Prof. Dr. Hans-Christof Kraus ist ein deutscher Historiker und Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Passau. Zwischen dem 19. und dem 21. März war er zu Gast am Deutsch-Ungarischen Institut für Europäische Zusammenarbeit. Kraus beschäftigt sich in seinen Forschungen besonders mit Geopolitik und der neueren deutschen und englischen Verfassungsgeschichte. Im Rahmen seines Aufenthaltes fanden Gespräche mit einer Reihe von bedeutenden Historikern, Juristen und Diplomaten sowie anderen Vertretern der ungarischen Zivilgesellschaft statt.
Am Mittwoch, den 20. März, hielt Kraus im Budapester Hauptgebäude des Mathias Corvinus Collegiums einen Vortrag zum Thema „Ende der Illusionen – Weltpolitische Veränderungen seit 1990“. Der abendlichen Präsentation mit anschließender Podiumsdiskussion, die wie üblich im Scruton Café stattfand, wurde von rund 50 Gästen besucht. Nach einigen einleitenden Worten durch den Institutsdirektor Bence Bauer übergab dieser Prof. Dr. Michael Sommer das Wort. Sommer ist Professor für Alte Geschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg moderierte den Abend.
Kraus setzte mit einem kurzen Überblick über die jüngere globale Geschichte an. Ihm zufolge war die Wende um 1990 der dritte der drei großen Wendepunkte des 20. Jahrhunderts, wobei es sich bei den anderen beiden um die Umgestaltungen der jeweiligen Siegermächte nach den zwei großen Kriegen gehandelt habe. Der Fall der Sowjetunion, die friedliche und westlich dominierte Wiedervereinigung Deutschlands sowie die Ostausdehnung der Europäischen Union seien unbestrittene Merkmale eines Sieges des Westens, darin sei sich fast jeder einig.
Allerdings habe sich aus der resultierenden Euphorie über diesen Sieg in weitreichenden Kreisen die Vorstellung etabliert, dass es sich dabei um einen endgültigen Sieg des westlichen Systems handele – um ein „Ende der Geschichte“, wie es Francis Fukuyama in seinem gleichnamigen Buch formuliert habe. Dies sei Kraus zufolge ein Irrglaube und habe über die letzten drei Jahrzehnte zu einigen gravierenden Fehlern in der westlichen Außenpolitik geführt, welche die Absicherung der unmittelbaren und fernen Zukunft Europas und des Westens nachhaltig geschädigt haben.
Von einer mangelhaften Integration Russlands in die internationale Handels- und Verteidigungsgemeinschaft – welche Kraus zufolge das Erstarken eines russischen Neoimperialismus begünstigte – bis hin zum Aufstieg Chinas und des politischen Islams, habe man es in zahlreichen Einzelfällen versäumt, aufkommenden Gefahren und Mächten mit der notwendigen Ernsthaftigkeit entgegenzutreten.
Stattdessen habe man sich auf einer illusorischen Vorstellung westlicher Überlegenheit ausgeruht. Diese jahrzehntelange Wunschvorstellung von einem westlichen Universalismus räche sich nun in Form globaler Instabilität, wobei der Ukraine-Krieg nicht mehr als eines der ersten Symptome des wiedererstarkten Wettstreites um die globale Vorherrschaft darstelle. Kraus sieht ernstzunehmende Parallelen zu den Vorkriegszeiten der 1900er oder 1930er Jahre und schlussfolgerte, dass eine Eskalation der jetzigen Spannungen mit der Zeit immer wahrscheinlicher werden und auch ein weiterer Weltkrieg schon lange nicht mehr undenkbar sei.
In der anschließenden Fragerunde wurde die Frage nach dem Umgang mit diesen Gefahren weiter vertieft. So wurde unter anderem gefragt, wie Bismarck die heutige Situation wohl angegangen wäre und wie man mit der zusehends dysfunktionalen regelbasierten Weltordnung umgehen solle. In diesem Zusammenhang merkte der ehemalige ungarische Verteidigungsminister Dr. Csaba Hende an, dass die ungarische Regierung bereits 2015 einen weitreichenden Wiederaufbau der eigenen Verteidigungskapazitäten angeordnet habe und sich damit bereits frühzeitig einer veränderten Weltlage angepasst habe.
In einer zunehmend multipolaren Weltordnung sei es essenziell, so Prof. Dr. Kraus, dass man die Idee eines Ausgleichs verschiedener Interessensphären wieder aufgreife und dabei neben der Souveränität kleinerer Staaten auch die unterschiedlichen Großraum-Vorstellungen der aufstrebenden und etablierten Mächte berücksichtigen müsse. So habe auch Bismarck, nachdem er das Deutsche Reich als Staat etabliert hatte, vor allem auf die Wahrung von Frieden und Gleichgewicht gebaut, um eine Katastrophe, wie diese dann später in Form des Ersten Weltkriegs eintrat, zu vermeiden.