Die Europäische Union steht vor einer Zeitenwende. Dieses Gefühl liegt vielerorts unterschwellig in der Luft. Gerade in Deutschland, das im vergangenen Herbst ein neues Parlament und damit eine neue Regierung gewählt hat, stellt sich die Frage, wie diese neue Ära gestaltet werden wird. Wie wird der Paradigmenwechsel in Zukunft aussehen? Diese Frage beschäftigte Dr. Klaus-Rüdiger Mai, Gastprofessor des MCCs, in seinem Vortrag am 26. April 2022 im Bildungszentrum Debrecen zum Thema „Die Große Transformation: Ist eine Reform des Kapitalismus notwendig?“. Mai, Autor zahlreicher historischer Romane, Biografien und Sachbücher, publiziert unter anderem bei der Neuen Zürcher Zeitung, dem Cicero und Tichys Einblick.
Den Vortrag mit anschließender Publikumsdiskussion unter Moderation von Márton Böhm begann Klaus-Rüdiger Mai vor gut gefülltem Publikum von über 30 Leuten mit einem Exkurs in die Vergangenheit. Als Impulsgeber für den Veranstaltungstitel rekurrierte er auf den österreichisch-ungarischen Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi und sein berühmtes Werk „Die große Transformation“. In diesem sprach er über das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft, in der das Primat der Politik vor der Wirtschaft gelten solle. Allerdings habe die Wirtschaft dieses Primat übernommen, was falsch sei, denn die Wirtschaft müsse wieder der Gesellschaft dienen. Dieser Gedanke der Großen Transformation erlangte in den 2010er-Jahren wieder Konjunktur, da er eine Relevanz für die heutigen großen gesellschaftsverändernden Prozesse entwickelte. Nach diesem Einstieg referierte Mai über das Konzept der Paradigmenwechsel, große Umbrüche des Wohlstands und Fortschritts, wie beispielsweise der Übergang von der Antike zum Mittelalter und vom Mittelalter zur Neuzeit. Nun stelle sich die Frage, ob wir erneut in so einem Paradigmenwechsel leben würden, in Angesicht von Phänomenen wie der Digitalisierung, die uns eine völlig neue Welt eröffne. Es stelle sich die Frage, wie die Menschen mit diesem Paradigmenwechsel umgehen sollten. So gebe es zwei Möglichkeiten: Einmal, bewährte Strukturen zu behalten und anzupassen an Werte und Traditionen sowie sie auf deren Basis fortzuentwickeln. Andererseits, die Strukturen gänzlich und grundsätzlich zu verändern.
In letzterem Trend erwähnte Mai die Rede Angela Merkels in Davos, auf der sie von völlig neuen Wertschöpfungsformen sprach und dass man in 30 Jahren die alten Systeme gänzlich verlassen würde. Auch die Corona-Pandemie stelle das „alte“ Wirtschaftssystem laut dem deutschen Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck in Frage, da man die Wirtschaft aus ethischen Gründen herunterfahren müsse. Der freie Markt sei wichtig, aber nur wenn er vom Staat in die richtige Richtung gelenkt werde. Es stellte sich die Frage, ob dies eine Rückkehr zum Vorrang der Gesellschaft vor der Wirtschaft bedeuten würde. Mai widersprach dieser These ausdrücklich, da dies eher eine Rückkehr zur Staatswirtschaft nach Vorbild Stalins darstellen würde. Es sei falsch, das Krisentheorem anzunehmen, dass der Kapitalismus Krisen erzeuge. Vielmehr seien Krisen gerade der Motor des Kapitalismus, nicht pathologisch, sondern dynamisch. Kurzum: das Prinzip des Fortschritts.
So sei die alte politische Aufteilung in links und rechts mittlerweile überholt. Entscheidend sei die Frage, ob man an die Herstellbarkeit einer idealen Gesellschaft glaube, der Gegensatz zwischen Utopisten und Realisten also. In Deutschland sei der utopistische Ansatz dominant mit seiner Reformvorstellung einer klimaneutralen Gesellschaft. Mai betonte jedoch abschließend, dass der freie Markt wichtig sei, man ihn aber sozial einhegen müsse, denn Ausgleich gehöre zur Marktfreiheit dazu. Gerade dies sei das bewährte deutsche Konzept der sozialen Marktwirtschaft. Nur diese schaffe die nötige Balance zwischen Wohlstand und Sicherheit, Wirtschaft und Gesellschaft. Eine radikale Reform des Kapitalismus brauche es dafür nicht.
Die Veranstaltung wurde beschlossen von einer angeregten Diskussion und interessierten Fragen aus dem Publikum zu den Themen der Arbeitsbilanz der neuen Koalition, der einschneidenden Rolle des Ukraine-Krieges und den skandinavischen und chinesischen Gesellschaftssystemen als potenzielle Alternativen. In Hinblick auf die zukünftigen Herausforderungen der sozialen Marktwirtschaft auf der Welt betonte Mai insbesondere die Rolle der Bildung. Auch zur deutschen konservativen Repräsentationslücke, der Möglichkeit autoritärer Gefahren in Europa, den Einflussmöglichkeiten Deutschlands und der gesellschaftlichen Haltung zur grünen Energiepolitik wurden rege Fragen gestellt. Ein gemeinsamer Austausch mit den Studenten nach der Veranstaltung beschloss den gelungenen Abend.