Reinhard Merkel, Professor Emeritus für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg und Mitglied des Deutschen Ethikrates von 2012 bis 2020, kam auf Einladung des Deutsch-Ungarischen Instituts für Europäische Zusammenarbeit für einen mehrtägigen Besuch nach Budapest. Im Rahmen des Aufenthaltes führte er zahlreiche Gespräche mit wichtigen Persönlichkeiten des ungarischen politischen und akademischen Lebens und besuchte verschiedene Institute. Überdies hielt Professor Merkel am 23. November im Mathias Corvinus Collegium einen Vortrag mit dem Titel „Normative Grundprobleme der Migration und der Integration”, zu dem mehr als 50 Gäste eintrafen.
Zu Beginn der Veranstaltung betonte Bence Bauer in seinem Grußwort, dass Migration eines der strittigsten Themen zwischen Ungarn und Deutschland ist. Umso wichtiger ist es, über die Migrationskrise zu diskutieren, um die Positionen der beiden Länder besser zu verstehen. Das Ziel des Deutsch-Ungarischen Instituts ist es, als Plattform für diesen Dialog zu dienen.
Merkel näherte sich in seinem Vortrag der Migration, Integration und dem Erhalt der kulturellen Identität von einem rechtsphilosophischen Standpunkt an. Nach einer kurzen Schilderung der durch die internationalen Migrationsströme verursachten neuen Herausforderungen analysierte er die moralischen Grundlagen der Flüchtlingspolitik: Warum und wann haben wir die moralische Pflicht, Zuwanderer aufzunehmen? Professor Merkel macht hierbei normative Grundlagen aus, darunter die Pflicht, die Freiheitsrechte der Migranten zu achten, die allgemeine ethische Grundpflicht, Menschen in Not zu helfen oder etwa die Pflicht zur Wiedergutmachung historischen Unrechts, also das Prinzip globaler ausgleichender Gerechtigkeit. Diesen Grundlagen entsprechend ergibt sich die Frage, ob und in welchem Maße daraus eine Pflicht resultiert, Zuwanderern einen Aufenthaltstitel zu genehmigen. Merkel zufolge müsse man an dieser Stelle zwischen bestimmten Typen von Migranten differenzieren – es ergeben sich nämlich andere Ansprüche für Migranten, die aus rein wirtschaftlichen Motiven zuwandern, also für solche, die politische verfolgt werden oder von Krieg bedroht sind. Diesbezüglich stellte Merkel klar, dass ein Gutteil der Migranten, welche in den letzten Jahren nach Europa gekommen sind, rein rechtlich keinen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel in Deutschland haben dürften, da diese eben zu dieser Kategorie der Wirtschaftsflüchtlinge gehören.
In Zukunft, so Merkel, werden sich die Migrationsbewegungen jedoch nicht verlangsamen – der kulturelle Wandel in Europa sei aber derweil schon deutlich zu spüren, nicht immer zur Freude vieler Einheimischer. Statt Migration nur als Bereicherung zu sehen, wie es nicht wenige in den elitären Zirkeln tun, müsse man differenzierter auf die Entwicklungen blicken. Gewiss, bis zu einem gewissen Maße sind wir, so Professor Merkel in seinem Vortrag, moralisch dazu verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen. Jedoch gäbe es mehrere Gründe dafür, die Zuwanderung quantitativ zu begrenzen – etwa wegen finanzieller Aspekte. Vor allem aber das Problem der schwierigen Integration der oftmals einer vollkommen anderen Kultur entstammenden Neuankömmlinge bildete den Fokus von Merkels Zweifeln an der Migrationspolitik der vergangenen Jahre. Wie viel Zuwanderung verträgt eine Gesellschaft, eine Kultur? Haben die Einheimischen eines Landes sogar das Recht auf kulturelle Selbstverteidigung? Merkel argumentiert zudem, dass die Achtung der kulturellen Identität der Einheimischen auch im Völkerrecht verankert sei.
Dem Vortrag folgte eine Podiumsdiskussion, welche von MCC Fellow Prof. Dr. Holm Putzke moderiert wurde. Während der Diskussion kamen Fragen zu den aktuellen Entwicklungen der europäischen, deutschen und ungarischen Migrationspolitik auf; auch wurde erörtert, wie angesichts der gegenwärtigen Probleme eine ideale Flüchtlingspolitik aussehen könnte.
Professor Merkel konnte während seines einwöchigen Besuchsprogrammes am MCC tiefere Einblicke in die Tätigkeiten des Deutsch-Ungarischen Institutes, des Klimapolitischen Institutes sowie des Migrationspolitischen Institutes gewinnen.
Im Rahmen des Aufenthaltes kam es vielerorts zum Gedankenaustausch über die deutsch-ungarischen Beziehungen, unter anderem mit Dr. Gergely Deli, Dekan der Fakultät für Staatswissenschaften- und Internationale Angelegenheiten an der Nationalen Universität für den Öffentlichen Dienst, mit Prof. Dr. Ellen Bos, Prorektorin der Andrássy Universität Budapest, und mit Dr. Boglárka Ballester-Bólya, Stellv. Staatssekretärin für EU-Angelegenheiten im Justizministerium.
Überdies wurde der Rechtsprofessor von Verfassungsgerichtspräsident Dr. Tamás Sulyok empfangen, wodurch Merkel Informationen über die ungarische Verfassungsgerichtsbarkeit aus erster Hand erhielt.