Im vergangenen Herbst wählte Deutschland eine neue Regierung um Bundeskanzler Olaf Scholz, mit deren Amtsantritt 16 Jahre Merkel-Ära unter der Führung der CDU/CSU zu Ende gingen. Die neue Ampel-Koalition aus SPD, FDP und Grünen nahm sich eine Reihe umfassender gesellschaftlicher Projekte vor, wurde jedoch bereits zu Beginn ihrer Amtszeit vor eine kursändernde weltpolitische Krise gestellt. Nach mittlerweile über 100 Tagen neuer Regierung war es Zeit, Dr. Klaus-Rüdiger Mai, Gastprofessor des MCCs ans Bildungszentrum Szekszárd einzuladen, um in einem Vortrag die erste Phase der Regierung Scholz zu resümieren und in die Zukunft Deutschlands aber auch der deutsch-ungarischen Beziehungen zu blicken.

 

Nach dem gemeinsamen Mittagessen in einem traditionellen Lokal bei örtlichem Wein, konnte Mai sich im Gespräch mit dem Bürgermeister Rezső Ács und György Krémer von der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen die Kommunalpolitik, sowie die Wirtschaft und Landwirtschaft, die kulturelle Entwicklung der Region und die Erfahrungen aus der Transformationszeit informieren. In der anschließenden Stadtführung bekam er unter anderem Einblicke in das Kulturzentrum Mihály Babits, wobei er den ungarndeutschen Direktor Attila Berlinger kennenlernte, welcher über das reichhaltige Kunst-, Kultur- und Vereinsleben der Komitatsstadt berichtete. Abgerundet wurde der Rundgang durch die Besichtigung der Deutschen Bühne Ungarn, dem deutschen Theater, gemeinsam mit der Direktorin Katalin Lotz.

Den anschließenden Vortrag am MCC Szekszárd begann Dr. Klaus-Rüdiger Mai vor gut gefülltem Publikum von 40 Leuten mit der Frage nach der kulturellen Identität Deutschlands, die er als negatives Selbstempfinden hervorhob. In einigen Thesen zeichnete er die Eckpunkte der alten Merkel-Politik nach, die er als asymmetrische Demobilisierung, also der Übernahme gegnerischer Themen, beschrieb, was allerdings zum Identitätsverlust und Wandlung der Identität der deutschen Konservativen geführt habe. Darüber hinaus widmete er sich Cancel Culture, Deplatforming und Armaggedonargumenten, mit denen der sachlichen Debatte mit Szenarien der Alternativlosigkeit der Boden entzogen werde.

Im Hinblick auf die neue Regierung referierte Mai über den Wandel von der sozialen Marktwirtschaft zur ökologischen Marktwirtschaft, welche problematische Einschnitte in die Bürgerrechte und den Artenschutz sowie eine Energieabhängigkeit von russischem Gas mit sich bringen würde. Im Rahmen des Gesellschaftskonzeptes der neuen Regierung kam er überdies auf das „sexuelle Selbstbestimmungsgesetz“ im Kontrast mit dem ungarischen Kinderschutzgesetz und die Immobilienpolitik zu sprechen.

Der Krieg in der Ukraine und seine einschneidenden Folgen nahmen einen abschließenden zentralen Teil des Vortrags ein, der der Regierung einen Realitätsschock verpasst habe und die katastrophale Situation der Bundeswehr herausgestellt hatte. Grundsätzlich seien hier Parallelen zur ungarischen Russlandpolitik festzustellen. Ob ein Umdenken in der akuten Krise stattfinden könne, hänge davon ab, ob sich die neue Regierung nun für eine realistische Politik oder eine parteiideologische Politik entscheiden würde. Dies müsse die Zukunft zeigen.

An den Vortrag schloß sich eine spannende Diskussion an, die von Tünde Darkó, Projektassistentin unseres Institutes und Kristóf Schlegl, Praktikant des Institutes moderiert wurde. Die regen Fragen der Moderatoren und aus dem Publikum behandelten die Lebensfähigkeit der Koalition, die Zukunft der CDU und der Christdemokratie unter Friedrich Merz, die Familienpolitik und die EU, interessengeleitete versus wertegeleitete Außenpolitik sowie das NordStream 2-Projekt.

In Erinnerung an das Jubiläum des deutsch-ungarischen Freundschaftsvertrages wurde die immer noch hohe Wertschätzung Ungarns und der ungarischen Leistungen für Deutschland vor allem in Ostdeutschland betont. Mai hob die historische Dynamik der beiden Staaten und seinen Wunsch nach einer Förderung der Kulturlandschaft Mitteleuropa hervor. Was Deutschland benötige, sei eine Wiedergeburt des liberalen Konservatismus, der aus allen drei großen politischen Ideologien die Gedanken von Sozialem, Freiheit und Herkunft hochhalte. Man müsse Abschied nehmen von den Utopien und zurückkehren zum Realismus. Hier könne man noch viel von Ungarn lernen.