Die deutsche Öffentlichkeit musste erst in diesem Jahr erstaunt feststellen, dass ein heftiger Streit um das Wahlsystem entbrannt ist, das dem deutschen Durchschnittswähler kaum bekannt sein dürfte. Anfang 2021 sind die Oppositionsparteien mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Reform des deutschen Wahlsystems vorgegangen. In diesem Artikel werden die Problemfelder, Dilemmata und Herausforderungen rund um das deutsche Wahlsystem aufgezeigt und die Frage untersucht, inwieweit es noch als Vorbild gelten kann.

Die Grundlagen des Wahlsystems

Wie hierzulande in Ungarn gilt auch in der Bundesrepublik ein allgemeines, direktes, freies, geheimes und gleiches Wahlsystem, das die Wahl des laut Gesetz 598 Mitglieder zählenden Bundestages regelt. Die Hälfte der 598 Abgeordneten werden in 299 Direktwahlkreisen gewählt – dabei handelt es sich um die Direktkandidaten – und die übrigen 299 Abgeordneten werden über Landeslisten der Parteien gewählt. Jedes Land hat genauso viele Direktkandidaten im Bundestag, wie ihm Plätze auf den Parteilisten zustehen. Über die Listen werden nur theoretisch 299 Abgeordnete gewählt, weil es praktisch keine Obergrenze gibt und genau diese Vorgabe führt zu immer heftigeren Diskussionen.

Auch in Deutschland sind Staatsangehörige von über 18 Jahren wahlberechtigt, allerdings ist das in der Bundesrepublik nur am Wahltag zwischen 8 und 18 Uhr möglich; wer an diesem Tag aus irgendwelchen Gründen verhindert ist beziehungsweise sich im Ausland aufhalten sollte, kann im Voraus die Briefwahl beantragen. Die Beliebtheit dieser Form der Stimmabgabe ist im Übrigen – insbesondere während der Pandemie – sprunghaft gestiegen. Im Ausland lebende Deutsche ohne Wohnsitz in der Bundesrepublik können ihre Stimme nach einer Registrierung abgeben, jedoch nur dann, wenn sie sich in den jeweils letzten 25 Jahren mindestens drei zusammenhängende Monate in Deutschland aufgehalten und einen offiziell gemeldeten Wohnsitz gehabt haben. Für die Wahllisten der in Deutschland lebenden autochthonen Minderheiten (wie Dänen, Friesen oder Sorben) gilt die für die Parteilisten sonst obligatorische 5%-Hürde nicht. Nach langer Zeit versucht just in diesem Jahr die Partei der südschleswigschen dänischen Minderheit, der SSW, über diesen Weg einen Abgeordneten in den Bundestag zu entsenden, und dafür stehen die Chancen gar nicht schlecht.

Erst- und Zweitstimme

Ähnlich wie in Ungarn haben Wähler bei der Bundestagswahl in Deutschland zwei Stimmen. Mit der Erststimme wählen sie im Bundeswahlkreis mit einfacher Mehrheit im einen Wahlgang den Abgeordneten ihres Wahlkreises, ihre Zweitstimme können sie auf die in den einzelnen Ländern aufgestellten Parteilisten abgeben. Im Gegensatz zu Ungarn ist das deutsche Wahlsystem nicht auf einem „Grabensystem“ aufgebaut, in dem Stimmen für die Einzelkandidaten von den Stimmen für die Liste sorgsam getrennt werden (dieses System wird in Ungarn im gewissen Umfang durch die Gewinner- und Verliererkompensation beeinflusst, jedoch bleibt es nach wie vor ein „Grabensystem“), sondern die beiden Stimmenwege sind miteinander verzahnt und das Endergebnis wird durch ein besonderes Verfahren ermittelt.

In der Fachliteratur wird das deutsche Wahlsystem als personalisiertes Verhältniswahlrecht bezeichnet, was für ein hybrides Wahlsystem steht. Grundsätzlich kommt hier zwar der Grundsatz der Proportionalität zum Tragen, allerdings angepasst durch die Erststimmen in den Wahlkreisen, die mitunter auch als Präferenzstimme für die Listenwahl interpretiert werden können. Über die Sitzverteilung im Plenarsaal entscheidet nämlich die Zweitstimme, weil sie über die Berechnungsweise im Zuordnungssystem von Sainte-Laguë/Schepers die Präsenz und Stärke der Parteien definiert. Dieses System der Mandatsverteilung wird im angelsächsischen Raum üblicherweise als Webster-Verfahren bezeichnet und beruht ähnlich wie das in Ungarn verwendeten System nach d’ Hondt auf einer Divisormethode.

Das Listenergebnis entscheidet allerdings ausschließlich über die Größe der einzelnen Fraktionen, ihre Zusammensetzung wird durch die Erststimme festgelegt. In diesem Sinne verrät uns die Person des gewählten bzw. nicht gewählten Kandidaten im Wahlkreis, wer von der Liste zum Schluss ein Abgeordnetenmandat in der Fraktion unserer bevorzugten Partei erhält. Dieses Verfahren kann man auch als Präferenzabstimmung auslegen, allerdings nicht in der Form wie bspw. in der Tschechischen Republik oder in der Slowakei, wo sich der Wähler seinen Abgeordneten aus der Parteiliste herauspicken kann, wobei einzelne Kandidaten mit der abgegebenen Stimme auf der Parteiliste aufsteigen, sondern durch die Stimmabgabe für die Direktkandidaten.

Wie wichtig das Ergebnis der Direktwahlkreise auch aus anderer Hinsicht ist, verdeutlicht die so genannte Grundmandatsklausel, die selbst Wahlexperten nur alle Lichtjahre zu Ohren kommen mag. Diese Klausel besagt nämlich, dass selbst Parteien, die an der 5%-Hürde gescheitert sind, durch das Ergebnis der Parteilisten in den Bundestag kommen, wenn ihre Direktkandidaten in mindestens drei Wahlbezirken gewinnen können.

Das ist die Ursache dafür, dass obwohl zum Beispiel die bayerische Christlich-Soziale Union (CSU) der 5%-Hürde gefährlich nahekommt (bei der Bundestagswahl 2017 hat sie deutschlandweit 6% bekommen), da sie aber in der Regel alle 46 der Direktwahlkreise im Freistaat Bayern gewinnt, ist es praktisch unmöglich, dass die CSU nicht in den Bundestag kommt, selbst wenn sie an der 5%-Hürde scheitern würde.

Aber die CSU gewinnt sowieso sämtliche Mandate über die Direktkandidaten und daher ist es für sie praktisch gar nicht relevant, auf welches Ergebnis die Parteiliste kommt. 1994 wäre auch die postkommunistische PDS mit einem gesamtdeutschen Listenergebnis von 4,4% just nicht in den Bundestag gekommen, aber weil sie in drei Wahlbezirken Ostberlins gewann, erhielt sie eine Vertretung im Bundestag, die ihrem Stimmenanteil von 4,4% entsprach. 2017 wäre auch die AfD mit drei Direktmandaten in Sachsen zu einem Faktor im Bundestag aufgestiegen, wenn sie sonst an der 5%-Hürde gescheitert wäre (dabei sollten wir aber eingestehen, dass sie mit einem Ergebnis von 12,6% ganz weit davon entfernt war). Diese Regelung begünstigt politische Formationen mit einer tiefen regionalen Verwurzelung und bringt eine gewisse Mehrheitskomponente in das Verhältniswahlsystem.

Stimmenverflechtung

Was ist aber das wirklich besondere an diesem Wahlsystem und was führt heutzutage zu den heftigen Streitigkeiten und Problemen? Die gesetzlich festgelegte Zahl von 598 Bundestagsabgeordneten wird jeweils zur Hälfte in den Wahlkreisen, respektive über die Landeslisten der Parteien gewählt – so zumindest die Theorie. In der Praxis haben sich diese Verhältnisse völlig verändert: der aktuelle Bundestag besteht bereits aus 709 Abgeordneten. 299 wurden in 299 Wahlkreisen mit einfacher Mehrheit gewählt, jedoch sitzen darüber hinaus noch weitere 410 MdBs vermittels der Listen im Bundestag. Wie ist das überhaupt möglich? Die Antwort liegt in den Eigenheiten des Wahlsystems, und das ist ein derart hochkomplexes System, dass sie in dieser Hinsicht vielleicht sogar das als kompliziert geltende ungarische Wahlrecht übertrumpft.

Wie wir gesehen haben kommt bei der Mandatsverteilung ausschließlich das proportionale Ergebnis der Parteilisten zum Tragen und in den Wahlkreisen direkt gewählte Abgeordnete ändern grundsätzlich nichts an diesem Verhältniswahlrecht, haben jedoch trotzdem Einfluss darauf. Auf welche Weise? Das Verständnis für dies Rätsel liegt darin, das Denkmuster des Grabenwahlrechts aufzugeben. Die beiden abgegebenen Stimmen werden nämlich nicht voneinander getrennt, sie stehen vielmehr in einer ganz besonderen Wechselwirkung zueinander. Die Besonderheit liegt genau darin, dass es zwar eine Mehrheitskomponente gibt (mit dem Wahlsieger in den Direktwahlkreisen), die aber von der proportionalen Komponente (der Stimmabgabe für die Parteilisten) völlig ausgehebelt wird. Die Anzahl der Bundestagsabgeordneten wird nämlich ausschließlich durch das Ergebnis über die Parteilisten bestimmt, allerdings nicht nur im Hinblick auf die Abgeordnetenmandate über die Parteilisten, sondern auch für die Anzahl der Abgeordneten insgesamt, das heißt auch einschließlich der Direktwahlmandate. Praktisch wird in jedem Land das jeweilige Ergebnis der Parteilistenwahl ermittelt, davon die von der jeweiligen Partei in diesem Land bereits gewonnenen Direktmandate in Abzug gestellt und die Restanzahl ist der Anzahl Mandaten, die aufgrund der Landeslisten noch verteilt werden können. Wenn jedoch keine übrigbleiben, erschließt sich für uns ein neuer Problembereich: dieses Phänomen wird als Überhangmandat bezeichnet ist mitunter die komplizierteste Komponente des deutschen Wahlrechts

Überhangmandate

Dieses Phänomen lässt sich am Beispiel Baden-Württembergs gut verdeutlichen. Für dieses Bundesland gibt es im Deutschen Bundestag 76 Mandate und über diese Mandate stimmen die wahlberechtigten Bürger bei der Bundestagswahl ab. 38 dieser 76 Mandate sind Direktmandate, weil es diese Anzahl von Wahlkreisen gibt und natürlich auch 38 Mandate über die Parteilisten. Die CDU hat bei der bisher letzten Wahl ein Ergebnis von 34,4% der Zweitstimmen in Baden-Württemberg erzielt und die zweitplatzierte SPD weit abgehängt. In Baden-Württemberg gibt es einige für die CDU stärkere und auch einige schwächere Wahlkreise, jedoch war dieser Wählerzuspruch (und der verhältnismäßig große Abstand zum Zweitplatzierten) ausreichend, in allen 38 Wahlkreisen des Bundeslandes zu gewinnen, das heißt die CDU konnte überall mit ihren Direktkandidten die Wahl gewinnen. Damit hat sie aber auf einen Schlag die Hälfte der 76 Bundestagssitze für Baden-Württemberg, nämlich 38 (sämtliche Direktmandate), eingeheimst. Aber mit dem Listenergebnis von 34,4% der Zweitstimmen würden der CDU nur 34,4% aller Bundestagssitze für Baden-Württemberg (78 an der Zahl) zustehen, das etwa 27. Ein Mandat über die Parteiliste kann die CDU in diesem Fall überhaupt nicht erhalten, weil sie mit dem Wahlergebnis sozusagen übermäßig gewonnen hat (wobei natürlich viele Baden-Württemberger bei einem CDU-Ergebnis von 34% Einspruch gegen den Ausdruck „übermäßig gewonnen“ einlegen würden).

Sollte eine Partei sämtliche Direktmandate erhalten, würde sie über die Parteiliste nur dann Mandate erhalten, wenn sie über 50% der Zweitstimmen erhielte. Das ist im heutigen Deutschland utopisch, das gelingt nicht einmal der CSU in Bayern. Mit anderen Worten ist es völlig egal, ob eine verhältnismäßig starke, erstplatzierte Partei, die alle Direktmandate gewinnt (die aber wiederum kein Ergebnis von über 50% aufzeigen kann) 49, 40, 30, 20, 10 oder gar nur ein einziges Prozent über die Parteiliste in diesem Land erhält.

Dieses Phänomen kann natürlich auch dann entstehen, wenn eine Partei nicht alle Direktmandate erhält, sondern nur Mandate in mehr Wahlkreisen gewinnt, als ihr nach dem Listenergebnis zustehen würde. Gewinnt sie die Hälfte der Direktwahlkreise, entstehen bereits Überhangsmandate, wenn sie nicht mindestens 25% der Zweitstimmen erhält. Mit der Hälfte der Direktwahlkreise hat sie nämlich einen Viertel aller verfügbaren Mandate gewonnen, das heißt mit einem Ergebnis von 25% exakt das gewonnen, was ihr „zusteht“. Wenn die Partei 80% der Direktmandate gewinnen sollte, liegt die Obergrenze für die Liste bei 40% und wenn sie alle gewinnt, dann bei 50%. Sollte das Ergebnis über die Parteiliste höher ausfallen, so erhält sie auch Listenplätze, wenn es aber niedriger ausfällt, tritt das System der Überhangmandate ein. Als Faustregel gilt, dass es dann Überhangmandate geben wird, wenn das prozentuale Ergebnis der Zweitstimmen nicht an die Hälfte des Anteils an den Direktmandaten aus den Wahlbezirken des jeweiligen Landes herankommt (weil die Parteien die Hälfte aller Mandate in den Wahlbezirken gewinnen können). In diesem Fall gilt der Satz: „die Partei hat mehr gewonnen, als ihr zustehen würde“.

Das ist für uns ein völlig überraschendes Ergebnis und man kann wohl voraussagen, dass dieser wirklich widersprüchliche Zustand auch vielen deutschen Wählern nicht bewusst geworden ist. In Baden-Württemberg wiederum ist diese Situation seit Jahren der Fall und die engagierten, hochgeschickten Unterstützer der CDU, die nicht nur in der Politik, sondern auch der Zahlenmystik bewandert sind, haben auf völlig logische Weise ihre Zweitstimmen immer dem potenziellen Koalitionspartner, der FDP, gegeben. Diese merkwürdige Situation besteht seit Langem auch in den Freistaaten Sachsen und Bayern.

Aber was passiert denn konkret mit den CDU-Mandaten in diesem Wahlsystem? Nach der Verhältniswahl stehen der Partei 27 Mandate zu, sie hat aber schon 38 gewonnen. Was kann man in einer solchen Lage tun? Die Differenz zwischen 38 und 27, das heißt neun Bundestagsmandate wegnehmen? Neu wählen lassen? Die Lösung ist derart typisch deutsch, das es kaum überrascht. Sie kann ganz einfach die neun Mandate behalten. Das war die Vorgehensweise über viele Jahrzehnte und hat auch nicht viel Staub aufgewirbelt. Die Grundlage des Systems lag nämlich darin, dass bei zwei großen Parteien derartige Fälle kaum häufig vorkommen dürften und dass ihre Stimmenanteile derart nah beieinanderlagen, dass das politische Feld ausgeglichen war und eine Partei kaum sämtliche Direktmandate in einem Bundesland gewinnen konnte. Und das ganze System steht endgültig Kopf, wenn eine politische Kraft mit einem Stimmenanteil von 34% sämtliche Direktwahlkreise holen sollte. Und warum das ganze passieren kann? Das ist ausschließlich dem geschuldet, dass die deutsche Parteienlandschaft nicht mehr wie früher bipolar ist und dass der Zweitplatzierte derart stark abgeschlagen vom Wahlsieger ist, dass dieser die Direktwahlkreise mit einem verhältnismäßig schwachen Ergebnis allesamt einheimsen kann. Bei der Bundestagswahl 2017 haben die Unionsparteien zwar um mehr als acht Prozentpunkte schwächer als 2013 abgeschnitten, konnten aber trotzdem in fast genauso vielen Wahlkreisen gewinnen. Damit errangen sie 231 Direktmandate (2013 waren es 236).

Das Wahlergebnis 2017 zeigt deutlich: die CDU hat 185 Direktmandate gewonnen und lediglich 15 Abgeordnete über Listenplätze in den Bundestag entsenden können. Die bayerische CSU hat mit 46 Direktwahlbezirken alles abgeräumt und konnte niemanden über die Parteiliste nach Berlin entsenden. Damit ist die Nummer eins auf der Liste chancenlos! Die Logik dieser Besonderheit liegt auf jeden Fall darin, dass die starke Partei eine verhältnismäßig größere Präsenz bekommt – und die Überhangmandate natürlich behält, wobei der deutsche Verhältnisgrundsatz geschwächt wird und eine wesentlich markantere Mehrheitskomponente zum Tragen kommt, wenn auch immer noch stark eingeschränkt.

Und um die Sache weiter auf die Spitze zu treiben, gilt es festzustellen, dass das hier beschriebene Beispiel aus Baden-Württemberg und dem Freistaat Bayern sich für die CDU im Jahre 2017 in weiteren neun Bundesländern wiederholt hat. Von den insgesamt ca. 15,3 Millionen Stimmen für die CDU/CSU haben etwa 9,8 Millionen Stimmen zu keinem Mandat über die Parteilisten geführt. Neben Baden-Württemberg (und im Falle der CSU im Freistaat Bayern) konnten die Unionsparteien in folgenden Bundesländern ausschließlich Abgeordnete über Direktmandate in den Bundestag entsenden: Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Die knappen 15 Listenplätze kamen neben den drei Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen aus Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Das Bild wird ein wenig dadurch getrübt, dass bei einem Mandatsverlust eines direkt gewählten Bundestagsabgeordneten (im Todesfall oder bei Mandatsniederlegung) keine Nachwahl im betreffenden Wahlkreis stattfindet, sondern jemand anderes über die Liste in den Bundestag einzieht. Jedoch hat dies kaum einen wirklichen Einfluss auf die Eigenheiten und Widersprüche rund um das Wahlsystem.

Die Überhangmandate, deren Anzahl historisch immer zwischen einem und sechs lag, gelangten erstmals 1994 in den Mittelpunkt des Interesses und in die öffentliche Diskussion. In diesem Jahr schaffte Bundeskanzler Helmut Kohl die Wiederwahl lediglich mit einer Mehrheit von zehn Mandaten, wobei die CDU/CSU zwölf Überhangmandate gewonnen hat. Bevor in uns das Bild entstehen würde, dass der Kanzler der deutschen Einheit nur diese Besonderheit zu der bis 1998 andauernden Kanzlerschaft verholfen hätte, muss auch festgestellt werden, dass auch die oppositionelle SPD vier solcher Überhangsmandate gewann, das heißt die in der Differenz acht Extramandate keine Kanzlermehrheit für die CDU/CSU bedeuteten. Kohl hätte ohne das System der Überhangmandate eine Mehrheit von zwei Abgeordneten gehabt – dabei sollten wir eingestehen, dass das nicht reichlich viel gewesen wäre. Wie auch immer; diese Besonderheit des deutschen Wahlrechts uferte immer weiter aus: 2009 lag die Zahl der Überhangmandate bei 24, im Jahre 2017 jedoch schon bei 46.

Kompensation

Ein bestehenden Problem so zu beheben, dass zum Schluss ein noch größeres Problem entsteht – so ließen sich die 2011 eingeführten Neuerungen am treffendsten beschreiben, die eine neue Epoche eingeläutet und dazu geführt haben, dass der 2017 gewählte Bundestag über nunmehr 709 Abgeordnete verfügt. Einige Analysten sind der Ansicht, dass es ganz und gar nicht mehr ausgeschlossen ist, dass 2021 der Bundestag bereits aus bis zu 800 Mitgliedern bestehen kann, dazu später aber mehr. 2011 haben nämlich die SPD und die Grünen wegen des Systems der Überhangmandate das Bundesverfassungsgericht angerufen. Sie haben beanstandet, dass sämtliche der bei der Bundestagswahl 2009 anfallenden 24 Überhangmandate der CDU/CSU zugutekamen und damit die Union unter Verletzung des proportionalen deutschen Wahlsystems einen großen Vorteil erlangt hätte. Das Bundesverfassungsgericht urteilte im Sommer 2012 dann auch, dass das System der Überhangmandate dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wie auch dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht, zuwiderläuft, sofern Überhangsmandate in der Größe etwa einer halben Fraktion entstehen. Der Gesetzgeber musste schnell reagieren und man hat einfach entschieden, dass sämtliche Überhangmandate in voller Gänze zu kompensieren seien. Das führt zu einer derartigen Vergrößerung des Bundestages, denn der Bundestag muss so lange mit weiteren Listenmandaten aufgefüllt werden, bis völlige Proportionalität entsteht. Um beim Beispiel Baden-Württemberg zu bleiben heißt das, dass 2017 die ansonsten 38 Listenplätze soweit aufgestockt werden mussten, bis der Anteil der CDU mit ihren 38 Direktmandaten 34,4% aller Mandate (dem Listenergebnis) entspricht. Schließlich wurden die 38 Listenmandate um zusätzliche 20 Listenplätze ergänzt, sodass insgesamt 96 Mandate entstanden sind (38 Direktmandate und 58 Listenmandate). Das ist analog in allen Bundesländern passiert, in denen Überhangmandate entstanden sind. Deutschlandweit gab es 46 solcher Überhangmandate, die wiederum mit 65 Mandaten ausgeglichen wurden, sodass der Bundestag mit normalerweise 598 Abgeordneten um 111 Mandate auf 709 MdBs angewachsen ist.

Verzweifelte Reformversuche

Das System der Überhang- und Ausgleichsmandate könnte sich in Anbetracht der politischen Entwicklungen leicht auch soweit entwickeln, dass sich nach den Bundestagswahlen 2021 ein Bundestag mit bis zu 800 Abgeordneten konstituieren könnte. Daher ist eine Wahlreform notwendig geworden, die am 19. November 2020 in Kraft getreten ist.

Die große Koalition aus CDU/CSU und SPD hat für das Gesetz gestimmt, das erstmals bei den Wahlen 2021 für die Überhangmandate anzuwenden ist. Dieses Gesetz besagt, dass in allen Bundesländern drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden, beziehungsweise dass nach dem Jahre 2024 die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 zu reduzieren ist. Damit wird versucht, die überbordende Zahl von Bundestagsabgeordneten zu verkleinern. Die Reform wurde vielfach nur als „Reförmchen“ bezeichnet und einzelne Analysten haben darauf hingewiesen, dass eine umfassende Neuregulierung notwendig wäre. Das Gesetz wurde jedenfalls von der oppositionellen FDP, den Grünen und der Linken angegriffen und zurzeit ist ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig. Die Chance besteht, dass das Gericht noch vor den für den 26. September 2021 angesetzten Bundestagswahlen die Reform für verfassungswidrig erklärt, was wiederum die früher geltende Regelung wiederherstellen würde. Dies würde wiederum Fragen nach sich ziehen, jedoch eindeutig machen, dass so bald wie möglich eine Entscheidung des Gesetzgebers erforderlich wäre – allerdings wäre das nach gängiger Meinung bereits Sache des neuen Bundestags in der im Herbst beginnenden 20. Legislaturperiode.

Bezeichnend ist übrigens auch, dass die drei Kläger zusammen auch noch einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, der einen Bundestag mit 630 Mandanten vorsieht, von denen 250 Direktmandate und 380 Listenmandate wären. Natürlich begünstigen die proportionalen Komponenten, das heißt die Listenplätze, alle kleinere Parteien, allerdings wird allmählich auch fraglich, ob denn die Grünen noch überhaupt eine kleine Partei sind und wie sie sich selbst positionieren. Die Formation, die in der 19. Legislaturperiode (von 2017 bis 2021) noch über die kleinste Fraktion verfügte, kann im nächsten Bundestag mitunter durchaus auch stärkste Partei werden oder auch „nur“ zweite; sie wird aber in Zukunft in einer anderen Liga spielen. Und natürlich ist es ganz und gar nicht ausgeschlossen, dass sie mit einem Stimmenanteil von 20 bis 25% insbesondere in ihren Hochburgen in Baden-Württemberg selbst Nutznießer des Systems der Überhangmandate wird.

Die AfD hat ebenfalls einen Gesetzentwurf eingebracht, das bei der Abstimmung für die Parteiliste drei Präferenzstimmen vorsieht, beziehungsweise den verhältnismäßig schlechter abschneidenden Wahlsiegern der einzelnen Parteien in den Direktwahlkreisen kein Mandat zusprechen würde. Typischerweise wollten bestimmte Seiten dieses gesamte Dilemma des Wahlsystems selbst dadurch beheben, indem ein Grabensystem eingeführt werden sollte, bei dem über 299 Mandate in den einzelnen Wahlkreisen entscheiden worden würde und davon völlig unabhängig 299 Listenmandate verteilt würden. Hierbei wären jeglicher Überhang und jegliche Kompensation gegenstandslos geworden. Bei einem derartigen System hätte die CDU/CSU in einem 598-köpfigen Bundestag 335 Mandate erhalten, was einer glatten absoluten Mehrheit entspräche. Daher ist es kaum überraschend, wer hinter dem Vorschlag stand: es war die Idee von 24 Abgeordneten der Unionsparteien. Diese vernünftige und revolutionär einfache Idee ist wiederum kaum mehrheitsfähig, und zwar weder jetzt, noch in Zukunft.

Zusammenfassung und Ausblick

Die „kleine Reform“ und natürlich die verworfenen Vorschläge der Opposition und der Unionsparteien weisen wieder auf die Notwendigkeit hin, dass das Wahlsystem in der Bundesrepublik grundsätzlich neu zu regeln wäre.

Deutschland ist allerdings nicht das Land der groß angelegten Neuerungen, sodass eher eine Politik der kleinen Schritte erfolgt und am bestehenden System notbehelfsmäßig weiter Flickschusterei betrieben wird. Das im Übrigen mit einer hälftigen Mehrheit zu verabschiedende deutsche Wahlgesetz kann in Zukunft von Koalitionsparteien geändert werden, die sich von einer Reform ein sehr ähnliches Ergebnis versprechen. Das ist bei zwei fast gleich starken Parteien nicht ausgeschlossen und eine derartige Konstellation könnte im Fall einer Regierungsmehrheit der Unionsparteien mit den Grünen mitunter zu einem realistischen Szenario werden. Jedoch sollten wir nicht so weit vorgreifen. Die erste Große Koalition aus CDU/CSU und SPD, die bis 1969 an der Regierung war, hat sich an einem Mehrheitssystem versucht. Dieser Versuch ist desaströs ausgegangen: die SPD stieg unerwartet aus dem Projekt aus, überließ die CDU/CSU sich selbst und mit diesem Zug konnte die SPD die um ihre Existenz fürchtende FDP an ihre Seite locken; dadurch entstand die sozialliberale Regierung, die 13 Jahre hielt. Ein eventueller Mehrparteienkonsens wäre jedoch im heutigen zersplitterten und ab Herbst wohl aus sieben (oder gar aus acht) Parteien bestehenden Bundestag wegen der Vielzahl unterschiedlicher Interessen wohl kaum möglich.

Es ist immer von Nutzen, die Systeme, Vorgehensweisen und politischen Diskussionen anderer Länder in ihren Einzelheiten kennen zu lernen, um Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Ländern zu erkennen, dadurch gegenseitiges Verständnis und Zusammenarbeit befördernd. Die Zersplitterung der politischen Landschaft in Deutschland (viele sprechen von regenbogenfarbenen Koalitionsverhältnissen) vereitelten jedes entschlossene Reformkonzept bereits im Ansatz, infolge dessen ist eine komplett andere Art politischer Gestaltungsarbeit erforderlich, als beispielsweise in Ungarn. Auch das Beispiel des deutschen Wahlrechts zeigt auf, weshalb das ungarische Wahlrecht auch im internationalen Vergleich als ein wohlüberlegtes und funktionsfähiges System gelten kann.