Ein Essay von Bence Bauer, Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit am Mathias Corvinus Collegium.

„Wir wollen 2030 zu den besten fünf Ländern der EU gehören.“

Ministerpräsident Viktor Orbán im November 2018

 

Die demokratische Reputation Ungarns wird in der letzten Zeit von einem Teil der europäischen Medien und von vielen politischen Meinungsführern zunehmend in Frage gestellt. Stand das Land in den Wendejahren 1989/1990 unter den Völkern Mittel- und Osteuropas pars pro toto für den Freiheitsdrang und den Aufbruch in Richtung Demokratie und Europa, ist nach gut anderthalb Jahrzenten Mitgliedschaft in der Europäischen Union eine weitreichende Ernüchterung eingetreten – auf beiden Seiten. Hinsichtlich des „ob“ zur EU-Mitgliedschaft gibt es in Ungarn keine Frage, denn die Zustimmungsraten dazu sind unverändert hoch. Bezüglich des „wie“ hingegen gibt es umfangreichen Diskussionsbedarf.

Viele Ungarn fürchten zunehmend eine für sie negative Entwicklung, die ihre Lebensentwürfe, ihren liebgewonnenen „European way of life“ in Frage stellt. Sie hadern daher insbesondere mit einer Europäischen Union, die nach ihrer Ansicht die mühselig wiedergewonnenen persönlichen Freiheiten und die nationale Souveränität einschränken und die Bevölkerung weitgehend bevormunden will. Vertreter vor allem westeuropäischer Länder hingegen sehen im Agieren des Landes eine ihnen fremde, ihrer Lebenswirklichkeit entrückte Welt, der sie mit Unverständnis begegnen. Dies findet dann oft Ausdruck in dem allgemeinen Vorwurf, die ungarische Politik würde den „europäischen Werten“ nicht mehr entsprechen. Die Diskrepanz der Perspektiven macht es notwendig, sich ernsthaft mit dem „Phänomen Ungarn“ zu befassen, um die Motivationslage und die Zielsetzungen seiner politischen Führung in einem komplexer werdenden Europa zu verstehen. So stellt sich die Frage, ob Ungarn mit seiner eigenwilligen Politik vielleicht nicht doch einen konstruktiven Beitrag zu einer sich im Wandel und Erneuerung begriffenen Europäischen Union leisten könnte.

Geschichte, Sprache und Mentalität der Ungarn

Für viele westeuropäische Beobachter sind die in ihren Augen überdimensionierte Erinnerungskultur, der von der Diktaturerfahrung ausgehende robuste Antikommunismus und der generelle Stellenwert von Geschichte im öffentlichen Leben Ungarns befremdend. Aber auch in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas ist der öffentliche und politische Diskurs geprägt von einem lebendigen Geschichtsbild, einer starken nationalen Identität und einer nicht wegzudenkenden Narration über die Rolle von Staat, Staatsvolk und Nation. Um Europa gemeinsam gestalten zu können, ist es daher unerlässlich, sich dieser aus den historischen Gegebenheiten folgenden Rahmenbedingungen anzunehmen und das Land und seine Bevölkerung in ihrem ganzen Spektrum zu durchdringen. Dabei spielen nicht nur die bloßen Fakten eine Rolle, sondern auch Einstellungen, Befindlichkeiten, Mentalitäten, Verhaltensweisen und immer wiederkehrende Handlungsmuster. Nur so kann Verständnis und Verständigung befördert werden. Gerade die Politik muss imstande sein, dieses gesellschaftliche Grundverständnis in ihrer täglichen Arbeit zu würdigen, zu beachten und mit ihrem feingliedrigen System aus politischer Führung, Entscheidung und Kommunikation mit Maß und Mitte umsetzen. Für den ausländischen Betrachter ist es daher unerlässlich, diese Faktoren zu kennen, sie zu verstehen und von ihnen ausgehend das Land, seine Menschen und seine Politik zu beurteilen. Denn die unterschiedlichen historischen Erfahrungen, die andersgelagerten Diskussionen, die abweichende politische Kultur, eine andere Sprache, eine nicht immer leicht zu folgende Kommunikation und die den westeuropäischen Beobachtern kaum vertraute „Volksseele“ der Ungarn erschweren diesen Prozess. Diese Umstände zu würdigen verlangt stete Aufmerksamkeit und auch den Willen, sich auf das Land einzulassen.

Das Land der 10 Millionen Freiheitskämpfer

Einem bekannten ungarischen Politiker wird die Bemerkung zugeschrieben, es sei sehr schwer Ungarn zu regieren, denn im Land gebe es 10 Millionen Freiheitskämpfer. Diese Umschreibung charakterisiert eine Grundeigenschaft der Ungarn, den ständigen Kampf und Rebellion gegen oftmals äußere Bedrohungen. Tief verwurzelt in der Geschichte des Landes lernten die Menschen, dass sie oftmals auf sich allein gestellt waren. Im Kommunismus schließlich galt es, die Obrigkeit zu überwinden, mit List und Geschick und den anderen ein Schnippchen zu schlagen. Vor diesem Hintergrund sind auch Aversionen und gelegentlich lautstark geäußerte Vorbehalte gegen „Entscheidungen von oben“ oder „Entscheidungen von außen“ zu verstehen. Dadurch ist auch zu erklären, warum Maßnahmen auch der EU zunächst einmal durch die Souveränitäts- und Freiheitskämpferbrille betrachtet werden und fast immer vermutet wird, dass die andere Seite eine List, einen Hintergedanken, ein übles Motiv verfolgt. Diese Attitüde ist eingeübt, denn das tagtägliche Leben der Ungarn ist ein Abwehrreflex gegen all das, was diese Freiheit bedrohen könnte: eine lästige Abgabe, eine unangenehme Pflicht, eine als unsinnig empfundene Regel. Doch jenseits dieser kleinen Freiheitskämpfe gibt es eine Welt, für die die Ungarn einstehen. Eine äußere Bedrohung wird aufgrund der historischen Prägungen sofort erkannt und abgewehrt, ein Reflex, den viele in Europa vielleicht schon verloren haben. Die Ungarn zeichnet ein seismographischer Sinn für die täglichen Veränderungen in der Welt aus. Sie haben durch ihre geschichtlichen Erfahrungen gelernt, immer vorzeitig die Gefahren zu erkennen und den richtigen Zeitpunkt für Abwehrmaßnahmen zu wählen.

Die ungarische Flüchtlingspolitik als Zankapfel zwischen Ost und West

Kaum ein Thema bestimmte den europäischen Diskurs im letzten Jahrzehnt so sehr wie die internationalen Flüchtlings- und Migrationsströme. Das gesteigerte Interesse am EU-Wahlkampf und die gestiegene Wahlbeteiligung deuten darauf hin, dass die Europäer zumindest zum Teil eine gemeinsame öffentliche Wahrnehmung und ein Stück weit auch eine gemeinsame Öffentlichkeit diesbezüglich entdeckt hatten. Dass ausgerechnet eine derart umstrittene Frage wie die die Flüchtlings- und Migrationspolitik diesen Prozess befeuern würde, hätten sich selbst begeisterte Anhänger des europäischen Einigungsgedankens so wohl nicht vorstellen können. Noch Anfang 2015 hätten es politische Kommentatoren kaum für möglich gehalten, dass ausgerechnet der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán eine zentrale Rolle in diesen Diskursen einnehmen und er auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise sogar zum „Gegenspieler” von Angela Merkel hochstilisiert würde.

Bestimmend für die Ausbildung der ungarischen Migrationspolitik waren neben den sich anbahnenden Ereignissen des Jahres 2015 auch viele andere, meist historisch tief verwurzelte Faktoren. Fremdherrschaft, Besetzung und Besatzung waren leidvoll wiederkehrende Erfahrungen der ungarischen Geschichte. Nach dem Mongoleneinfall und 150-jähriger osmanischer Besatzung war es das Haus Habsburg, das das Land befreite und im selben Moment sich einverleibte. Zuvor war das Land dreigeteilt, in der Mitte die Türken (im Budapester Villenviertel windet sich die „Türkenunheilstraße” bergauf, kaum einen Kilometer entfernt steht die von Viktor Orbán und Recep Tayyip Erdoğan im Oktober 2018 wiedereröffnete restaurierte Gül-Baba-Türbe und für die geschichtsbewussten Ungarn ist dies überhaupt kein Widerspruch), im Nordwesten Habsburg, im Osten das autonome Fürstentum Siebenbürgen. Abgekoppelt von Europa, entwickelt sich in Siebenbürgen ein ganz besonders Ungarntum, in dem Calvinismus und Identitätsbildung prägend waren. Das Unterpfand der ungarischen Staatlichkeit wie einen heiligen Gral gegen Eindringlinge und Übeltäter, gegen Fremde und Unbekannte, gegen absolute Monarchen und ausländische Reiche zu verteidigen, stand dabei im Mittelunkt: „Cum Deo pro Patria et Libertate“ war das Motto der Siebenbürgischen Freiheitsbewegungen. Die Rolle der Reformation kann in diesem Zusammenhang nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es ist daher auch keine Überraschung, dass die zahlenmäßig nur mittelgroße Reformierte Kirche Ungarns (mit etwa 20% der Gläubigen des Landes) in der Politik und im öffentlichen Leben bis hinein in die Regierungskreise auch heute noch eine so bedeutende Rolle spielt. Im 20. Jahrhundert erfüllte sich nach dem Trauma der Erfahrungen mit der massenmörderischen Nazi-Ideologie und der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges sowie nach der jahrzehntelang andauernden Willkürherrschaft des kommunistischen Regimes - abgesichert durch die „vorübergehend in Ungarn stationierte Rote Armee” – endlich der lang ersehnte ungarische Traum von Freiheit, nationaler Identität und Selbstbestimmung.

Vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrungen reagieren die Ungarn deswegen in ihrer eigenen Art auf die Herausforderungen der „modernen Völkerwanderung“. Die Verteidigungsstrategie der politischen Führung in der Migrationsfrage stößt - über alle Parteigrenzen hinweg - im Land auf eine breite Zustimmung. Ein diesen Trend verstärkender Aspekt ist die Einschätzung vieler Ungarn, dass die Europäische Union mit ihrer Hauptstadt Brüssel ein neues „Riesenreich” sei. Viele Ungarn können nicht akzeptieren, dass als Folge der Teilung der Souveränität auf europäischer Ebene letztlich die Brüsseler Bürokratie darüber entscheidet, mit wem die Landesbevölkerung zusammenleben solle. Die ungarische Regierung hat mehrfach betont, dass sie die nationale Migrationspolitik eines jeden EU-Mitgliedslandes akzeptiere. Ausgehend von den Einwanderungserfahrungen vor allem der westeuropäischen Länder hat die Regierungskoalition aber entschieden, eine eigene Migrationspolitik umzusetzen. Dies solle wiederum, so die ungarische Argumentation, ebenso von den anderen EU-Ländern akzeptiert werden.

Im Jahr 2015 erreichten nicht nur die deutsch-ungarischen, sondern auch die ungarisch-europäischen Beziehungen einen Tiefpunkt. Dabei hatte sich die politische Führung des Landes ungewollt als Gegenentwurf zur deutschen Willkommenskultur positioniert bzw. wurde dorthin gedrängt. Mit der Sicherung der Schengen-Außengrenze bewiesen die Ungarn, dass die sich aus dem staatlichen Souveränitätsbegriff klassischerweise ergebende Pflicht des Schutzes der Landesgrenzen erfüllbar war. Niemand in Ungarn antizipierte die gesellschaftliche und politische Dynamik, die zu einer „Willkommenskultur” in Deutschland im Spätsommer 2015 führte. Nach dieser Hochzeit der Flüchtlingsaufnahme fand die deutsche Regierung aber wieder zu einem auch für andere europäische Länder akzeptablen Lösungsansatz zurück – Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, Flüchtlings-Obergrenze, „2015 darf sich nicht wiederholen” und dergleichen. Die Aufnahme und vor allem die Verteilung der Flüchtlinge und Migranten bleibt aber weiterhin eine schwierige Frage für Europa, auf die bisher noch keine allgemein akzeptierte Antwort gefunden werden konnte.

Recht haben und Recht bekommen sind zwei paar Schuhe – dieses deutsche Sprichwort wird seit jener Zeit auch von den Ungarn verstanden. Denn andere Länder folgten der strikten Grenzschutzpolitik Ungarns und seiner rigiden Ablehnung illegaler Migration; dies wurde anscheinend nur anders kommuniziert. So betrieb der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz schon als Außenminister konsequent die Schließung der Balkanroute, dennoch stand nicht er, sondern der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán im Mittelpunkt der massiven Angriffe der Befürworter von durchlässigen EU-Außengrenzen. Diese Tatsache wurde der ungarischen Regierung zunehmend bewusst. Sie nahm die Rolle an, verschärfte noch die Rhetorik und erklärte sich zum „Burgkapitän“ der Feste Europa, zum Verteidiger Europas oder auch zum Garanten der jüdisch-christlichen Werteordnung. Als Folge der Migrationskrise verschärfte sich die Polarisierung in Europa und vor allem der Gegensatz zwischen Ost und West. Im Mittelpunkt der Diskussion steht seitdem die These von Krastev/Holmes, dass das „Licht erloschen“ sei. Es scheint, dass die politische Strahlkraft des Westens erheblich nachgelassen hat und die Länder in Mittel- und Osteuropa sich stärker an eigenen Traditionen, Glauben und nationaler Identität orientieren.

Das gemeinsame Narrativ von Mittel- und Osteuropa

In ihrer Einstellung zu Geschichte, Kultur und Politik sind sich die Menschen in den Ländern Mittel- und Osteuropas sehr ähnlich – aber auch in ihrer Ablehnung der massiven Zuwanderung. Sie wollen so leben, wie sie bisher gelebt haben und ihre Gesellschaften aus sich heraus entwickeln. Dabei akzeptieren sie die Gesellschaftsentwürfe der alten EU-Mitgliedsländer, fordern aber ihrerseits im europäischen Verbund mehr Respekt und Anerkennung für ihre Vorstellungen. Für viele wirkte es wie eine Änderung der europäischen Geschäftsgrundlage, als in der Europäischen Union im Herbst 2015 die verpflichtende Verteilung der Flüchtlinge mit qualifizierter Mehrheit beschlossen wurde. Es ist eine Binsenweisheit, dass sich die Europäische Union nach der großen Erweiterungsrunde im Jahr 2004 weiterentwickelt hat. Viele Mittel- und Osteuropäer fragen sich aber zunehmend, ob sie heute noch souverän und selbstbestimmend das Leben in ihrem Land gestalten können oder ob die Brüsseler Institutionen dies weitgehend übernommen haben. In Polen, Tschechien, Slowenien, Ungarn und der Slowakei stellte sich vor diesem Hintergrund zunehmend die Frage nach der Selbstachtung. Der Wunsch nach einer stärkeren Besinnung auf die eigenen Kräfte nahm stetig zu. Mit Befremden wird in diesen Ländern zur Kenntnis genommen, dass das Streben nach Selbstbestimmung in Europa keine Selbstverständlichkeit ist, denn niemand würde z.B. anzweifeln, dass die Deutschen über das Leben in Deutschland entscheiden müssten und nicht andere. Bei den „neuen” EU-Mitgliedsländern klingt immer noch der Ausspruch des französischen Präsidenten Chirac nach, jene Länder hätten „eine gute Gelegenheit verpasst, einfach mal den Mund zu halten”. Hier Europa wieder zusammenzuführen, Vertrauen zu schaffen und „Politik auf Augenhöhe“ zu gestalten wird ebenso eine eminente Herausforderung für die 2020er Jahre werden wie auch die richtige Balance zwischen Ost und West, Nord und Süd, klein und groß zu finden.

Die Pflöcke, die die Politik gerade in Ungarn einschlägt, stehen als markante Wegmarken bisweilen allein auf weiter Flur und treffen in Europa vielfach auf Entrüstung und Argwohn. Doch diese politischen Entscheidungen basieren überwiegend auf einfachen und grundsätzlichen Überzeugungen, die von einem Mehrheitswillen getragen werden: Nicht mehr, sondern weniger Zuwanderung. Nicht weniger, sondern mehr Kinder. Nicht Verbot von Einfamilienhäusern, sondern Unterstützung für das Eigenheim. Kein Wohlfahrtsstaat, sondern eine Gesellschaft, die auf Arbeit aufbaut. Nicht hohe, sondern niedrige Steuern. Nicht Umverteilung, sondern Investitionen in wachsenden Wohlstand. Nicht Ehe für alle, sondern Ehe von Mann und Frau. Viele dieser Zielsetzungen werden auch von den Bürgern anderer Länder der Region geteilt. Dass eine solche Politik im heutigen Europa vielfach auf Ablehnung stößt, liegt auch daran, dass diese Themen in vielen Ländern den Nerv der noch nicht abgeschlossen Diskussion über die zukünftige gesellschaftliche Ausrichtung treffen.

Ungarn und Visegrad

Die am 15. Februar 1991 damals noch von drei Staaten gegründete Visegrad-Gruppe besteht heute aus den vier Ländern Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei. Sie findet ihre historischen Vorläufer im Dreikönigsabkommen im gleichnamigen ungarischen Ort im Herbst 1335. Zu jener Zeit kamen die drei Könige aus Polen, Ungarn und Tschechien überein, ihre Handels- und Militärbeziehungen auszubauen und auch politisch gemeinsam vorzugehen. Die vor 30 Jahren wiederbelebte Gruppe verfolgte anfangs die Zielsetzung, sich gegenseitig auf dem Weg in die euroatlantischen Strukturen zu unterstützen. Nach der erfolgreichen Integration drohte das Projekt inhaltlich entleert zu werden. Doch es kam anders. Die massiven Umwälzungen des Jahres 2015 zeigten einmal mehr, wie wichtig es für die Länder Mittel- und Osteuropas ist, mit einer Stimme zu sprechen. Sie verbindet politisch eine gemeinsame Sprache – jenseits von Parteipolitik, denn seit Spätherbst 2015 tragen ihre Regierungen unterschiedliche parteipolitische Farben. Mit einer konsequenten Politik gerade in Sachen Migration und Bewahrung der christlichen Werte des Kontinents spielen sie eine immer größer werdende Rolle im vielstimmigen europäischen Konzert. Sie sind zum Machtfaktor geworden, nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich.

Die V4 verstehen sich aktuell als dynamistische Region in Europa. Schon 2015 war ihr Handelsvolumen mit Deutschland um 50% höher als das von Deutschland mit Frankreich. 2019 stieg diese Kennziffer schon auf 70%. Sie lehnen staatliche Verschuldungspolitik ab und haben aus ihrer historischen Erfahrung gelernt, dass ganz im Sinne der „schwäbischen Hausfrau“ Ausgaben immer auch Einnahmen entgegenstehen müssen.

Sie formulieren zunehmend selbstbewusster ihren Gestaltungsanspruch und hoffen, zusammen mit Deutschland zum Motor einer sich erneuernden Europäischen Union zu werden. Dabei liegen sie mit ihren Vorstellungen von Fiskal- und Klimapolitik, einer nachhaltigen, innovativen und leistungsbereiten Wirtschaft, schneller Digitalisierung sowie mit der Ausweitung militärischer Fähigkeit auch im europäischen Verbund auf einer Linie mit Deutschland. Die V4 haben sich zu einer Region gemausert, die auf eigenen Beinen stehen kann und will und mutig einen Beitrag für Europa zu leisten imstande ist. „Einheit in der Vielfalt und Vielfalt in der Einheit: Das ist das Geheimnis Europas,“ erklärte Ministerpräsident Orbán im Februar 2021 anlässlich der Feiern zum 30. Jahrestags der Gründung des Bündnisses der Visegrad-Länder. Er forderte starke Nationalstaaten mit politischen Entscheidungsträgern, die den Mut hätten, auch Unbequemes anzusprechen. Das Potential der V4 zu erkennen und für die Zukunftsgestaltung des Kontinents stärker zu nutzen, ist eine der großen Herausforderungen der deutschen Europapolitik nach den Bundestagswahlen 2021.

Europa heute

Dieser Beitrag sollte nicht die feinen Verästelungen der ungarischen Europapolitik darlegen, er ist auch nicht bestrebt, einzelne EU-Fachpolitiken einer Kritik oder Würdigung zu unterziehen. Er will vielmehr eine Perspektive von Europa aufzeigen, die in Deutschland heute nur unzureichend bekannt ist. Ungarn hat seine Wurzeln und seinen lang angestammten Platz in Europa. Dass dies von westlichen Kritikern immer wieder in Frage gestellt wird, schmerzt die Ungarn sehr. Die Richtungsentscheidung, das Land europäisch fest zu verankern, traf der Heilige Stephan für Ungarn vor mehr als tausend Jahren. Diese Entscheidung bleibt die Richtschnur der ungarischen Europapolitik. Die ungarische Regierung strebt weiterhin ein „Europa der Vaterländer“ an und die große Mehrheit der Ungarn will in der Europäischen Union bleiben. Sie wollen Demokratie, Rechtsstaat, Wohlstand und Sicherheit auf der Grundlage einer pluralistischen Werteordnung. Es sind vor allem die Zwischentöne, die den Unterschied in Europa ausmachen. Diese Unterschiede zu verkraften und zu respektieren, Meinungsunterschiede in einer offenen und kontroversen Debatte mutig und beherzt auszutragen und sich den drängenden Zukunftsfragen zu stellen sollte Europa in den 2020er Jahren kennzeichnen.

Der ungarische Ministerpräsident erklärte vor einigen Jahren: „Wir dachten früher, die Zukunft ist Europa, aber heute wissen wir, dass wir die Zukunft Europas sind“. In diesem Sinne sollte Europa aus einer lebendigen Mitte heraus weitergedacht und neu belebt werden. Die Ungarn sind dazu bereit.

 

Dieser Artikel erschien in: Daniel S. Hamilton/ Gregor Kirchhof/ Andreas Rödder (eds.), Paradigm Lost? Europe and the Challenges of a New World (2021)