„Natürlich hat sich das deutsch-ungarische Verhältnis verändert, und um es sehr deutlich zu sagen, es hat sich in den letzten Wochen und Monaten in der Öffentlichkeit noch verschlechtert.“ So fasste der Historiker Prof. Dr. Andreas Rödder das aktuelle Verhältnis der beiden Länder zusammen. Zwei Monate vor den Bundestagswahlen wurde sein Buch „Konservativ 21.0: Eine Agenda für Deutschland“ vom Mathias Corvinus Collegium (MCC) in ungarischer Sprache herausgegeben. Aus diesem Anlass ist der Verfasser des Bandes auf einen programmreichen Besuch nach Ungarn gekommen. Auf Einladung des Deutsch-Ungarischen Instituts am MCC hat er im Rahmen zweier Veranstaltungen in Debrecen und auch in Budapest sein Buch vorgestellt. Das Interview führten Tünde Darkó und Martin Josef Böhm vom Deutsch-Ungarischen Institut am MCC.

Wie war die Rezeption des Buches und seiner Präsentation beim ungarischen Publikum?

Die Frage kann ich Ihnen gar nicht gut beantworten, weil Schönheit immer im Auge des Betrachters liegt, insofern müssten Sie diese Frage den Teilnehmern der Veranstaltung stellen.Für mich war es eine große Ehre, dass Minister Gergely Gulyás und der Kuratoriumsvorsitzende des MCC, Balázs Orbán, bei den Veranstaltungen anwesend waren. Die vielen Begegnungen hier in Ungarn, einschließlich der Buchvorstellungen, habe ich als sehr gewinnbringend und hilfreich empfunden. Ich halte es für außerordentlich wichtig, dass man politisch miteinander im Gespräch ist und bleibt.

Wie war die Stimmung, als es bei den Gesprächen um das deutsch-ungarische Verhältnis ging? Hat sich da etwas verändert in der letzten Zeit?

Natürlich hat sich das deutsch-ungarische Verhältnis verändert, und um es sehr deutlich zu sagen, es hat sich in den letzten Wochen und Monaten in der Öffentlichkeit noch verschlechtert. Aus deutscher Sicht ist die Stimmung gegenüber Ungarn geradezu reflexartig schlecht geworden, wie wir das während der Europa-Fußballmeisterschaft in der Frage um die Beleuchtung der Stadien in Regenbogenfarben gesehen haben. In Ungarn wurden diese Symbolhandlungen als gegen das Land gerichtet wahrgenommen. Ich meine, dass dabei ein reflexartiges gegenseitiges Abwehrverhalten eintritt. Das ist eigentlich genau das Gegenteil von dem, was wir in den deutsch-ungarischen Beziehungen anstreben sollten.

In der ungarischen Politik wird häufig der Ausdruck „illiberale Demokratie“ verwendet. In Ihrem Buch ordnen sie die illiberale Tradition des Konservatismus in erster Linie den Ideen von Carl Schmitt zu. Sehen Sie Zusammenhänge, oder gibt es bezüglich der Begrifflichkeiten Missverständnisse?

Das ist eine sehr gute Frage, weil sie auf etwas ganz Wesentliches zielt, nämlich auf begriffliche Missverständnisse, die dann am schlimmsten sind, wenn sie überhaupt nicht reflektiert werden. Der Terminus ‚liberal‘ ist in diesem Zusammenhang ganz zentral, weil unterschiedliche Verständnisse des Begriffs ‚liberal‘ zu völlig unterschiedlichen Einschätzungen führen. Ich persönlich verstehe „liberal“ im angelsächsischen Sinne, im Sinne von Edmund Burke, im Sinne der offenen Gesellschaft, im Sinne des westlichen Gesellschaftsmodells als eine unverzichtbare Grundlage der offenen Gesellschaft und als wesentlichen Bestandteil der westlichen Zivilisation. Das heißt, ‚liberal‘ ist im Grunde ein Synonym für ‚bürgerlich‘. Deshalb war für mich, als ein liberaler Konservativer, ein Begriff wie ‚illiberale Demokratie‘ völlig inakzeptabel.

Ich habe aber hier in Ungarn erkannt, dass hinter dieser Bezeichnung der ‚illiberalen Demokratie‘ ein ganz anderes Verständnis von ‚liberal‘ steckt, nämlich eines, das ich als Deutscher eher ‚linksliberal‘ nennen würde und das eigentlich ‚linksprogressiv‘ bedeutet.

Sie sehen, wie unterschiedliche Interpretationen eines Begriffs zu großen Missverständnissen führen können, denn aus meiner Warte wäre eine ‚illiberale Demokratie‘ im Grunde etwas Autoritäres. Das zeigt, dass wir sehr intensiv und aufmerksam daran arbeiten müssen, solche begrifflichen Missverständnisse zu vermeiden, weil diese sich sehr schnell verselbstständigen und zu völlig unterschiedlichen Auffassungen führen.

Wie unterscheidet sich der ungarische Konservatismus vom deutschen? Gibt es da auch Begrifflichkeiten, die einander nicht ähnlich sind?

Es gibt unterschiedliche Traditionen und politische Kulturen. Die ungarische politische Kultur ist vielleicht etwas kompetitiver und ruppiger, etwas polarisierter als wie es in anderen Ländern der Fall ist. Weil sie vorher nach illiberal bzw. nach Carl Schmitt fragten: Das ist immer so eine Frage, über die man sich auch innerhalb des konservativen Lagers verständigen muss. Ich persönlich bin kein großer Anhänger von Carl Schmitt, weil dieses sehr scharfe Denken in Kategorien von ‚Freund und Feind‘, von ‚Schwarz und Weiß‘ mir als ein Konservativer, der auf ‚Maß und Mitte‘ und auf Besonnenheit zielt, eigentlich fremd ist. Ich erlebe aber auch Konservative, die mit Carl Schmitt sehr viel mehr anfangen können, weil Carl Schmitt natürlich den Vorteil hat, dass er auf der anderen Seite intellektuell sehr präzise und sehr scharf geschnitten ist. Aber da bietet das Konservative ja auch eine große Brandbreite an Möglichkeiten. Für mich ist der entscheidende Grundsatz der, dass wir uns im Rahmen der offenen, pluralistischen Gesellschaft bewegen und uns nicht auf autoritäre Gesellschaftsformen zubewegen. Denn das ist die große Versuchung von Carl Schmitt gewesen. Es kam ja nicht von ungefähr, dass Carl Schmitt der totalitären Versuchung des Nationalsozialismus erlegen ist, denn das lag auch in seinem Denken begründet. Ich denke, dass Konservative dieser Versuchung mit aller Macht widerstehen müssen. Konservative dürfen nicht autoritär werden, sondern sie müssen immer pluralistisch bleiben.

Gibt es auch Unversöhnlichkeiten in der Politik der beiden Länder? Sind Deutschland und Ungarn nicht vielleicht schon am Scheideweg angelangt?

Gerade gestern Abend habe ich über Orbán und Ungarn einen Kommentar im Spiegel gelesen. Was Sie in Deutschland, vor allem in den deutschen Medien erleben ist ein völlig verselbstständigtes Narrativ, dem zufolge Ungarn die Rechtstaatlichkeit, die Freiheit und die Grundrechte einschränkt. Darüber wird überhaupt nicht differenziert geurteilt. Ein Hintergrund dafür ist, dass die westlichen Gesellschaften und vor allem die deutsche Gesellschaft ihr Selbstverständnis in den letzten Jahren sehr stark in Richtung ‚Affirmation des Regenbogens‘ bewegt haben. Identitätsbildung hat immer etwas mit Feindbildern zu tun, und in diese Rolle ist Ungarn aus westlicher Sicht geraten. Das ist eine kommunikative Falle. Ich sehe das mit großer Sorge, weil ich offen gestanden keine Antwort auf die Frage habe, wie diese kommunikative Konfrontation überwunden werden könnte.

Ich würde immer sagen, dass man sie durch Begegnung und Gespräche überwinden kann. Aber in der deutschen Öffentlichkeit hat sich die Ablehnung Ungarns automatisiert – umgekehrt sehen die Reflexe in Ungarn mittlerweile auch ähnlich aus. Letztendlich kann die Lösung nur in Verständigung liegen und in Persönlichkeiten, die das in die Öffentlichkeit transportieren. Doch das ist in den letzten Jahren definitiv schwieriger geworden.

Was waren die Tiefpunkte der Beziehungen zwischen Ungarn und Deutschland? Und was die Höhepunkte? Wo könnte man anknüpfen, um sich gegenwärtig der deutsch-ungarischen Freundschaft zu vergewissern?

Der Tiefpunkt ist die Kooperation im Zweiten Weltkrieg und im Holocaust gewesen. Das beide Länder zu dieser Form von gewaltsamer Politik herabgesunken sind, ist der gemeinsame Tiefpunkt unserer Geschichte.Der Höhepunkt war das Paneuropäische Picknick und die ungarische Grenzöffnung. Wenn Sie die gesamte Entwicklung darum sehen: Als Horn und Németh im August 1989 auf dem Schloss Gymnich in der Nähe von Bonn waren und Kohl hinterher sagte „Wir werden den Ungarn nie vergessen, was sie für uns getan haben.“ – das waren schon große Momente in der deutsch-ungarischen Geschichte.

Zurück in die Gegenwart, mit einem Blick auf die Bundestagswahl. Was ist Ihre Prognose? Würde sich mit Laschet als Kanzler etwas ändern auf dem deutsch-ungarischen bilateralen Parkett?

Zunächst gebe ich keine Prognose für die Bundestagswahl ab, weil ich als Historiker weiß, dass Prognosen schwierig sind, vor allem wenn es um die Zukunft geht… Wie das Ergebnis aussehen wird, weiß noch niemand. Ob die CDU an der Spitze der Regierung sein wird, ist nicht sicher. Wenn Armin Laschet an der Regierung beteiligt wäre, würde ich auf Verständigungsversuche seinerseits hoffen. Zumal es die große Stärke von Armin Laschet ist, dass er in der Lage ist, erstens die Unionsparteien in großer Breite zu repräsentieren und zu integrieren, und dass er zweitens sehr gute Leute in seinem Umfeld hat. Beides macht Hoffnung für eine Kanzlerschaft von Armin Laschet.

Was müsste passieren oder welche Koalition wäre am förderlichsten, damit sich die 10 Thesen aus Ihrem Buch verwirklichen ließen?

Im „westlichen Sinne“ des Begriffs bin ich ein überzeugter und bekennender Liberal-Konservativer, und deshalb ist meine Wunschkoalition – in Deutschland reden wir über Koalition, weil die Zeiten absoluter Mehrheiten lange vorbei sind – eine aus CDU bzw. Unionsparteien und FDP. Als Christdemokrat wünsche ich mir natürlich zumindest, dass die CDU an der Regierung bleibt. Zugleich aber tut die Große Koalition in Deutschland, die wir jetzt ungefähr zwölf von 16 Jahren hatten, dem Land nicht gut, weil die politische Debatte in der Mitte verschwindet. Deshalb wäre es für die Demokratie besser, wenn es entweder eine klare bürgerliche oder eine linke Regierungsbildung gäbe, damit wir wieder politische Kontroversen in der Mitte des politischen Systems führen. Und nicht nur an den Rändern.

In ihrem Buch hoben sie hervor, dass es unter anderem das Verhältnis zum Fortschritt ist, welches die CDU von der FDP unterscheidet. Was verstehen sie darunter?

Das ist der klassische Unterschied zwischen Konservativen und Liberalen. Liberale sind der Meinung, dass der Fortschritt an sich etwas Gutes ist. Konservative dagegen kennen auch den Preis. Ein Beispiel dafür war beim letzten Bundestagswahlkampf der Slogan der FDP: „Digitalisierung first, Bedenken second“. Als Konservativer würde ich eher sagen: „Nachdenken first, Digitalisierung second“. Natürlich brauchen wir Fortschritt, was die Digitalisierung angeht, aber wir müssen – das ist das Credo konservativer Politik – den Wandel so gestalten, dass wir die Menschen mitnehmen. Fortschritt um seiner selbst willen ist kein Fortschritt, den ich so akzeptieren würde. Was haben wir schon von einer Digitalisierung, wenn die Menschen nicht mehr mitkommen und abgehängt werden? Oder wenn die Nutzung der sozialen Medien dazu führt, dass wir nicht mehr in der Lage sind, vernünftig miteinander zu kommunizieren? Die Menschen müssen mithalten können, so muss Digitalisierung gestaltet werden.

Ministerpräsident Viktor Orbán forderte jüngst in der Rede „30 Jahre Freiheit“, den Begriff der „ever closer union“ aus dem EU-Grundlagenvertrag zu streichen. Sie entwerfen ebenso ein Bild eines flexibleren Europas, das mehr Integration aber auch einen Rückbau an sozusagen „Überintegration“ zulässt – wo hätte Ungarn in solch einer Union seinen Platz?

Die Losung der Europäischen Union heißt „in Vielfalt geeint“. Das hat zwei Komponenten – die ‚Vielfalt‘ und das ‚geeinte‘. Die Frage ist, wie weit reicht das geeinte und wie stark bleibt die Vielfalt? Die Grundlage bilden die Grundwerte im Artikel 2 des Vertrags der Europäischen Union. Dabei geht es in erster Linie um die Grundrechte. Ich halte es für völlig richtig, dass die Rechtsstaatlichkeit für alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die absolut verbindliche Grundlage ist. Wenn diese Rechtsstaatlichkeit wo auch immer verletzt wird, muss man das adressieren, untersuchen und gegebenenfalls sanktionieren. Aber man muss es eben objektiv untersuchen, konkret benennen und danach damit umgehen. Auf dieser Grundlage jedoch müssen die einzelnen Mitgliedsstaaten das Recht haben, ihre eigenen kulturellen Traditionen und ihre eigenen politischen Präferenzen so zu gestalten, wie sie es gerne wollen. Wenn zum Beispiel Ungarn oder Polen mehrheitlich ein anderes Familienbild vertreten, als dass es Deutschland oder die Niederlande tun, dann ist es das gute Recht der Ungarn und der Polen, das Deutsche oder Niederländer nicht teilen, aber das sie tolerieren müssen. Das meine ich mit „in Vielfalt geeint“.Was die Kritik der „ever closer union“ angeht: Es ist ja nicht eine Forderung, die erst Viktor Orbán erhoben hat. Es ist ein zu Recht umstrittener Begriff und ich halte die „ever closer union“ schon begrifflich für komplett unsinnig. Denn wie soll eine immer engere Union aussehen? Wo soll die dann enden – in der völligen Verschmelzung? Wie könnte es denn immer enger werden, wenn alles schon verschmolzen wäre? Ich glaube, dass es der falsche Weg wäre. Wenn wir auf die Geschichte der EU seit Maastricht schauen – was ist denn der große Erfolg der Union?Ich finde, es ist die Osterweiterung, also die Einbeziehung der postkommunistischen Gesellschaften in die Europäische Union. Dazu gehört der Beitrag, den die EU zur Stabilisierung in diesem Raum geleistet hat, denken wir an den Binnenmarkt, der es vermochte, bleibenden Wohlstand zu leisten, was definitiv eine Erfolgsgeschichte ist. Aber wir haben auch die Misserfolgsgeschichten, wie etwa die Asyl-, Migrations- und Grenzpolitik oder auch die Europäische Währungsunion, die keine krisensichere Konstruktion geworden ist. Die Lehre insbesondere aus der Geschichte der europäischen Integration der letzten drei Jahrzehnte ist deshalb, so würde ich sagen, dass die EU gut daran tut, wenn sie ergebnisoffen prüft: Wo ist Vertiefung nötig, zum Beispiel in einer gemeinsamen europäischen Grenzpolitik, aber man muss auch im Zweifelsfall Dinge, die nicht funktioniert haben, zurückbauen. Oder zumindest sagen, wir wollen nicht versuchen, Aufgaben zu vergemeinschaften, die, wie die Familienpolitik, wir in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten belassen sollten.Die Europäische Union sollte sich auf die Bereiche konzentrieren, in denen sie Mehrwert schafft. Als ich zum Beispiel in Tallinn war, lernte ich, dass der größte Wunsch der Esten darin besteht, dass es eine direkte Bahnverbindung von Estland nach Berlin gibt. Ja: Verkehrsverbindungen, Verbindungswege in Europa – das ist Europa, wie ich es mir wünsche.

Austausch von Schülern und Studenten, Städtepartnerschaften, Begegnungen von Europäern aber auch Digitalisierung und Handelspolitik. Alles das sind Bereiche, wo die Europäische Union wirklich Mehrwert schafft.

Die „ever closer union“ um jeden Preis dagegen ist ein Irrweg.

Was sind Ihre nächsten Stationen?

Ich freue mich noch auf alle kommenden Begegnungen in Ungarn – das MCC hat mir einen reichen Gesprächsplan gestrickt. Bald fliege ich zurück und werde im Folgenden meine Gastprofessur an der Johns Hopkins University vorbereiten. Ein Jahr lang war ich dort bereits Gastprofessor im Homeoffice und bin jetzt zu einem zweiten Jahr eingeladen, um dann auch tatsächlich vor Ort zu sein. Es wird Zeit, dass wir Covid hinter uns lassen! Übrigens: Ungarn war meine erste Auslandsreise nach Covid, das ist ja auch eine gute Botschaft.