Warum vieles in der ungarischen Politik und Gesellschaft dem deutschen medialen Mainstream ein Dorn im Auge ist.

In den vergangenen Jahren haben sich große Teile führender deutscher Medien auf Ungarn eingeschossen – undemokratisch, unfrei, unfair sei die Machtausübung der Konservativen im Lande, so noch die milderen Urteile. Nach der Auffassung einer breiten medialen Öffentlichkeit baue die ungarische Regierung Unterdrückung und Diktatur aus, es gäbe nach dieser Ansicht keine Meinungsfreiheit, keine demokratische Vielfalt und keinen Medienpluralismus, so die gängigen, aber unwahren Vorwürfe.

Falsches Ungarnbild

Meist haben die Autoren dieser Befunde aber weder einen geistig-politischen Zugang zur besonderen politischen Kultur in Ungarn, noch zum Alltagsleben der Ungarn, geschweige denn verfügen sie über Kenntnisse der ungarischen Sprache. Noch schwerwiegender wiegt aber das dürre Faktenwissen und der Mangel an verläss­lichen, objektiven Informationsquellen.

Außer der Budapester Zeitung berichtet kein Medium direkt aus dem Lande, Korrespondentennetze wurden ausgedünnt und nicht selten können sich auch ernstmeinende Berichterstatter nicht dem medialen und öffentlichen Druck obiger vorgefertigter Meinungen widersetzen. Sie sind, sollten sie eine ehrliche und objektive Bestandsaufnahme wagen, in einem akuten Begründungszwang, der ihre Arbeit deutlich erschwert. Nur hartgesottene und entschlossene Beobachter würden sich auf Ungarn und seine spezielle geschichtliche, politische und geistig-moralische Situation einlassen wollen – dies kostet Zeit, Aufwand und nicht zuletzt Nerven.

Wissen, Mentalität und Deutungsmuster

Besonders relevant ist gerade im Umgang mit Ungarn und seiner Politik ein Verständnis der Tiefenschichten der Geistesgeschichte, der politischen Kultur und Mentalität sowie der abweichenden Wahrnehmungsmuster im Lande. Vieles in den öffentlichen Debatten ist anders zu verstehen als in Deutschland, anders zu interpretieren und in einen anders gelagerten Kontext zu setzen.

Erschwerend hinzu kommen die Eigenartigkeiten der ungarischen Sprache, die in direkter Übersetzung schroff, martialisch und gewaltig daherkommt. Hierbei würde schon das Grundwissen der Hermeneutik und der Wirkungsäquivalenz Wunder vollbringen. Kennt man aber Land und Leute sowie Mentalitäten und Befindlichkeiten, kommt man oftmals zu ganz anderen Schlüssen als die gängigen Muster vieler deutscher Medien uns wahrmachen wollen.

Diese Konsequenzen können in der Tat aber nur dann gezogen werden, wenn man sich auf Ungarn ehrlich, mit klarem Blick eingelassen hat und aus dieser Logik heraus Deutungsmuster für das Verständnis dessen entwickelt, was in diesem Lande eigentlich vor sich geht. In diesem Zusammenhang wirken persönliche Besuche, die Beschaffung vieler und breiter Informationsquellen und das einschlägige Studium der Sachlage wie ein Erweckungserlebnis.

Ausgangslage 1: Sieg der Konservativen

In Deutschland wie in Europa ist es zumindest ungewohnt, dass eine politische Kraft über einen derartig hohen Wählerzuspruch verfügt wie Fidesz-­KDNP. In der Geschichte des Kontinents konnte noch niemals eine politische Formation auf eine so lange Sicht so große Teile der Wählerschaft mobilisieren und dauerhaft an sich binden.

Zur Erinnerung: 2010 erhielt die Listenverbindung von Fidesz-KDNP 53%, im Jahre 2014 dann 45%, 2018 wiederum 50%, um im Jahre 2022 das Rekordergebnis von 54% einzufahren. Dieser Umstand ist für viele westeuropäische Beobachter kaum einzuordnen, kennt man doch Wahlergebnisse jenseits der 40% meist nur noch aus den Geschichtsbüchern. Noch mehr Unverständnis weckt die Tatsache, dass dieser massenhafte Zuspruch der ungarischen Wähler einer konservativen Parteiallianz gilt. Für viele Zeitgenossen in Deutschland, die den Machtverfall der CDU aus eigener Anschauung kennen, ruft dies ein besonderes Gefühl des Misstrauens und des Argwohns hervor. Kombiniert mit der selbstbewussten, souveränen Politik des Wahlgewinners erscheint das Land noch unverständlicher.

Dass die Ungarn Viktor Orbán so häufig ihre Stimme geben, hat aber nicht zuletzt mit den Erfahrungen zu tun, die sie mit den vor 2010 regierenden Sozialisten und Liberalen gemacht haben. Diese haben das Land in eine politische, wirtschaftliche und moralische Trümmerlandschaft verwandelt und rufen in den Wählern dunkle Erin­nerungen hervor. Sie möchten unbedingt vermeiden, dass die verantwortlichen Akteure vor 2010 und ihre alten und neuen Verbündeten auch nur in die Nähe der Regierungsverantwortung kommen.

Ausgangslage 2: Das politische System

Das politische System Ungarns gleicht sehr dem britischen mit einem starken Mehrheitswahlrecht und einer dadurch bedingten klaren Trennlinie zwischen der Regierung und der Opposition. In Ungarn verlangt und erwartet der Wähler ganz klar von der Regierung, dass sie Probleme löst, mutige Entscheidungen trifft und Führungsstärke zeigt. Von der Opposition werden wiederum Kritik und das Formulieren von sachgerechten Alternativen erwartet. Demgemäß mag kaum verwundern, dass die Staatsführung meist durchregiert und die Opposition so ziemlich alles ablehnt, was von Regierungsfraktionen kommt – und natürlich auch umgekehrt. Für den deutschen Beobachter ist dies alles sehr fremd, so etwas kennt er nicht.

Das fragmentierte deutsche Parteiensystem mit den Regenbogenverhältnissen und keinen klaren Siegern macht eine solche klare Unterscheidung und Trennlinie wie in Ungarn fast gar nicht mehr möglich. Im Deutschen Bundestag sind gegenwärtig acht Parteien vertreten (SPD, CDU, CSU, Grüne, FDP, AfD, Linkspartei und SSW) und in den 16 Ländern regieren wiederum sieben Parteien (die obigen abzüglich AfD und SSW, aber zuzüglich den Freien Wählern) in insgesamt 13 verschiedenen Zusammensetzungen. Über den Bundesrat sind die Länder an der Gesetzgebung des Bundes beteiligt. Es gibt einen Vermittlungsausschuss und eine ständige Suche nach Kompromiss, Ausgleich und Einbindung. Die Bundesregierung verfügt über keine Bundesratsmehrheit und muss permanent mit der Union nach Lösungen ringen.

Kommt man aus dieser politischen Konstellation, Medienleute und Politiker kennen ja nichts Anderes, mutet das entschlossene, rapide und energische Auftreten der ungarischen Regierungspolitik wie ein Donnerschlag an, das vielleicht noch in der Zeit von Franz-Josef Strauß vorstellbar gewesen ist, heute aber keinesfalls. Ebenso wundern sich übrigens ungarische Beobachter über die langsamen, schwierigen und zermürbenden Verhandlungsrunden der deutschen Politik – Vermittlungsausschuss, Koalitionsausschuss, Koalitionsverhandlungen, Sondierungsgespräche, Antragsberatung, Antragskommission und vieles mehr. In der ungarischen Sprache sind diese Begriffe kaum verbreitet.

Ausgangslage 3: Die Medienlandschaft

Der Vorwurf, in Ungarn sei die Medienfreiheit in Gefahr, gipfelt nicht selten in der Feststellung, es gäbe in Ungarn nur noch gleichgeschaltete Medien. Dies ist unwahr. Vielmehr ist die Medienlandschaft in Ungarn bunt und vielseitig, die Medien sind frei und für alle zugänglich – heute. Noch vor 2010 war die Situation tatsächlich höchst einseitig und unausgewogen – aber zugunsten der Linken. Das hat merkwürdigerweise aber niemanden im Ausland gestört. In Ungarn war es aufgrund der polarisierten politischen Lage schon immer so, dass jedes sich mit Politik befassende Medium eindeutig einer Seite zugeordnet werden konnte.

Während vor 12 Jahren noch die linksliberalen Medien in Auflage, Reichweite und Leserschaft eine große Dominanz ihr Eigen nennen konnten, waren die bürgerlichen und konservativen Medien in der Minderzahl. Heute kann eine gänzlich ausgewogene Medienlandschaft festgestellt werden, mit fast balancierten Verhältnissen, aber immer noch mit einer kleinen Mehrheit der Linken. In der Tat gab es also in den letzten Jahren gravierende Verschiebungen in eine Richtung – aber auch hin zu einer ausgewogenen Gesamtsituation.

In Deutschland hingegen gab es eine solche Machtverschiebung zu konservativen Blättern nicht. Vielmehr geben bei vielen Medien inzwischen die Vertreter eines grün-liberalen Kurses den Ton an. Dies gilt auch für den Öffentlichen Rundfunk, wo nach einer vor einigen Jahren publizierten Erhebung bei den Volontären eine 90%-Mehrheit für rot-rot-grün festgestellt werden konnte. Konservative Leitartikler sind in der Minderheit, das Narrativ wird sehr prägnant von den Grünen und ihren Anhängern vorgegeben und selbst das Traditionsblatt Frankfurter Allgemeine Zeitung kann nicht mehr klar als konservativ bezeichnet werden. Bürgerliche Zeitungsleser wenden sich verstärkt einer Schweizer Zeitung, der Neuen Zürcher Zeitung zu oder aber dem vom Mainstream mit Verachtung gestraften, aber erfolgreichen Monatsmagazin und Online-­Portal Tichys Einblick. Dass in diesem schwierigen medialen Umfeld die ungarische konservative Regierungspolitik keine große Fangemeinde hat, mag kaum verwundern.

Ausgangslage 4: Liberal-konservative Reformagenda

Kennt man die Aussagen des ungarischen Ministerpräsidenten vom illiberalen Staat, dann verblüfft die obige Etikettierung der Regierungspolitik des Landes auf den ersten Blick. Bei genauerem Hinsehen jedoch entpuppt sich die Politik von Fidesz-KDNP als eine echte „Blue Revolution“, also ein entschlossenes und mutiges Herangehen an Reformen in Wirtschafts-, Gesellschafts- und Innenpolitik. Zudem setzt Ungarn wichtige Wegmarken mit seiner erfolgreichen Familienpolitik und der rigiden Migrationspolitik.

Das unternehmerfreundliche Umfeld mit niedrigen Steuern und einer Flat-Tax-Einkommenssteuer machen das Land attraktiv, die Steuereinnahmen sprudeln und die Schattenwirtschaft wird Jahr für Jahr zurückgedrängt. Daneben wurden seit 2010 rund eine Million neue Arbeitsplätze geschaffen, es herrscht Vollbeschäftigung und das Wirtschaftswachstum im zweiten Quartal 2022 war mit 6,5% europaweit an prominenter Stelle. In Ungarn gilt ein alter Wahlspruch der Union: „Sozial ist, was Arbeit schafft“.

Viele Ungarn identifizieren sich mit der Politik, die auf niedrige Steuern, unternehmerische Anreize, Leistung, Wertschöpfung und Eigentum baut. Die Familienpolitik ist international bekannt und anerkannt, die Geburtenraten stiegen überproportional, die Zahl der Abtreibungen ist auf einem Tiefpunkt. In der Migrationspolitik will das Land sein jüdisch-christliches Wertefundament nicht aufgeben und akzeptiert nur sehr begrenzt Einwanderung aus anderen Kulturkreisen, illegale Einwanderung wird unterbunden. In den letzten Jahren ist die öffentliche Sicherheit immer mehr gestiegen, Ungarn gilt als eines der sichersten und lebenswertesten Länder des Kontinents – auch für seine jüdischen Mitbürger.

Gut und gerne kann diese Politik als liberal-konservative Reformagenda bezeichnet werden, aber wie immer gilt: Nicht das Etikett, sondern der Inhalt ist entscheidend. Die Ungarn haben sich eindrucksvoll bekannt: Nicht mehr, sondern weniger Einwanderung. Nicht hohe, sondern niedrige Steuern. Nicht staatliche Umverteilung, sondern Eigeninitiative. Nicht Aufzehren von Ressourcen, sondern Eigentum und Wertschöpfung. Nicht Multikulti, sondern Bewahren von Tradition, Kultur, Religion und Heimat.

Eine solche glasklare konservative Politik, die aber auch von vielen weiteren Bevölkerungsgruppen getragen wird, konnte in vielen europäischen Ländern schon lange niemand umsetzen, auch das prägt die Debatten über Ungarn. Es erscheint also nicht ganz ausgeschlossen, dass Deutschland und Europa diese Politik einfach nicht mehr kennen und auch daher mit den Entscheidungen der Ungarn fremdeln.

Ausgangslage 5: Breite Akzeptanz des Regierungshandelns

Für die antagonistische politische Landschaft mit einer klaren Frontstellung zwischen Rechten und Linken ist es ungewöhnlich, dass die konservative Regierung mit ihrer Agenda in Migrations-, Familien- und Wirtschaftsangelegenheiten einen so hohen Zuspruch auch bei den linken Wählern hat. Diese unterstützen die diesbezüglichen Regierungsentscheidungen zu großen Teilen.

Weite Teile auch der linksliberalen Wählerschaft finden die Migrations­politik von Fidesz-KDNP gut, sie unterstützen die Familienpolitik und teilen die Ansicht, dass die Regierung einen guten wirtschaftspolitischen Kurs gefahren ist. Ebenso unterstützen sie die Regierungsparteien in ihrem ausgewogenen und besonnenen Kurs in Fragen des benachbarten Krieges. Diese ruhige Hand konnte Ungarn aus dem bewaffneten Konflikt heraushalten und die Energieversorgungssicherheit des Landes bisher gewährleisten. Auch dies imponierte den Wählern bei den letzten Parlamentswahlen im April 2022.

Fazit

Ein berühmter deutscher Historiker drückte es wie folgt aus: „Ungarn ist das Gegenbild des linken Identitätsbildes“. Ebenso war für ihn klar, dass der Öffentliche Rundfunk in Deutschland linksliberal eingestellt ist. Aus diesem Grunde dürfen wir uns nicht wundern, dass das Ungarnbild derart negativ gezeichnet wird. Es wäre wichtig, die hinter der Berichterstattung stehenden Fakten und Hintergründe zu beleuchten, um ein wahres Bild des Landes zu bekommen.

Die in fünf Punkten umrissenen Deutungsmuster sollen als erster Ansatz auch für viele neue ins Land gekommene Leser dienen, Ungarn und seine Politik zu erschließen. Viel mehr Wissen, Erfahrung, Austausch und Debatte sind notwendig, um als Außenstehender diese Tiefenschichten zu durchdringen und in Gänze zu verstehen. Seien Sie mutig und neugierig!