungarn gestärkt hervorgegangen, das Wirtschaftswachstum gehört zu den Spitzenreitern in Europa.Umso weniger ist erstaunlich, aus welcher Richtung die Kritik an Ungarn kommt, meist von der grün-links-liberalen Mehrheit im Europäischen Parlament und entsprechenden Vertretern auch aus Deutschland. Nichtsdestotrotz erfreut sich die ungarische Regierung im Lande großer Unterstützung, wurde bisher zweimal mit großer Mehrheit wiedergewählt und schickt sich an, bei den Parlamentswahlen 2022 erneut einen Wahlsieg einzufahren.
Beide gehen auf Distanz zu Deutschland
Seit dem Abgang von Angela Merkel ist Viktor Orbán der Dienstälteste im Europäischen Rat und Ungarn spielt aufgrund seiner bestimmenden Politik eine erstaunlich große Rolle in der V4 wie auch in der EU. Die ambitionierten Visegrád-Länder haben lange ihre Hoffnungen auf Deutschland gerichtet. Es erscheint nicht ganz fernliegend, dass Deutschland in der östlichen Wachstumsregion wichtige europäische Verbündete sichern könnte. Mit ihrer soliden Fiskal- und Wirtschaftspolitik, der Digitalisierung und Nachhaltigkeit, der Betonung der eigenen verteidigungspolitischen Souveränität sowie der Stärkung der kulturellen Identität Europas legen sie einen Entwurf vor, der für Deutschland überlegenswert wäre. Wirtschaftlich, kulturell und geschichtlich mit Deutschland eng verflochten, sind die Länder Mittel- und Osteuropas natürliche Partner, die zwar die Führungsrolle Deutschlands anerkennen, aber auch mit ihren eigenen Vorstellungen von Europa durchdringen wollen.
Bisher konnte sich die deutsche Politik nicht dazu entschließen, verstärkt den Schulterschluss mit den erfolgreichen V4 zu suchen. Stattdessen wurde immer wieder Brüssel bemüht, angebliche Rechtsstaatsverletzungen angeprangert und permanent verlangt, die Mittel- und Osteuropäer hätten wie auch immer geartete „europäische Werte“ zu akzeptieren. Ihnen wurde klargemacht, dass sie als „Newcomer“ zwar Mitglied im Klub sein dürften, sie sich aber an die Verhältnisse, Verfahrensweisen und Schemata anpassen müssten, die dort vorherrschen. Wahre Partnerschaft sieht anders aus.
Orbán ist konservativen Franzosen sympathisch
Mit dem Amtsantritt der neuen Bundesregierung der Ampelparteien werden diese Verhältnisse noch weiter verhärtet. Die Koalitionsvereinbarung wurde mit alten westeuropäischen Füllfederhaltern geschrieben und ist durchdrungen von der Ignoranz der neuen Verhältnisse in Europa, in dem neue selbstbewusste Mitgliedsstaaten ihren Platz einfordern.
Insbesondere die vom Gendergedanken geleitete „neue deutsche Familienpolitik“, die Ermöglichung jedweder Migration sowie die völlig überambitionierte wie unrealistische Energiepolitik treiben einen Spaltpilz durch Europa, der nicht nur Deutschland von den V4 trennt, sondern auch von vielen anderen europäischen Ländern. Nicht überall mag man sich anschließen an diese hochmütige Politik, die Altkanzler Gerhard Schröder so ausgedrückt hat: „Am grünen Wesen soll die Welt genesen.“
Unter diesen Umständen erlangt der Besuch des französischen Staatspräsidenten einen umso größeren Bedeutungsgehalt. Auf den ungarischen Ministerpräsidenten angesprochen, pflegte er zu sagen: „Viktor Orbán ist ein politischer Gegner, aber ein europäischer Partner.“ Der Ungar, der noch vor einigen Wochen Marine Le Pen und Éric Zemmour in Budapest empfing, um die Möglichkeiten parteipolitischer Zusammenarbeit im Europäischen Parlament auszuloten, räumt der zwischenstaatlichen und intergouvernementalen Methode weit größere Bedeutung ein – so auch Macron.
So gesehen ist eine Allianz mit dem pragmatischen französischen Präsidenten nur auf den ersten Blick erstaunlich. Bereits 2019 agierten sie gemeinsam und verhinderten den Christdemokraten Manfred Weber als EU-Kommissionspräsidenten. Die beiden Staatsmänner identifizierten in Budapest auch die Eckpunkte eines gemeinsamen europäischen Ansatzes: Vorrang des Nationalstaates (sie eint die Liebe zur Heimat), Stärkung Europas, Festigung der strategischen Autonomie des Kontinents. Insbesondere die Kooperation in der Verteidigungspolitik, in der Energiesicherheit – was das Festhalten an der Atomkraft einschließt – und der Lebensmittelversorgung ist dabei vorherrschend.
Zusammenarbeit über ideologische Differenzen hinweg
Dass sie dabei unausgesprochen auf deutliche Distanz zu Deutschland gehen, ist bemerkenswert wie denklogisch. Beide sind erfahrene Politiker, die ihre Länder selbstbewusst im vielstimmigen europäischen Konzert unterbringen wollen und dabei ganz pragmatisch vorgehen. Sie haben erkannt, dass man auch über ideologische Differenzen hinweg immer wieder konkrete wie zukunftsweisende Lösungsansätze suchen muss, gerade wenn eine andere europäische Führungsmacht dabei ist, sich selbst zu schwächen. Zudem kann Macron auch innenpolitisch in seinem Präsidentschaftswahlkampf punkten, denn Person und Politik von Viktor Orbán werden auch bei konservativen Franzosen goutiert.
Umgekehrt bietet der Präsident, dessen Besuch die erste derartige Visite seit 2007 markiert, eine wichtige internationale Bühne für den ungarischen Premier. Ebenso können die in Budapest formulierten europapolitischen Vorstellungen Eingang in die französische EU-Präsidentschaft finden. Die aufgeworfenen Fragen – allen voran die Energiesicherheit – sind ganz konkrete, die Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit berührende Angelegenheiten, auf die das politische Spitzenpersonal nicht ideologische, sondern ganz realistische Antworten geben muss. Auch hierbei entfernt sich Deutschland von den europäischen Lösungen. Macron steht bereit, diesen Raum zu füllen.
Foto: Attila Volgyi (XinHua) | Am 13. Dezember besuchte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron (links) den ungarischen Premierminister Viktor Orbán (rechts).