Kurz vor dem in der ungarischen Kapitale in der Zeit vom 5.-12. September 2021 ausgerichteten 52. Internationalen Eucharistischen Kongress richten sich die Augen der katholischen Welt auf Ungarn. Dabei steht die von Papst Franziskus am 12. September zelebrierte Heilige Messe im Mittelpunkt der Zusammenkunft. Diese beflügelt das mediale Interesse an Ungarn und seinem katholischen Geistesleben. Anlass genug, die heutige Situation der katholischen Kirche und der Gläubigen im Land unter die Lupe zu nehmen.

Wechselvolle Religionsgeschichte Ungarns

Stephan der Heilige wurde im Jahre 1000 als erster ungarischer König christlichen Glaubens gekrönt, nur wenige Jahre zuvor wurde er getauft. Der mit der bayerischen Herzogstochter Gisela verheiratete Staatsgründer gilt als Nationalheiliger des ungarischen Volkes und Begründer des christlichen Ungarn. Die Verbindung der Eheleute ist damit ein festes Fundament der tausendjährigen Bande zwischen Ungarn und Bayern, aber auch zwischen Ungarn und dem deutschsprachigen Raum im Allgemeinen. König Stephan I wird auch heute noch uneingeschränkt als Wegbereiter der Verankerung des Landes im abendländischen Europa gesehen. Zu Ehren des Heiligen Stephan wurde im Jahre seines 900. Todestages, im Mai 1938, der 34. Internationale Eucharistische Kongress in Budapest durchgeführt - erstmalig in einem Land in Mittel- und Osteuropa und als letzter Kongress vor der kriegsbedingt langen Pause bis 1952. Damals nahmen mehr als 100.000 Menschen aus aller Welt an dieser Großveranstaltung teil.

Der wechselvollen ungarischen Geschichte ist es zuzuschreiben, dass Ungarn heute nicht als mehrheitlich katholisches Land gilt – weder in Zahlen, noch in Religiosität, Brauchtum und Sitten. Anders als etwa im stark katholischen Polen oder Kroatien vermochte es der ungarische Katholizismus nicht, zu einer wahrhaften Volksreligion zu werden. Hierfür ist unter anderem die Reformation verantwortlich – Ungarn galt lange als Kernland der Reformation. Im Jahre 1526 wurden die ungarischen Truppen bei der Schlacht von Mohács von den Türken vernichtend geschlagen. Infolgedessen wurde das Land dreigeteilt: Im Norden und Westen herrschte Habsburg, die Landesmitte, bis weit nördlich des heutigen Budapests, geriet unter osmanische Herrschaft und im Osten konnte sich eine eigene ungarische Staatlichkeit, das Fürstentum Siebenbürgen, etablieren. Dort waren Reformation und calvinistischer Glaube besonders stark; sie dienten als Rückzugsort und als Unterpfand der Bewahrung der ungarischen Traditionen und einer eigenen selbstorganisierten Staatlichkeit. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts waren die meisten Ungarn in allen Landesteilen reformiert. Dem entgegen konnte die Gegenreformation unter Péter Pázmány nur langsam Fuß fassen – in Siebenbürgen aber am wenigsten. Die Protestanten in Ungarn haben sich indes ebenfalls geteilt: Die Reformierte Kirche und die Lutherische sind strikt getrennt.

Mentalitätsbrüche und Spaltungen

Noch heute lassen sich viele Verhaltensmuster und Mentalitäten der Ungarn am Schisma des Landes festmachen. Die leidvolle ungarische Geschichte repetierte diese Muster bis in die Gegenwart, wenngleich das Trennende manchmal über Gebühr stark betont wurde. Die beiden großen Persönlichkeiten des ungarischen Vormärz im 19. Jahrhundert, István Széchenyi und Lajos Kossuth stritten um die Frage von Nation, Souveränität und Staatlichkeit. Es ist ein Aufeinandertreffen zweier Antipoden, zweier Welten und Mentalitäten. Vereinfacht ausgedrückt stand der Westen des Landes, vertreten von Széchenyi, für das katholische, monarchische, deutschsprachige, Habsburg-treue Ungarn, während der Osten des Landes um Lajos Kossuth das reformierte, rebellische, ungarischsprachige, gegen Habsburg gerichtete Ungarn versinnbildlichte. Diese Muster lassen sich mit Nuancierungen und Verästelungen auch noch in den heutigen öffentlichen Debatten feststellen. Sie erklären zugleich, warum die Ungarn mit einer besonderen Art und Weise auf die Welt reflektieren.

 

Daten und Fakten zum Katholizismus in Ungarn

Die Religionsspaltung findet auch im 21. Jahrhundert, wenngleich unter anderen Vorzeichen, ihre Fortsetzung. Nunmehr haben wir es nicht nur mit einer Dreiteilung der maßgeblichen Glaubensgemeinschaften in römisch-katholisch, reformiert und lutherisch zu tun, sondern auch mit einer Zweiteilung zwischen Gläubigen und Atheisten oder Unbestimmten. Nach den Daten der letzten großen Volkszählung aus dem Jahre 2011 sind 37% der Bewohner des Landes römisch-katholisch, 12% reformiert, 2% evangelisch und 2% griechisch-katholisch (diese praktizieren den orthodoxen Ritus, anerkennen aber den Papst in Rom und sind daher Teil der katholischen Kirche). Zu den Befunden der Volkszählung 2011 gehörte es, dass die Zahl der Gläubigen im Vergleich zu den Ergebnissen von 2001 rapide abnahm, bei allen Glaubensrichtungen in ungefähr demselben Ausmaß.

Als ärgerliche Anomalie gilt der Umstand, dass die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft als eine „sensitive Frage“ galt. Demnach wurde es den Fragestellern anheimgestellt, die Befragten nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass hier keine Antwort gegeben werden müsse – der Anonymität des Zensus zum Trotze. Von dieser „Möglichkeit“ machten dann auch 27% der Menschen Gebrauch (2001 waren dies nur 10%). Zudem wurden aufgrund eines Datenfehlers im internetbasierten Selbstauskunftsverfahren eine ganze Woche lang die Antworten „katholisch“ nicht gewertet, da die Eingabemaske nicht zwischen „römisch-katholisch“ und „griechisch-katholisch“ differenzierte. Somit könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Befragte in seinem Auskunftsrecht beschränkt werde, so die damalige Stellungnahme. Kritikern zufolge war diese Volte ein weiterer Beleg für die individualistisch geprägte ungarische Gesellschaft und den übertriebenen, peniblen Geltungsdrang vermeintlicher Freiheitswerte. Die Katholische Kirche protestierte – wenngleich nur sehr leise.

Darüber hinaus gaben 18% der Ungarn an, keiner Religionsgemeinschaft anzugehören. Unter den eine Religionszugehörigkeit Angebenden waren 68% römisch-katholisch, 21% reformiert, 4% evangelisch, 3% griechisch-katholisch. Da sich diese Prozentsätze im Vergleich zu 2001 kaum veränderten, liegt die Vermutung nahe, dass es unter den Antwortverweigerern eine hohe Dunkelziffer an Katholiken, Reformierten und Lutheranern geben mag – wenngleich diese Personen wohl nicht als besonders gläubig gelten dürften, sonst hätten sie die Aussage ja nicht verweigert.

Rolle der Katholischen Kirche im Lande

Im Vergleich zu Deutschland ist es verblüffend, dass sich die Katholische Kirche Ungarns mit gesellschaftspolitischen Stellungnahmen zurückhält. Ihre Repräsentanten stehen indes nicht selten für eine Lebenswirklichkeit, die der deutschen katholischen Alltagswelt seltsam anmuten mag. In der Hochzeit der Flüchtlingskrise nahmen viele führende Vertreter der Katholischen Kirche Ungarns eine migrationskritische Haltung ein – die jedoch mit der Meinung einer großen Mehrheit der Landesbevölkerung wie auch der politischen Führung des Landes kongruierte.

In dieser einen Frage war somit ein Gegensatz zu den gesellschaftspolitischen Ansichten des gegenwärtigen Papstes Franziskus auszumachen. Dieser wurde übrigens ob seiner Positionen von namhaften ungarischen Publizisten aus konservativen Kreisen verbal gehörig angegriffen – die Proteste der Katholischen Kirche gegen diese Art der Kritik an ihrem Oberhaupt waren jedoch kaum vernehmbar und leise. Auch dieser Umstand belegt einmal mehr, wie sehr eine Kirche in ihrer Ganzheit in die sie umgebende Gesellschaft und deren Muster eingebettet ist.

Übrigens konvertierte einer der besagten Publizisten 2018 aus Protest gegen eine aus seiner Sicht migrationsfreundliche Predigt eines evangelischen Dorfpfarrers zu ebenjenem Katholizismus. Dabei erklärte er auch noch, dass er weiterhin Benedikt XVI. für das legitime Oberhaupt der Katholischen Kirche halte. Weiter tadelte er die Haltung von Franziskus in Migrationsfragen und schlug dessen Ausladung vom Eucharistischen Kongress vor. Auch bei diesen Seitenhieben blieb ein lautstarker Protest der kirchlichen Würdenträger in Ungarn aus.

Der Papstbesuch

Während die öffentlichen Stellungnahmen dem Papstbesuch gegenüber freundlich gestimmt sind, wird hinter den Kulissen die kurze Aufenthaltsdauer von Franziskus in Ungarn – nur einige wenige Stunden – bedauert, insbesondere vor dem Hintergrund der unmittelbar anschließenden dreitätigen Visite in der Slowakei. Viele religiöse Ungarn fragen sich, warum der Papst sich nicht mehr Zeit für Ungarn nimmt. Den ursprünglichen Plänen zufolge war ein offizielles Zusammentreffen des Pontifex Maximus mit Staatspräsident Áder und Ministerpräsident Orbán angeblich gar nicht erst vorgesehen gewesen, dies änderte sich freilich. Der letzte Papstbesuch in Ungarn erfolgte noch 1996 durch Papst Johannes Paul II., der bekanntlich ein großer Freund der Ungarn war. Sicherlich gehört ein päpstlicher Besuch nicht zwingend zu den Grundpfeilern eines Eucharistischen Kongresses, dennoch hätte sich ein solcher Aufenthalt nach Ansicht vieler Katholiken für die Mission von Franziskus urbar machen lassen. Anhänger des Papstes sehen hier eine verpasste Chance, Gegner eine fein dosierte politische Note.

Wie dem auch sei, Budapest bereitet sich auf eine große spirituelle Zusammenkunft vor und möchte die schönen Erinnerungen aus dem Jahr 1938 nach 83 Jahren wiederaufleben lassen. Für den ungarischen Katholizismus ist der Kongress eine gute Möglichkeit, sich deutlich und klar zu artikulieren und desgleichen auf die religiöse Vielfalt des Landes hinzuweisen. Diese religiöse Vielfalt findet im Geistesleben des Landes ihre Entsprechung in der toleranten und liberalen Art der Akzeptanz anderer Glaubensgemeinschaften – allen voran des Judentums, das in Ungarn erkennbar stark und lebendig ist. Aber auch die nationale und kulturelle Vielseitigkeit des Landes mit seinen 13 anerkannten autochthonen Minderheiten, die im europäischen Vergleich vorbildliche Mitbestimmungsrechte genießen, zeigt sich als eine Erkennungsmarke des Landes. Dabei ist die wachsende und selbstbewusste ungarndeutsche Gemeinschaft mit einem eigenen Parlamentsabgeordneten ein symbolgeladenes und schönes Bild der guten tausendjährigen Beziehungen der christlichen Länder Deutschland und Ungarn. Auch dieses geistige Band zu stärken kann die Aufgabe der gläubigen Katholiken beider Länder sein. Die Chance dafür ist da!